Konkurrenz und Wissenschaft

Wie vermeiden wir die zweite deutsche Bildungskatastrophe? Möglichst viel Wettbewerb empfehlen manche Hochschulreformer. Doch wo Wissenschaft zu einem Instrument der Standortpolitik verkommt, da hört sie auf, Wissenschaft zu sein

"Du! denn ich möchte′, o Perses, dir Wahrheit jezo verkünden.
Nicht ward Eines Geschlechts die Beeiferung, nein, auf dem Erdreich
Walten zwo: die möchte mit Lob′ anschauen, wer klug ist;
Jene mit Tadel allein: denn sie sind zwiefacher Gesinnung.
Eine pflegt nur Hader und schädlichen Krieg zu erregen,
Unhold! nicht liebt solche der Mensch; nur genöthiget ehrt man,
Nach der Unsterblichen Rathe, der Zwietracht böse Beeiferung.
Aber die andere nahm aus der Nacht Schooß früher den Ursprung; (...)
Mit dem Nachbar eifert der Nachbar
Um den Ertrag: gut ist den Sterblichen solche Beeiferung."
(Hesiod: Hauslehren, Z. 10 ff.)


Ich hört′ einmal einen Philosophen reden, der hieß Zimmerli. Es trug sich zu auf einer Veranstaltung des Wissenschaftsforums in Hannover. Dort sprachen auch Nicht-Philosophen, wie die Bundesministerin Bulmahn. Doch jener Philosoph zitierte, wie es sich für einen seiner Zunft ziemt, einen anderen Philosophen, der hieß Picht. Der wiederum hatte in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Buch Die deutsche Bildungskatastrophe veröffentlicht. Nicht Teile des Inhalts, sondern den Titel selbst zitierte Professor Zimmerli nun mit seiner Frage: "Wie vermeiden wir die zweite Bildungskatastrophe?" Kern der Überlegungen zur Beantwortung dieser Frage war die Forderung, kompetitive Strukturen in die Wissenschaft einzuführen. Allein die Konkurrenz, zwischen den Hochschulen, Wissenschaftlern, Studierenden, könne das Niveau der deutschen Lehre und Forschung retten. Mit anekdotischer Evidenz wies Zimmerli noch seine Zugehörigkeit zu der Generation der 68er nach, die sich schon einmal um die Reformierung der Hochschulen verdient gemacht habe. Zimmerli ist Philosoph, Wissenschaftsreformator, 68er und Präsident der Privatuniversität Witten/Herdecke.

Evaluierung? Nicht mit Kant!

Konkurrenz und Wissenschaft. Wissenschaft ist ein Gattungsunternehmen. Ihre Resultate sind allgemein, gelten für jedes Individuum, selbst wenn sie ihm nicht bewusst sind. Dieses überindividuelle Moment der Wissenschaft hat Schiller in dem bekannten Satz gemeint, "was einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er allen erworben." Das wissenschaftliche Tun ist nicht auf das Tun Einzelner zu reduzieren. Jede Entwicklung der Wissenschaften basiert auf Erkenntnissen, die Resultat vergangener wissenschaftlicher Arbeit sind. Sie sind weder Resultat der Arbeit des Wissenschaftlers, der die Entwicklung vorantreibt, noch müssen sie jeweils neu von ihm bewiesen werden.
Wissenschaft ist ein arbeitsteiliger und kooperativer Prozess. Dieser lässt sich nicht auf das Tun Einzelner reduzieren, doch ist er immer Resultat des Tuns Einzelner. Das Verhältnis dieser Einzelnen in ihrer Eigenschaft als Lehrende und Forschende soll und wird, um die zweite Bildungskatastrophe eben noch zu vermeiden, in ein Verhältnis der Konkurrenz überführt, in dem es um die Zahl der Studierenden geht, um deren Zufriedenheit mit der gebotenen Dienstleistung "Bildung", um Patentanmeldungen pro Millionen ECU öffentlicher F&E-Ausgaben1, Publikationen, Drittmittel und damit um Reputation.

