Karlsruher Republik?

Das Bundesverfassungsgericht genießt in Deutschland allgemeines Vertrauen. Doch wer am liebsten das ganze Land nach ihm benennen möchte, sollte noch einmal über den Begriff "Republik" nachdenken

Ende März wird Jutta Limbach, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, aus ihrem Amt ausscheiden. Dann werden ihr die einschlägigen Medien bestätigen, eine gute Vorsitzende gewesen zu sein. Tief in der Vergangenheit sind die Kontroversen um Kruzifixe, um Soldaten oder Cannabis versunken. Nicht zuletzt die gewinnende Art, in der die Präsidentin das Gericht nach außen vertreten hat, dürfte dazu beigetragen haben, dass all diese nervenaufreibenden Querelen längst in Vergessenheit geraten sind. Wie gut der Name des Bundesverfassungsgerichts derzeit klingt, hat beispielhaft jüngst das überaus freundliche Echo auf den 50. Geburtstag der Institution gezeigt.

Einhellig würdigte man das Gericht aus diesem Anlass für seinen Anteil an der Entwicklung von Freiheit und Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem Gerhard Casper, ein renommierter Professor für amerikanisches Verfassungsrecht an der Stanford University stieß als Gastredner des Festaktes in dieses Horn. Nicht vielen Präsidenten des Verfassungsgerichts ist es bislang vergönnt gewesen, kurz vor Amtsende aus berufenem Munde, ein gutes Zeugnis ausgestellt zu bekommen - die scheidende Präsidentin wird Caspers Worte (abgedruckt in: Süddeutsche Zeitung vom 29.9.2001) umso erfreuter gehört haben. Ob allerdings Caspers Kategorie der "Karlsruher Republik" geeignet ist, das politische System der Bundesrepublik und den Ort des Verfassungsgerichts darin zu kennzeichnen, erscheint ungeachtet aller Freundlichkeiten doch sehr fraglich.

Kein Zweifel, Caspers Vorschlag, die alte Bonner Republik auf diese Weise umzutaufen, ist nicht ohne Charme. Denn bei "Karlsruhe" weiß jeder sofort, wer und was gemeint ist. Wenn es eines Beweises dafür bedürfte, dass das Verfassungsgericht im Laufe der Zeit ein hohes Ansehen in der deutschen Bevölkerung erworben hat, dann liegt er in der Selbstverständlichkeit, mit der Formulierungen wie "nach Karlsruhe gehen" oder "Karlsruhe hat entschieden" gebraucht werden. Die Stadt und das Verfassungsgericht sind gleichsam eins geworden - obwohl in derselben Stadt mit dem Bundesgerichtshof ein weiteres oberstes und darüber hinaus sogar traditionsreicheres Bundesgericht seinen Sitz hat. In deutschen Ohren klingt "Karlsruhe" nach Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aber ist es deswegen auch gerechtfertigt, von einer "Karlsruher Republik" zu sprechen? Es sind im wesentlichen drei Punkte, die Casper zur Begründung seines Vorschlages nennt: Erstens, verglichen mit seinen Vorgängern gebe die Einrichtung der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit dem politischen System der Bundesrepublik eine neue und spezifische Gestalt; zweitens werde durch "institutionellen Pragmatismus" die Verfassungskontinuität gewahrt, indem das Gericht die elementaren Verfassungsgrundsätze in wertorientierter Interpretation des Grundgesetzes mit Leben erfülle; drittens schließlich habe sich auf diese Weise in Deutschland eine "lebendige Demokratie" herausgebildet - gerade auch angesichts der Herausforderungen von Nachkriegszeit, Wiedervereinigung und europäischer Integration.

Caspers drei Punkte sind erkennbar getragen von großem Wohlwollen gegenüber der Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik. Vor allem jene Entscheidungen finden Caspers Zustimmung, die zur Stärkung von demokratischer Willensbildung und Freiheit der Bürger beigetragen haben. Diese Beurteilung erscheint auf den ersten Blick plausibel. Doch sie übersieht die Ambivalenzen, die bei der Bewertung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland von Bedeutung sind sind - und daher auch bei der Beurteilung mitbedacht werden sollten, ob die Rede von der "Karlsruher Republik" wirklich angemessen ist.

