Keine Koalition in der Opposition ...

... aber eine Alternative zu Schwarz-Gelb! Rot-Rot-Grün braucht sowohl eine strategische Debatte als auch pragmatische Kooperation von Fall zu Fall. Kenntnis voneinander sowie die Diskussion über Parteigrenzen hinweg wären ein erster Schritt

„Sie dürfen der Verantwortung nicht ausweichen, sobald die Mehrheit für den Wechsel möglich wird.“
Erfurter Erklärung vom 9. Januar 1997

Vor fast 13 Jahren wurden SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS in einer Erfurter Erklärung „Bis hierher und nicht weiter“ aufgefordert, für einen Politikwechsel einzutreten und miteinander zu kooperieren. Sie klingt merkwürdig aktuell. „Aufstehen für eine andere Politik“ – so lautete das Motto einer Großdemonstration mit Unterstützung der Gewerkschaften und der außerparlamentarischen Bewegung. Damals diskutierten Linke aus den drei Parteien konzeptionell im Crossover-Diskurs. Aus all dem erwuchs die Kraft zur Ablösung der schwarz-gelben Regierung durch Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Joseph Fischer.


Die erste rot-grüne Bundesregierung war ein Projekt zur Überwindung des Mehltaus der Regierung Kohl, zur Staatsmodernisierung, zum Atomausstieg und zum selbstbewussteren Auftreten Deutschlands in der Welt. Dazu gehörten auch erstmals Militäreinsätze der Bundeswehr im Ausland wie der ohne UN-Mandat begonnene Einsatz der Nato im Kosovo. Rot-Grün hat die Politik in Deutschland verändert, zum Guten und zum Schlechten. Die Agenda 2010 mit ihren Hartz-Gesetzen und eine Steuerpolitik, mit der Armut wie Reichtum anwuchsen und sich öffentliche Haushalte leerten, gehören zur Bilanz. Aus dem vorzeitigen Ende der rot-grünen Koalition ging die Große Koalition hervor, die die Politik ihrer Vorgänger größtenteils fortschrieb. Mitten in der Krise übernahmen dann ausgerechnet jene Parteien wieder das Zepter, deren Ablösung das Ziel der Autoren der Erfurter Erklärung war.


Dieser Rückblick zeigt, dass rot-rot-grüne Kooperationsversuche weit zurückreichen, aufgrund der Logik des parlamentarischen Antagonismus zu Zeiten der Schröder-Fischer-Regierung jedoch abbrachen. Die drei Parteien entwickelten sich sehr unterschiedlich. Hervorzuheben ist zunächst die Entwicklung der Sozialdemokratie als der einstmals größten Partei Deutschlands, die mittlerweile hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen von der Union überholt wurde, in den Umfragen an der 20-Prozent-Marke kratzt und im Osten den Status der linken Volkspartei an DIE LINKE abgegeben hat. Ihren nach wie vor geäußerten Anspruch auf Meinungsführerschaft müsste sie sich machtpolitisch und konzeptionell erst wieder erarbeiten. Die Zeiten, in denen sie mit den Grünen sowie der LINKEN im Stile von „Koch und Kellner“ umgegangen ist, sind vorbei.

Mitte-links ist fast überall in der Krise

Aber der Blick sollte nicht isoliert auf Deutschland geworfen werden. Überall in Europa sind sowohl die Sozialdemokratie als auch die links von ihr stehenden Parteien zumeist zersplittert oder in einem krisenhaften Zustand. Änderungen in der Arbeitswelt, in den Austauschformen und Produktionszusammenhängen und damit die Veränderung von gesellschaftlichen Milieus und von Wählergruppen waren wichtige Herausforderungen des vergangenen Jahrzehnts. Die Frage, ob auf diese Veränderungsprozesse schon die angemessenen Antworten gefunden wurden, beantwortete die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler des Spektrums der linken Mitte negativ. Dieses Wählersegment insgesamt ist, obwohl beispielsweise in Deutschland von der SPD zur Partei DIE LINKE erhebliche Verschiebungen stattgefunden haben, bei den letzten Wahlen immer weiter zurückgegangen. Vor diesem Hintergrund wird es die von zahlreichen Autoren nach der letzten Bundestagswahl apostrophierte rot-rot-grüne Perspektive nicht von allein geben. Neben der nicht erarbeiteten politischen Mehrheit diesseits von CDU/CSU und FDP, was vor allem mit der „Ausschließeritis“ der SPD zu begründen ist, fehlt nun auch noch arithmetisch die Majorität. Zudem befinden sich die drei Oppositionsparteien in sehr unterschiedlichen inneren Zuständen.

Wie gelingt die oppositionelle Synergie?

Aktuell stellen sich zwei Herausforderungen: Gelingt es erstens, in der Opposition punktuell zusammenzuarbeiten? Das bedeutet keine generelle Gemeinschaftsopposition, sondern das Ziel wäre, bei ähnlichen Interessen Synergieeffekte für den parlamentarischen Druck auf die Exekutive zu erreichen. Gelingt es zweitens, in den kommenden vier Jahren auf der Basis inhaltlicher Schnittmengen Projekte zu erarbeiten, aus denen eine Alternative zu Schwarz-Gelb entsteht?


