Kommt jetzt die West-Ost-Migration?

Mehr als eine Million Menschen aus Ostdeutschland sind seit 1990 in den Westen abgewandert. Jetzt zeichnet sich erstmals ein spürbarer Trend zur Rückkehr in die Heimat ab. Der Osten braucht seine Weggegangenen - damit sie in Scharen kommen, muss die ostdeutsche Wirtschaft endlich gute Löhne zahlen

D ie meisten meiner ehemaligen Klassenkameraden aus Mecklenburg-Vorpommern arbeiten mittlerweile in den alten Bundesländern oder im Ausland. Für meine „Generation Ost“ – ich bin Jahrgang 1976 – ist das Normalität. Dennoch wird der innerdeutschen Migration bisher nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei kann die Auswanderung junger Ostdeutscher in den Westen gestoppt oder zumindest abgemildert werden. Es fehlt nur bislang der politische Wille dazu.

Die dramatische demografische Entwicklung in Ostdeutschland ist mittlerweile weithin bekannt und führt seit Jahren zu administrativ-strukturellen Anpassungsprozessen. Schon seit der Wiedervereinigung ist der Gesamtwanderungssaldo für Ostdeutschland negativ. Von 1990 bis heute sind rund 1,1 Million Menschen aus Ostdeutschland in den Westen abgewandert. Zu den Hauptgründen für die Abwanderung zählen die fehlenden Karrieremöglichkeiten und die geringeren Einkommen – ein langfristig belastendes Politikum zwischen Ost und West.

Doch nun hat die erste Zwischenbilanz einer Studie des Leipziger Leibniz-Instituts für Länderkunde für Aufmerksamkeit gesorgt. Die Forscher befassen sich mit der Bereitschaft und den Beweggründen von Rückkehrwilligen nach Ostdeutschland. Demnach erwägen fast drei Viertel aller aus Ostdeutschland Abgewanderten, in ihre Heimat zurückzukehren, obwohl sie im Westen gute Erfahrungen gemacht haben. Jeder Zweite hat sogar schon erste Vorbereitungen für die Rückkehr getroffen. Sollten sich diese Zahlen bestätigen, wäre das Rückkehrpotenzial enorm.

Die Politik muss endlich die Rückkehr fördern

Unter den bereits Zurückgekehrten geben zwei Drittel an, für sie sei dieser Schritt einfach oder sogar „sehr einfach“ gewesen. Übrigens besitzen mehr als 71 Prozent von ihnen einen Hochschulabschluss, rund 12 Prozent haben sogar promoviert. Als zentrale Motive für die Rückkehr nennt der Herausgeber der Studie, Thilo Lang, die Verbesserung der Lebensumstände im Allgemeinen sowie die Nähe zu Familie und Freunden. Weitere wichtige Motive sind die verbesserten Möglichkeiten der Kinderbetreuung durch die Familie sowie eine hohe Heimatverbundenheit.

Die Politik muss endlich angemessener und entschiedener auf die erhöhte Rückkehrbereitschaft Ostdeutscher reagieren. Bestehende Barrieren müssen so schnell wie möglich aufgehoben werden, wobei die zentrale Hürde in den schlechten Bedingungen auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt besteht (auch wenn viele Lohneinbußen hinnehmen würden). Die zentralen Ziele müssen die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns und die Lohngleichsetzung zwischen Ost- und Westdeutschland sein. Gewiss, die Konkurrenz zwischen Ost und West würde steigen. Außerdem würden die Rückkehrer, die gut ausgebildet sind und integriert waren, in den westdeutschen Ländern merkbar fehlen. Schließlich hat auch im Westen der demografische Umbruch begonnen. Dennoch ist es im gesamtdeutschen Interesse, dass der Osten viele seiner motivierten und aktiven Bürger weiterhin nicht allein aufgrund des Lohngefälles verliert. Nur so kann der Osten wirtschaftlich, sozial und kulturell aus eigener Kraft erfolgreich sein – und den Zuzug aus Westdeutschland oder aus dem Ausland ermöglichen.

Von einem entleerten Osten hat niemand etwas

Wenn westdeutsche Bundesländer gut ausgebildete Menschen aus dem Osten abwerben und dann den Bundesfinanzausgleich nicht mehr mittragen wollen, weil andere Bundesländer angeblich ihre Hausaufgaben nicht machen, dann handeln sie höchst unsolidarisch. Sie verringern die Chancengleichheit zwischen den Bundesländern und beschleunigen die demografische Entleerung des Ostens – mit schwerwiegenden gesellschaftlichen Folgen, unter denen am Ende das gesamte Land leiden muss.

Eine weitere politische Herausforderung stellen die Pendler dar, die im Osten wohnen, aber teilweise seit vielen Jahren zur Arbeit in den Westen fahren. Allein in Sachsen-Anhalt gibt es 20 000 Fernpendler. Viele von ihnen wünschen sich nichts mehr als eine gleich entlohnte Stelle in der Heimat annehmen zu können. Derzeit wäre der Nettoverdienst infolge des Wegfalls möglicher Zweitwohnungs- oder Pendlerkosten zwar gleich, aber die Betroffenen würden weniger Beiträge in die Rentenversicherung zahlen.