Zum ersten Punkt: Zweifellos gehört die Ausgestaltung des Verfassungsgerichts mit echten Prüfungskompetenzen - beispielsweise im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens - zu den prägnanten Strukturneuheiten des politischen Systems der Bundesrepublik nach 1949. Doch darüber hinaus hat das Grundgesetz im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung noch zahlreiche weitere Veränderungen der Staatsorganisation vorgenommen - etwa die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, die Mechanismen zur Festigung der Parlamentsmehrheiten, die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates et cetera. Im Wechselspiel mit günstigen sozioökonomischen Entwicklungen (Stichwort "Wirtschaftswunder" ) haben diese institutionellen Innovationen dabei geholfen, das desintegrative Vielparteiensystem Weimars in das funktionierende parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik zu transformieren. Diesen Wandel auf die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts zu reduzieren, erscheint insofern einigermaßen fragwürdig.

Zum zweiten Punkt: Dem Bundesverfassungsgericht ist es gelungen, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit aufzuwerten. Durch seine wertorientierte Rechtsprechung und mit klugem Sinn für die Situativität der jeweiligen politischen Kontexte seiner Entscheidungen hat das Gericht zum einen den Vorrang der Verfassung durchgesetzt und der Normativität des Grundgesetzes Geltung verschafft. Zum anderen ist es dem Gericht gelungen, die anfänglichen Kontroversen um die parteipolitische Zuordnung der Senate ("roter" und "schwarzer" Senat) zu befrieden und damit die Voraussetzung zu schaffen, als einheitliche Institution Anerkennung und Akzeptanz zu finden. Die dabei in vielen Entscheidungen in der Tat vom Gericht eingenommene "pragmatische" Haltung gegenüber den Problemen hat jedoch ihren Preis: In der Staatsrechtslehre jedenfalls besteht alles andere als Einigkeit darüber, ob sich die Entscheidungsfindung des Verfassungsgerichts überhaupt noch mit den herkömmlichen Methoden der juristischen Auslegung erfassen lässt. Gerade unter Verfassungsjuristen wird immer wieder vor der Gefahr einer Überdehnung der Interpretationsmacht des Bundesverfassungsgerichts gewarnt. Bereits 1962 formulierte Rudolf Smend sein bekanntes Diktum: "Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne." Man kann diesen Satz in zweifacher Weise lesen: Entweder ist das Grundgesetz beim Bundesverfassungsgericht in sicheren Händen - oder das Grundgesetz befindet sich in der Hand seines Interpreten.

Soll das Gericht über die Politik entscheiden?

Zum dritten Punkt: Stellvertretend für den Beitrag des Verfassungsgerichts zur Stärkung der demokratischen Strukturen in Deutschland hebt Casper die Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit hervor - grundlegend in der Lüth-Entscheidung, mit der das Gericht dem Bürger die Möglichkeit einräumt, "seine Rolle als ein Teil des Souveräns wahrzunehmen". Aber auch hier gibt es durchaus Unstimmigkeiten bei der Beurteilung der Folgen dieser Rechtsprechung. Denn das Verfassungsgericht hat die zunächst als klassische Abwehrrechte gedachten Grundrechte auch und gerade im Bereich der politischen Teilhabe in ihrer Bedeutung weit über den traditionellen Abwehrgedanken hinausgehoben. Anfangs vom Verfassungsgericht als Teil einer objektiven Wertordnung eingestuft, später vorsichtiger als Werte oder Prinzipien gekennzeichnet, entfalten die Grundrechte ihre Schutzwirkung nicht nur für den einzelnen Bürger, sondern bilden auch unabhängig davon einen Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung staatlichen Handelns.

Sie wirken nicht nur als Verbote für den Staat, sondern auch als Auftrag ("Optimierungsgebote") an diesen, sich für ihre Verwirklichung nachhaltig einzusetzen. Das Problem, das hinter dieser erweiterten Qualität der Grundrechte steckt, wird deutlich, wenn die Frage aufgeworfen wird, wer darüber entscheidet. Nimmt man den Gedanken ernst, dass Grundrechte Verfassungsprinzipien sind, dann bleibt als letzte Entscheidungsinstanz nur das Bundesverfassungsgericht übrig - mit der praktisch weitreichenden Konsequenz, dass das Gericht über die Politik - etwa zur Verbesserung der Meinungsfreiheit - zu entscheiden habe.