SPD, DIE LINKE und die Grünen sind eigenständige Parteien und sollten dies auch bleiben. Sie haben innerparteiliche Kulturen und Besonderheiten, eigene Milieus und – auch bei Überschneidungen – eigene Wählerzielgruppen. Das führt zu unterschiedlichen Entwicklungen in den Parteien, die eine rot-rot-grüne Option verhindern oder ermöglichen könnten.


Die SPD befindet sich in der schwierigsten Situation. Sie hat massiv Wählerinnen und Wähler, engagierte Mitglieder aber auch an Glaubwürdigkeit verloren. Weder ein „Weiter so!“ noch eine schnelle Wendung um 180 Grad dürften kurzfristig helfen. Zu unklar ist die Wirkung der personellen Neuaufstellung, zu groß ist die Unsicherheit bei neuen politischen Konzepten. Neben der Diskussion um die Agenda 2010 muss die SPD – als Teil der europäischen Sozialdemokratie – die Frage diskutieren, wie die ihren Wählerschichten entsprechende Gestaltung der Globalisierung mit den daraus resultierenden Auswirkungen in Arbeitswelt und sozialen Sicherungssystemen aussehen soll. Die Antworten liegen nicht im Nationalstaat, und doch ist er das nächstliegende Handlungsinstrument. Die SPD muss sich in der Opposition neu finden und Ergebnisse ihrer Regierungsarbeit konzeptionell aufarbeiten. Das Wiedererstarken steht aus und ist auch nach dem Dresdner Parteitag noch ungewiss. Die Offenheit zur LINKEN – wie zu anderen Parteien auch – ist allerdings das Minimum, um machtpolitisch wieder handlungsfähig zu werden. Das gilt ungeachtet der starken historischen und personellen Konkurrenzen und des Wettbewerbs um Wählerschichten.


Die Grünen sind mit ihren aufgeklärten libertären und ökologisch orientierten Milieus derzeit am stabilsten. Sie befinden sich scheinbar auf der Seite des Fortschritts und im Mainstream der Zeit. Ihre Zukunftsthemen lauten nachhaltiges Wachstum, ökologischer Umbau der Wirtschaft, Verbraucherschutz, Grundrechte und ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union als neuer Identitäts- und Handlungsraum. Kein Wunder also, dass sie trotz erheblicher Differenzen in der eigenen Mitgliedschaft unbeschadet durch die Schröder-Ära und die Zeit der Großen Koalition gekommen sind.

Die Grünen als natürlicher Partner der Union?

Aber die Grünen sind auch nicht mehr die Partei, die sie vor 13 Jahren waren. Große Teile der Wählerinnen und Wähler, aber auch der eigenen Mitgliedschaft würden sich heute kaum noch als links bezeichnen. Was bedeutet für sie heute Solidarität und Gerechtigkeit? Wie beantworten sie die Frage des Miteinanders von Generationen sowie von Arm und Reich? Wie sehen sie die Rolle des Staates etwa mit Blick auf die öffentliche Daseinsvorsorge? Und schließlich: Kehren sie zu einer Außen- und Friedenspolitik zurück, die wenigstens die Standards des Völkerrechts berücksichtigt? Es muss sich erst noch zeigen, ob die Grünen tatsächlich offen für Bündnisse mit allen demokratischen Parteien sind, oder ob sie sich zum natürlichen Partner für CDU/CSU oder Schwarz-Gelb entwickeln werden.


DIE LINKE hat die Stabilität der in den neuen Bundesländern verankerten PDS bewahren können und gleichzeitig von der Glaubwürdigkeitskrise der SPD profitiert. Zudem ist es ihr gelungen, viele Nichtwählerinnen und Nichtwähler, darunter auch Verlierer der Politik des vergangenen Jahrzehnts, zurück an die Wahlurne zu holen. Für die Demokratie ist das nicht zu unterschätzen. Eine solche Integrationsleistung gelingt naturgemäß eher als Oppositionspartei, die populäre Fragen aufgreift und knapp beantwortet. Bisher ist es noch nicht gelungen, der doch noch jungen Mischung geistig-kultureller Strömungen innerhalb der LINKEN tiefere programmatische Klärungsprozesse abzuverlangen.

Auch DIE LINKE braucht Partner

Diese Debatte um das Grundsatzprogramm, den Politikstil und das künftige Personal einer Partei links neben der Sozialdemokratie steht an. DIE LINKE profitiert derzeit durchaus von ihrem Ruf, die einzige Friedenspartei und die einzige nicht neoliberale Partei zu sein. Aber Alleinstellungsmerkmale haben auch eine Kehrseite. Faktisch braucht auch DIE LINKE Kooperationspartner zur Durchsetzung ihrer Ziele. Die rot-roten Koalitionen beziehungsweise Kooperationen in vier Bundesländern haben in unterschiedlichem Maße gezeigt, dass gemeinsame Projekte durchaus existieren und auch verwirklicht werden können.


