Kein Türöffner für den Grexit
Ein Ministerpräsident, der ohne Not ein Referendum ansetzt. Eine Regierung, die unter dem Ergebnis halb zerbröselt, weil sie nicht wirklich darauf vorbereitet ist. Hohe Verluste an den Börsen und mögliche Abwertungen durch Ratingagenturen. In Athen klang das alles sehr vertraut, nur hätte niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet in einem der Kernstaaten der EU ein derartiges Chaos ausbrechen würde – in Großbritannien.
Die Erinnerungen an die eigene Achterbahnfahrt vom Sommer 2015 waren noch sehr frisch, als sich Athen in diesem Jahr mit einem Mal auf den Zuschauerrängen des europäischen Krisenmanagements widerfand – eine Rolle, die man vollkommen verlernt hatte. Die Parallelen gingen sogar so weit, dass der griechische Premierminister Alexis Tsipras im Rat der EU, so wurde kolportiert, seine Verwunderung darüber äußerte, dass die Briten nicht auf beide Möglichkeiten des Ausgangs des Referendums vorbereitet waren – ein Kommentar, der angesichts der griechischen Erfahrung bei seinen Kolleginnen und Kollegen für Heiterkeit sorgte.
Eine treffende Illustration nach dem Referendum gelang dem Karikaturisten Ilias Makris. Während die Briten ratlos vor der europäischen Burg stehen, ruft ihnen Tsipras von der Turmspitze aus zu: „Ihr müsst nur eine Rolle rückwärts machen!“
Das Erstaunliche an den Parallelen ist nämlich, dass die bislang so hoffnungslos erscheinende griechische Politik gar nicht so schlecht wegkommt. Auch Tsipras hatte ein unnötiges Referendum angesetzt, dessen Ergebnis er ebenfalls nicht erwartet hatte. Im Gegensatz zu David Cameron behielt er aber seinen Job, brachte seine Partei auf Linie und erreichte sein Ziel, in der EU zu bleiben.
Aber hinter den anekdotischen Parallelen und einem klein wenig Schadenfreude darüber, dass der europäische Verbund nun doch am anderen Ende aufgetrennt wird, verbergen sich zwei gegensätzliche Einschätzungen hinsichtlich der eigenen Zukunft in der EU. Denn der griechische Blick auf das Referendum im Vereinigten Königreich war vor allem von einer Frage geprägt: Was bedeutet es für uns und unsere Zugehörigkeit zur EU? Bleiben wir der instabile Faktor – oder werden wir zu einem Anker der Stabilität, wie Tsipras die Situation schon in der Flüchtlingskrise darstellte? Fragen der Weiterentwicklung der EU spielen seit dem Referendum nur eine geringfügige Rolle, stattdessen ist die Verbindung zwischen der Entscheidung für den Brexit und seinem Paten, dem Grexit extensiv ausgeleuchtet worden.
Zum Dominoeffekt soll es nicht kommen
In den Verhandlungen zwischen Athen und den Gläubigern war die Unwiderruflichkeit der europäischen Integration ein zentrales Argument. Besonders nach den heftigen sozialen Auswirkungen der Sparpolitik und dem Amtsantritt von Alexis Tsipras wurde dieses Argument sogar zum Grundpfeiler der griechischen Verhandlungstaktik. Die Idee, die vergangenes Jahr hinter dem Vorgehen des damaligen Finanzministers Yanis Varoufakis steckte, war einfach: Die Kosten eines Grexit wären für die Eurozone untragbar, gleichzeitig würde der Austritt eines Mitglieds aus der Eurozone und in der Folge wohl auch aus der EU das gesamte Integrationsprojekt infragestellen.
Diese Taktik sei, wie Tsipras später eingestand, eine Selbsttäuschung gewesen. Dennoch geht man in Athen davon aus, dass der Wunsch, die Union in Gänze zu erhalten, letztlich auch dazu beigetragen hat, dass die Verhandlungen fortgesetzt und zu einem – eher weniger guten – Ende gebracht wurden.
Der Brexit stellt somit eine psychologische Firewall infrage, die aus griechischer Sicht dazu beitrug, dass das Land nach all den Irrungen und Wirrungen in den vergangenen sechs Jahren weiterhin EU-Mitglied ist. Die unmittelbare Sorge war, dass sich die EU nach dem Brexit einfacher von ihrem schwarzen Schaf trennen könnte, da die bis dahin versiegelte Ausgangstür nun ohnehin offen sei. Ideen von einem Kerneuropa oder flexible Integrationsmodelle würden wieder an Zulauf gewinnen, und Griechenland als das Land, das Europa so lange destabilisiert hatte, laufe Gefahr, abgehängt zu werden. Besonders groß war die Angst, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble seine Ausstiegspläne vom Sommer 2015 wieder aus der Schublade ziehen und Athen „die englische Therapie“ anempfehlen würde. Wirklich laut wurden diese Befürchtungen nicht diskutiert, auch aus der Überlegung heraus, dass man solche Entwicklungen nicht auch noch an die Wand malen müsse.