Dieses Problem ist häufig als Gefahr der "Konstitutionalisierung der Politik" bezeichnet worden. Man muss nicht die Auffassung vertreten, aus dieser Gefahr sei bereits Wirklichkeit geworden, um einzusehen, dass es eines erheblichen Maßes an Zurückhaltung auf Seiten des Verfassungsgerichts bedarf, um die Kräfteverhältnisse zwischen den Verfassungsorganen im Gleichgewicht zu halten. Auch in dieser Hinsicht sind Zweifel angebracht, ob der Begriff "Karlsruher Republik" tatsächlich angemessen ist, um das Verhältnis zwischen Recht und Politik adäquat zum Ausdruck zu bringen.

Soll der Begriff der "Karlsruher Republik" einen Sinn ergeben, dann doch wohl in der Weise, dass hier ein Anspruch formuliert wird, das Selbstverständnis einer spezifischen politischen Kultur zusammen mit den Grundprinzipien der Verfassung in einem einzigen Topos "aufzuheben". So gesehen ist der Umstand an sich schon bemerkenswert, dass ein Gericht - und sei es auch ein Verfassungsgericht - für den bedeutungsschwangeren Zusatz zur Charakterisierung des Republikbegriffs herhalten soll. Denn hiermit ist ja nicht bloß eine Momentaufnahme des Kräfteverhältnisses zwischen den Verfassungsorganen gemeint. Diese sind auch früher schon ausführlich von der veröffentlichten Meinung gezeichnet kommentiert worden - man denke an die zahlreichen mehr oder weniger originellen Zuschreibungen wie "Ersatzgesetzgeber" oder "Oberregierung", "Konterkapitäne" oder "Feldherren in rot". Statt dessen geht es um nichts weniger als um das politische Selbstverständnis der Deutschen. Und vor diesem Hintergrund könnte man einmal fragen, wie wohl der terminologische Vorschlag "Karlsruher Republik" noch vor ein paar Jahrzehnten aufgenommen worden wäre.


Die Antwort fällt nicht schwer: Er wäre gescheitert, und zwar nicht nur daran, dass sich das Bundesverfassungsgericht nicht auf eine eigene institutionelle Tradition berufen konnte, die einen solchen Vorschlag gerechtfertigt hätte - ungeachtet der Tatsache, dass es Traditionslinien der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, die weit in das Alte Deutsche Reich zurückreichen. Der Vorschlag wäre vor allem deswegen abgelehnt worden, weil man mit ihm die Absicht der Etablierung eines Justizstaates assoziiert hätte.

Zur Erinnerung: Die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts war alles andere als unumstritten. Zwar war das Gericht von Anfang an getragen von dem Konsens, nach den Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime eine Bastion gegen jegliche Form von Unrechtsstaatlichkeit zu errichten. Aber bereits zuvor hat es eine intensive Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik gegeben, in der auch heute noch ernst zu nehmende Einwände gegen eine Institutionalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit erhoben wurden. Damals hatte vor allem Carl Schmitt sich zum Wortführer gegen ein Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung gemacht und davor gewarnt, dass eine solche Institution zur grundsätzlichen Verschiebung der gewaltenteiligen Axiomatik führen werde. Schmitts Argumentation wird auch heute noch gern von den Kritikern des Bundesverfassungsgerichts ins Feld geführt (die dessen Ordnungsvorstellungen deshalb keineswegs teilen müssen).

Die Totalität des Lebens lässt sich nicht in Gesetze quetschen

Schmitts Ausgangspunkt bestand in der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Verfassung, verstanden als Totalität der öffentlichen Lebensverhältnisse eines Volkes, und dem Verfassungsgesetz, verstanden als Zusammenfassung der Rechtsnormen, die im wesentlichen die Kompetenzen und Grenzen der Verfassungsorgane festlegen. Je stärker der Verfassunggeber versucht, die Lebenswirklichkeit in einem Verfassungsgesetz einzufangen, desto stärker werden die Rechtsnormen zu "dilatorischen Formelkompromissen" und "Leerformeln" degradiert, deren Interpretation Schmitt zufolge nur wenig mit juristischer Auslegung, viel dagegen mit politischem Willen zu tun habe. Die Konsequenz könne - nach einem viel zitierten Wort - nur in der "Politisierung der Justiz" und, umgekehrt, in der "Juridifizierung der Politik" bestehen. Am Ende dieses Weges stünde der von Schmitt perhorreszierte "Justizstaat".