Fazit: In der nun von den Wählern bestimmten Konstellation gilt es, neben den jeweils eigenen Aufgaben auch das Verhältnis innerhalb des rot-rot-grünen Spektrums zu klären – nicht im Grundsatz, sondern von Fall zu Fall. Zusammenarbeit in der Opposition ist möglich und sinnvoll, um die Regierung bei möglichst vielen Fragen geschlossen vor sich her zu treiben und eine Alternative anzubieten. Erste Beispiele zeigen sich in der Forderung nach dem Rücktritt von Minister Franz-Josef Jung, der Positionierung zu den streikenden Studierenden und zur „Herdprämie“, im Fall der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Bombardierung von Tanklastzügen in Afghanistan oder bei der Ablehnung des Bundeswehreinsatzes innerhalb der „Operation Enduring Freedom“. In Fragen der Bildungspolitik, der anstehenden Pflegereform, der Veränderung des Gesundheitssystems, der Innen- und Bürgerrechtspolitik, der Umweltpolitik, der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik oder der Steuerpolitik sind ähnliche Positionen und eine gemeinsame Kritik an den Regierungsvorschlägen erreichbar.


Die eingangs genannte zweite Herausforderung rot-rot-grüner konzeptioneller Diskurse steht zwar für sich, hat jedoch auch Verbindungen zu der Frage der Oppositionszusammenarbeit. Letztere ist mehr tagesaktuell und praktisch wie auch stark parlamentsorientiert. Erstere braucht einen längeren Atem und hat eine zusätzliche strategische Bedeutung. Bei aller Offenheit von Parteien im Fünf-Parteien-System wird es eine Frage der Inhalte sein, welche so genannten Lager eher zusammenarbeiten können. Zudem ist es notwendig, gerade auch mit Blick auf die mediale Widerspiegelung, dass neben wichtigen Inhalten auch eine machtpolitische Perspektive erkennbar ist. Dies ist nicht zuletzt für die Glaubwürdigkeit und die Mobilisierungskraft in Wahlkämpfen entscheidend. In diesem Sinne ist der Diskurs zwischen den drei Parteien von strategischer Bedeutung.

Rot-Rot-Grün als kulturelles Projekt?

Offen ist, ob es gelingt, Rot-Rot-Grün auch als ein kulturelles Projekt zu definieren. Dass sich eine Erweiterung von Rot-Grün um DIE LINKE damit auch um eine in Ostdeutschland verankerte politische Kraft darstellt, ist nur eine Seite. Entscheidender ist die Antwort von Mitte-Links auf die Globalisierung und Europäisierung. Solche Prozesse zu gestalten, Modernisierungsverlierern wieder eine Perspektive zu geben und den Mittelschichten Ängste zu nehmen, ist eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe. Dazu bedarf es zwar einer Umverteilungspolitik, um Gerechtigkeit zu schaffen und notwendige materielle Ressourcen zu sichern. Wichtig sind aber auch Projekte, um die sozialen Sicherungssysteme gerechter auszugestalten, Privatisierungen zurückzunehmen und Arbeitsplatzchancen in relevanten Bereichen zu entwickeln.


Es geht um neue Ideen für die Energiewende, die ökologisch notwendig ist, aber auch Wirtschaftsperspektiven enthalten sollte, Verbraucherinteressen berücksichtigen muss, regional verankert und gesellschaftlich gesteuert sein sollte. Projekte für längeres gemeinsames Lernen, interkulturelle Bildung, Bürgerversicherung, Pflege werden auch im Wettbewerb der Ideen von drei Parteien beschrieben. Zugleich bleibt der Austausch wichtig und die Klärung der Schnittmengen und der Passfähigkeit in eine Strategie der sozialökologischen Wende. Dass diese unter den aktuellen Bedingungen in eine proeuropäische Integrationspolitik und eine verantwortungsbewusste deutsche Friedens- und Außenpolitik eingebettet sein muss, versteht sich von selbst.


Daher sollte beides verbunden werden: Rot-Rot-Grün braucht sowohl die strategische Debatte als auch die pragmatische Kooperation von Fall zu Fall. Gegenseitige Kenntnis und Diskussionen quer zu innerparteilichem Flügeldenken könnten hier der erste Schritt sein. Daraus entstünde keine Koalition in der Opposition, sondern das eigenständige Agieren dreier Parteien, die inhaltlich begründet in verschiedenen Konstellationen regieren könnten. Eine der Regierungsoptionen – alternativ zur jetzigen – kann dabei ohne Zweifel auch die rot-rot-grüne Kooperation sein. In der Erfurter Erklärung heißt es: „Lassen Sie niemand im Zweifel, wie schwierig es sein wird, Kompromisse einzugehen und dennoch die eigene Unverwechselbarkeit zu bewahren. Gleichzeitig die Kraft für neue Konzeptionen, Theorie und Vision aufzubringen, erfordert Toleranz in den eigenen Reihen.“

zurück zur Person