Stattdessen fiel die öffentliche Reaktion, gerade der griechischen Regierung, eher mahnend aus. Sie interpretierte den Brexit als Warnung und Arbeitsauftrag: Nur wenn man die richtigen Schlüsse aus diesem Votum ziehe, könne verhindert werden, dass der Austritt Großbritanniens einen Dominoeffekt in Europa in Gang setzt, der das gesamte Integrationsprojekt gefährdet. Beispielhaft merkte Ministerpräsident Alexis Tsipras an, dass es nun an der Zeit sei, in Europa weniger auf Sparpolitik und mehr auf Demokratie zu setzen. Die EU benötige eine tragfähige soziale Dimension und eine glaubhafte Wachstumspolitik. Zur Unterstützung dieser Ziele will der Vorsitzende von Syriza auch progressive Parteien in Europa zusammenbringen. Außerdem hat er Anfang September seine Amtskollegen aus den Mittelmeeranrainern eingeladen, um eine gemeinsame Wachstumsinitiative zu diskutieren. Athen soll demnach eine führende Rolle bei der Verwirklichung eines sozialeren Europas und der Stabilisierung der EU spielen.
Diese angestrebte Rolle passt zum Narrativ der griechischen Linksregierung, die seit Jahren argumentiert, dass der Zusammenhalt in Europa seit Ausbruch der Krise bröckelt und neue soziale Verbindungen notwendig sind, um den Erhalt der Union zu gewährleisten. Gegen das Auftrennen des europäischen Strickwerks setzt Tsipras mithin auf eine erneuerte und verbesserte Schicht an Verbindungen durch Investitionen und eine funktionsfähige soziale Dimension der EU.
Die unmittelbare griechische Reaktion auf das Referendum in Großbritannien waren aber Unklarheit sowie Sorge über die Weiterentwicklung der EU und vor allem über die Auswirkungen, die dies auf Griechenland haben werde. Der gescheiterte Putsch in der Türkei wenige Wochen später und die Reaktion der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdog˘ an wurden in Athen hingegen eher hoffnungsvoll gesehen – wiederum mit Blick auf den eigenen Platz in Europa. Nachdem man mehrere schwierige Jahre am langen Ende des Tischs beim EU-Krisenmanagement verbringen durfte, herrschte die Gewissheit vor, dass die Union eine weitere Krise nicht meistern könne und daher um (fast) jeden Preis vermeiden werde.
Tsipras’ brillante taktische Manöver
Aus Athener Sicht stellte sich die Situation direkt nach dem Putschversuch Mitte Juli für Europa kompliziert dar: Die Ungewissheit in London hielt an, auch weil Theresa May nur zwei Tage zuvor das Amt der britischen Premierministerin angetreten hatte. Gleichzeitig war vollkommen unklar, wie sich die Türkei als einer der Schlüsselstaaten in der für Europa politisch so zersetzenden Flüchtlingskrise entwickeln würde. Für Tsipras bedeutete dies, dass in Brüssel und Berlin die Zeichen auf Ruhe in Griechenland stehen würden. Im Windschatten der Krisen in London und Ankara war sich die griechische Regierung sicher, dass man die letzten Verhandlungen nach dem Sommer zu Ende bringen und sich tatsächlich zum Stabilitätsfaktor in der EU entwickeln könne.
Wie auch schon in den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Krisenjahre gelang Tsipras ein brillantes taktisches Manöver: Er nutzte die Melange aus geopolitischen Faktoren, Flüchtlingskrise, EU-Zweifeln und Überforderung für seine eigenen Ziele. Er setzte sehr früh darauf, dass niemand ein Interesse daran haben werde, Athen erneut zu einem Krisenschauplatz zu machen. Seine Botschaft der Stabilisierung, die Tsipras bislang vor allem an die eigene Bevölkerung ausgesandt hatte, passte nun eins zu eins in die europäische Szenerie. Dabei kam ihm zugute, dass er sich nach 2015 nicht nur von seinem illustren Finanzminister getrennt hat, sondern auch gleich noch den radikaleren und irrationalen Teil seiner Partei losgeworden war. Sein Angebot wirkte glaubhaft und verschaffte dem Land zumindest in diesem Jahr einen ruhigen Sommer.
Dieser Sommer wird vermutlich auch die griechische Wahrnehmung des Brexits auf lange Sicht dominieren. Denn die wirtschaftlich größte Sorge war, dass der Austritt Großbritanniens und vor allem eine Abwertung des Pfunds dazu führen würden, dass weniger britische Touristen nach Griechenland kommen könnten. Jeder Schnupfen in der Tourismusbranche bedeutet eine Lungenentzündung für die gesamte griechische Wirtschaft. Ein Rückgang der Zahl britischer Gäste – die größte Gruppe nach den Deutschen, die zudem auch noch ausgabefreudig ist – könnte somit eine erheblich negative Wirkung für das Land haben. Doch der befürchtete Einbruch der Besucherzahlen scheint ausgeblieben zu sein. Sollte sich dies bestätigen, dann hätte Griechenland die kurzfristigen Auswirkungen des Brexit-Votums fast schadlos überstanden und die Regierung könnte sich nun weiterhin dem Krisenmanagement zu Hause widmen.