Man muss nicht Schmittianer sein, um festzustellen, dass mit dieser Kritik ein wichtiger Punkt markiert wird. Jede echte Verfassungsgerichtsbarkeit ist mit der Kompetenz ausgestattet, staatliches Handeln am Maßstab der Verfassung zu überprüfen. Die Erfahrung mit dem Bundesverfassungsgericht lehrt, dass die Grenze zwischen der reinen Kontrolle der anderen Staatsorgane und der eigenen Gestaltung politischer wie (verfassungs-)rechtlicher Probleme nur schwierig zu ziehen ist. Eine solche Grenzziehung gehört zu den theoretisch wie praktisch immer wieder umstrittenen Fragen. Es ist daher ein gut eingeübtes Ritual wissenschaftlicher Urteilskommentierungen, dem Bundesverfassungsgericht eine Überschreitung eben dieser Grenze vorzuhalten. Wendet man diesen Vorwurf von einer punktuellen Urteilskritik ins Allgemeine, so entsteht für eine Demokratie mit starkem Verfassungsgericht schnell der Eindruck eines strukturellen Problems - dass nämlich das Gericht genuine Aufgaben des demokratisch weit besser legitimierten Gesetzgebers "usurpiere" oder solche Aufgaben umgekehrt von Seiten der Politik zur Entscheidung zugeschoben bekomme.

Dauernd neue Namen für die deutsche Republik

Diese Kritik, und zwar nicht nur an der Rechtsprechung, sondern auch an der Institution selbst, hat das Gericht seit seiner Einrichtung ständig begleitet. Führt man sich dies vor Augen, dann kann man nicht umhin, in Caspers Vorschlag eine gewisse Kühnheit zu entdecken. Dabei mag es durchaus sein, dass die Rede von der "Karlsruher Republik" auf ein freundlicheres Medienecho rechnen darf, wenn sie von einem Gast vorgetragen wird, der die deutsche Verfassungstradition mit nüchterner Distanz und Unbefangenheit beobachtet. Wie aber hätte man sich die Reaktionen vorzustellen, sollte ein Verfassungsrichter auf die Idee kommen, Caspers Vorschlag aufzugreifen? Hier liegt ein gewisses Problem, denn man kann die Rede von der "Karlsruher Republik" ja durchaus auch als eine Ist-Beschreibung lesen, die das Strukturproblem einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit auf den Punkt bringt, der die politische Führung mitunter nicht gewachsen ist oder sein will.

Daher muss sich Caspers Vorschlag darauf befragen lassen, inwieweit er vor der negativen Konnotierung geschützt ist, dem "Justizstaat" das Wort zu reden. Casper selbst hat jeden Bezug zur Justizstaatlichkeit explizit abgelehnt. Aber liegt nicht der Sinn eines Topos wie "Karlsruher Republik" darin, gleichsam selbsterklärend zu sein - gerade wenn der Begriff das Zeug zu einem Topos haben soll? Und selbsterklärend bedeutet in diesem Fall, dass der Begriff seinen normativen Anspruch nicht konterkariert, indem er einschließt, was durch ihn doch ausgeschlossen werden soll. Für Casper bringt die Kategorie der "Karlsruher Republik" eine positive Entwicklung der deutschen Verfassungsgeschichte auf den Punkt, an der das Verfassungsgericht einen wesentlichen Anteil hat. Für Kritiker ist dieser Begriff jedoch möglicherweise ebenso geeignet, eine strukturelle Asymmetrie im politischen Kräfteverhältnis der Verfassungsorgane zu kennzeichnen. Dieser Umstand macht den Topos "Karlsruher Republik" in seiner Verwendungsmöglichkeit ambivalent.