Die Kehrseite der Medaille lautet, dass sich die Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren stark verändert hat. Während Ausbildungsplätze noch vor wenigen Jahren knapp waren, können heute viele nicht besetzt werden. Der Fachkräftemangel hat auch in Ostdeutschland eingesetzt: So werden in Mecklenburg-Vorpommern Fachkräfte besonders im Gesundheits- und Sozialwesen, im Handel und im verarbeitenden Gewerbe gesucht. In Sachsen-Anhalt suchen viele Unternehmen derzeit dringend Ingenieure, um neue Aufträge annehmen zu können.

Zudem gibt es für rückkehrende oder zuziehende junge Familien nach Ostdeutschland eine optimale Kinderbetreuungssituation, die aufrechterhalten werden muss. Dagegen muss das Betreuungsgeld mit allen Mitteln verhindert werden, weil es die gute Betreuungsinfrastruktur im Osten torpediert und den Ausbau der Kitaplätze in Westdeutschland behindert.

Für Fragen rund um das Thema Abwanderung, Rückkehrer und Rückholprogramme interessiert sich ein noch junges, aber bereits fest etabliertes offenes Netzwerk mit dem Namen „3te Generation Ostdeutschland“. Es existiert seit dem Jahr 2011 und setzt sich überwiegend aus Ostdeutschen der Jahrgänge 1975 bis 1985 zusammen, die in allen Teilen Deutschlands leben. Die Aktiven sind sich ihrer besonderen Erfahrung und der erworbenen Kompetenzen bewusst, die aus der miterlebten politischen und gesellschaftlichen Umbruchzeit resultieren. Selbstbewusst reflektieren sie Fragen zur deutsch-deutschen Vergangenheit und diskutieren darüber, wie zukunftsfähige gesellschaftliche Strukturen in Ostdeutschland und darüber hinaus entstehen können. Es geht ihnen darum, Ideen zu entwickeln und zu verbreiten, die lokal und national verwirklicht werden können.

Warum gerade der Osten den Mindestlohn braucht

Auf Veranstaltungen und bei einer Tour des Netzwerkes durch Ostdeutschland im Sommer 2012 standen die Herausforderungen im Fokus, die sich aus der deutsch-deutschen Migration ergeben. Ferner ging es um die Arbeitsweisen und die Erfolgsaussichten der Rückholprogramme beziehungsweise die Fachkräfteportale der ostdeutschen Bundesländer. Im Verlauf der Tour ehrte die Brandenburger Staatskanzlei das Netzwerk als vorbildliche Initiative auf dem Gebiet der Demografie.

Die betreffenden Programme für Rückkehrwillige tragen Namen wie „PFIFF“ (Sachsen-Anhalt), „MV4you“ (Mecklenburg-Vorpommern), „ThAFF“ (Thüringen) oder – selbsterklärend – „Fachkräfteportal Brandenburg“. Diese sind gemeinsam mit weiteren lokalen Partnern im „Verbund Rück- und Zuwanderung“ organisiert. Aber gemessen an der Aufgabenbreite und den Möglichkeiten, die alleine das Internet bietet, haben alle diese Institutionen zu kleine Mitarbeiterstäbe und zu wenig eigene Ressourcen, um adäquat wirksam zu werden. Einige von ihnen müssen sogar einen Teil ihres Budgets selbst erwirtschaften. Bei allen Institutionen ist die Onlinepräsenz von herausragender Bedeutung, wobei die Qualitätsunterschiede, Angebote und Übersichten noch sehr unterschiedlich sind.

Da es sich nicht nur um Rückholprogramme, sondern auch um Fachkräfteportale handelt, wäre es im Hinblick auf potenzielle Interessenten zum Beispiel aus Ost- und Südeuropa sinnvoll, die Internetseiten noch konsequenter auch ins Englische, Polnische oder Spanische zu übersetzen. Einige der Portale haben damit bereits begonnen. Aber häufig haben ausländische Fachkräfte in den alten Bundesländern mehr persönliche Netzwerke und nehmen die Chancen und Potenziale in Ostdeutschland nicht ausreichend wahr. Hinzu kommt: Trotz des Verbundes der ostdeutschen Institutionen kämpft jedes Bundesland letztlich für sich. Eine gemeinsame sichtbare ostdeutsche Initiative, besonders in den europäischen Raum hinein, ist bisher noch nicht entstanden. Es ist wichtig, die bestehenden Institutionen zu unterstützen und noch bekannter zu machen, die versuchen, die demografische Situation in Ostdeutschland zu stabilisieren.

Die Bundestagswahl im kommenden Jahr schafft die Möglichkeit, mit neuen Mehrheiten endlich auch in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen. Da ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung von einem Mindestlohn in besonderer Weise profitieren würde, sollte diese Forderung im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen. Durch die Einführung eines Mindestlohns und, damit einhergehend, bessere Aussichten auf eine auskömmliche Rente, würde eine ganze Generation und ihre Familien zusätzliche Anreize erhalten, in ihre alte Heimat zurückzukehren – oder dort zu bleiben. Gerade auch viele noch unentschlossene Wähler und Nichtwähler sind für das Thema „Rückkehr“ ansprechbar. Nicht selten wurden die Bundestagswahlen in Ostdeutschland entschieden. Dieses Thema könnte durchaus dazu beitragen.

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