Mit diesem Einwand gegen die Rede von der "Karlsruher Republik" ist zugleich ein Problem berührt, das abschließend noch ein wenig genauer in den Blick genommen werden soll. Auch hier liefert Casper den Anstoß, indem er, Fritz Stern zitierend, auf eine Eigenart der Deutschen aufmerksam macht: Die Deutschen haben offenbar das beständige Bedürfnis, ihrer Republik einen Namen zu geben: "Weimarer Republik", "Bonner Republik", "Berliner Republik". Und nun eben Caspers eigener Vorschlag der "Karlsruher Republik".

Man könnte sich damit begnügen, hierin eine kulturphilosophische Fußnote der deutschen Geschichte zu sehen. Vielleicht hat der Republikbezeichnungszwang aber auch damit zu tun, dass der Begriff der Republik eben noch nicht "begriffen" worden ist. Und in der Tat lassen sich dafür einige Indizien benennen. Ein Blick in verschiedene juristische Lehrbücher des Staats- und Verfassungsrechts zeigt, dass unter Republik wenig mehr als Nicht-Monarchie verstanden wird. Die einschlägigen Grundgesetz-Kommentare bieten fast ausnahmslos ein ähnliches Bild. Völlig verwundern kann das nicht, denn auch das Grundgesetz versteckt den Republikbegriff des einschlägigen Artikels 20 Absatz 1 in dem Wort "Bundesrepublik": "Die Bun-desrepublik Deutschland", heißt es, "ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat."

Das ist im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung ein bisschen mager, hieß es dort doch programmatisch gleich vorne in Artikel 1: "Das Deutsche Reich ist eine Republik." Zwar ist man sich in den Parlamentarischen Beratungen einig gewesen, dass der Republik gleich den anderen Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes Verfassungsrang zukommt. Es erhebt sich aber die Frage, welche Rolle die Republik im Konzert von Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Demokratie sowie der Grund- und Menschenrechte überhaupt noch spielen kann.

Dienst nach Vorschrift - mehr als eine schlichte Sauerei

An dieser Stelle kann die Ideengeschichte des Republikbegriffs nicht einmal ansatzweise ausgebreitet werden. Daher nur ein kleines Beispiel, das deutlich machen soll, welcher Sinn hinter dem Republikbegriff steckt: Wenn ein Beamter ankündigt, Dienst nach Vorschrift tun zu wollen, so stößt er eine schreckliche Drohung aus, und zwar deshalb, weil er genau das tut, was er nicht tun soll - denn handelt er tatsächlich so, kommt der ganze Laden bald zum Erliegen. Dieses Beispiel erscheint nur demjenigen als Paradox, der dem Irrglauben anhängt, man könne den vernünftigen Umgang auf eine Sache vorgeben. Man kann es nicht. Könnte man es, würde man sich nicht über den Beamten ärgern, sondern allenfalls nur eine entsprechende Verordnung ändern müssen.

Der vernünftige Umgang ist mithin nichts, was erzwungen werden könnte - insofern setzt er die Freiheit des Einzelnen voraus. Mit Freiheit ist hier jedoch nicht die Freiheit benannt, zu tun oder zu lassen, was man will. Gemeint ist vielmehr die Freiheit, eine bestimmte Ordnung der Dinge zu erkennen. Im sozialen Kontext sind die Dinge dann geordnet, wenn sie das allgemeine Wohl befördern, ohne jedoch die Freiheit des Einzelnen aufzuheben. Aus diesem Grund hat sich der Republikbegriff in seiner Begriffsgeschichte stets mit den Elementen des Gemeinwohls und der Freiheit verbunden. Dabei kann das Gemeinwohl, wie leicht einzusehen ist, nicht inhaltlich vorgegeben sein, weil das für den Einzelnen freiheitsgefährdend wäre. Andererseits kann das Gemeinwohl auch nicht das bloße Produkt eines formalen Verfahrens sein, weil sowohl die beteiligte Mehrheit als auch die Allgemeinheit sich gegen ihre Freiheit und/oder gegen das eigene Gemeinwohl entscheiden kann. Dies bedeutet zunächst, dass die Kategorie der Republik eine freiheitliche Ordnung bezeichnet, die nicht zur Disposition steht, die aber den Rahmen für die Aufgabe bereitet, das Gemeinwohl zu verwirklichen.

Da es sich hierbei um eine schwierige Aufgabe handelt, steht es jedem Bürger frei, sich an ihr zu beteiligen. Im schlechtesten Fall kann dies freilich bedeuten, dass sich um diese Aufgabe keiner kümmert. Deshalb erhalten manche Bürger, die sich in einer freien Entscheidung dazu entschlossen haben, von anderen den Auftrag, genauer gesagt: das Amt, sich dieser Aufgabe anzunehmen. In einem solchen Fall steht es den Amtsträgern nicht mehr frei, ob sie sich nach bestem Wissen und Gewissen um das Gemeinwohl bemühen oder nicht. Hierin ist im übrigen auch der tiefere Sinn des Amtseides zu sehen, denn der Amtsträger verpflichtet sich, in seinem Amt der Allgemeinheit zu dienen. So betrachtet ist der Dienst nach Vorschrift eines Beamten nicht einfach bloß eine Sauerei, sondern zumindest auch ein Verstoß gegen das Republikprinzip.

Die Verbindung der einzelnen Elemente des Republikbegriffs - freiheitliche Ordnung, Gemeinwohl und Ämterordnung - ergibt sich nicht von selbst. Sie muss hergestellt werden. Hilfreich dafür ist es, sich die unterschiedliche Qualität der einzelnen Elemente vor Augen zu führen: Konstitutiv ist die freiheitliche Ordnung, weil sie nicht zur Disposition steht. Regulativ ist die Idee des Gemeinwohls, weil sie nicht feststeht, aber als Zielrichtung für das Handeln dient. Effektiv ist die Ämterordnung, weil sie den Inhaber des Amtes bestimmt, der sich die Verwirklichung des Gemeinwohls im Rahmen der freiheitlichen Ordnung zur Aufgabe gemacht hat. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, bedarf es darüber hinaus noch eines spezifischen Vermögens, um die konkreten Aufgaben auch in dem allgemeinen - konstitutiven wie regulativen - Rahmen einzupassen. Erst durch dieses Vermögen, das man als "republikanischen Modus" bezeichnen könnte, verwandeln sich die einzelnen Elemente des Republikbegriffs in Momente der realen Ge-staltung einer Aufgabe als republikanische Aufgabe. Nimmt man diese Bestimmungen zusammen, so erhellt sich, dass der Republikbegriff des Grundgesetzes keineswegs im Laufe der Zeit "leer" geworden ist. Im Gegenteil, als Verfassungsprinzip ist er immer schon von entscheidender Bedeutung für das alltägliche Zusammenleben gewesen.

Der republikanische Modus bedeutet: Es geht ums Ganze

Das Spezifische des republikanischen Modus liegt darin, dass er sich nicht festlegen lässt. Er kann sich aber ablagern, und zwar vor allem in Ämtern und Institutionen. Diese Formen der Sedimentierung lassen sich immer dann gut beobachten, wenn Traditionen und Kontexte, aus denen Ämter und Institutionen hervorgegangen sind, für ihre Träger handlungsleitende Bedeutung gewinnen. Insofern besteht zwischen den Institutionen und der Republik ein besonders enges, weil dialektisches Verhältnis. Denn einerseits bedürfen Institutionen des republikanischen Modus, damit sie auf Dauer ihrer Leitidee gerecht werden können, andererseits erhält die Republik erst durch Institutionen eine Ordnung, die eine reale Verwirklichung des Gemeinwohls ermöglicht.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich allerdings auch, dass eine Institution nicht stellvertretend für alle anderen den Anspruch erheben kann, die Republik zu repräsentieren. Von dieser Warte aus betrachtet, erscheint es daher auch nicht sinnvoll, die deutsche Republik nach einer Institution zu benennen. Denn das Amt verlangt von jedem einzelnen seiner Träger, keinesfalls nur von den Verfassungsrichtern, sich in den Dienst der Republik zu stellen. "Karlsruher Republik" könnte allzu schnell heißen: Die Richter werden es schon machen. Der republikanische Modus bedeutet: Es geht ums Ganze.

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