Komfortabel wäre es, gegen die Konkurrenz in der Wissenschaft einen reputierlichen Philosophen wie Kant anführen zu können, der gewiss jede Evaluation dadurch erfolgreich bestanden hätte, dass er deren sachliche Unangemessenheit nachgewiesen und sich deshalb zu Recht verbeten hätte. Kant ist gegen die Konkurrenz in der Wissenschaft zu zitieren: "Am Menschen (...) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln." Zweck der Natur sei die vollständige Entwicklung der Naturanlagen, die dem Menschen durch Vernunft gattungsmäßig zukämen. Wissenschaft und Kunst zu entwickeln, sei eben ein Gattungsunternehmen. Doch steht bei Kant ebenfalls: "Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft (...) Ich verstehe hier unter Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen (...)."

Der Mensch als Zweck an sich

Die ungesellige Geselligkeit, zu der die Konkurrenz Metonym ist, ist als das Mittel zur Realisierung des Zwecks bestimmt, der darin bestehe, Wissenschaft und Kunst zu entwickeln. Offensichtlich bestätigt dies die Forderung, endlich nun kompetitive Strukturen in die Wissenschaft einzuführen, um so der Realisierung des alten, von Kant benannten Zwecks der Menschheit näher zu kommen. Kant zu zitieren böte so den bildungspolitischen Reformatoren sozusagen a posteriori die philosophische Begründung, derer niemand jedoch ernsthaft bedürfte, weil ohnehin Einigkeit in der Wahl des Mittels besteht, wie die zweite deutsche Bildungskatastrophe zu vermeiden sei.

Die Kantische Philosophie ist jedoch in sich gebrochen. Die zitierte Schrift ist eine geschichtsphilosophische Spekulation mit der Absicht, dem Weltlauf seinen zugrunde liegenden vernünftigen Plan nachzuweisen. Der Nachweis dieses Plans kann nicht anders, als die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse in den systematischen Plan einzuordnen und damit deren Vernünftigkeit zu behaupten. Jede affirmative Geschichtsphilosophie rechtfertigt so Kriege, Herrschaft und weiß noch jeder Barbarei etwas für den Fortschritt Gutes abzugewinnen. Kant rechtfertigt die Herrschaft. Doch an ihr bricht jede Philosophie, da sie einen Unterschied innerhalb der Gattung, den zwischen Herrschern und Beherrschten, zu rechtfertigen sucht, der aus der Bestimmung der Einheit der Gattung nicht zu begründen ist. Nur durch die Bestimmung der Natur als mit einem Willen versehenes Subjekt - "die Natur hat gewollt" - scheint dieser Bruch behoben, da selbst die Herrscher, denen es für gewöhnlich zustand, die Realisierung ihrer Zwecke den Beherrschten abzunötigen, als Mittel zur Realisierung des höheren Plans erscheinen. Herrscher und Beherrschte wären gleichermaßen Mittel zur Realisierung des höheren Zwecks, so dass niemand etwas zu beklagen haben dürfte. - Die Gegenargumente:

Erstens, die Natur ist kein wollendes Subjekt. Dass sie einen Willen habe, ist eine falsche Spekulation Kants, um den Lauf der Welt auf den von ihr gesetzten Zweck hin organisiert darstellen zu können. Zweitens, der Mensch ist nach Kant auch "Zweck an sich selbst". Die Bestimmung, Zweck an sich selbst zu sein, steht derjenigen entgegen, Mittel zur Realisierung des Zwecks der Natur zu sein.

Auf diese Bestimmung, Zweck an sich selbst zu sein, bezog sich die Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Professorin Schwan, anlässlich einer Diskussion während der Sommeruniversität der Friedrich-Ebert-Stiftung, um ihr Unbehagen darüber zu begründen, daß die gegenwärtige bildungspolitische Debatte die Studierenden nur als "Humankapital", folglich nur als Mittel der Kapitalverwertung, auffasse. Diesen Zweck hatte Kant nicht im Sinn, obgleich die Struktur der bildungspolitischen Argumentation in zwei Schritten analog zu seiner ist. Erster Schritt: Zweck ist die ökonomische Sicherung des hiesigen Standorts. Das Mittel zur Realisierung dieses Zwecks ist das `Humankapital´.2 Je angemessener dieses in Gestalt der Studierenden dem Zweck ausgebildet ist, desto erfolgreicher die Realisierung des Zwecks. Zweiter Schritt: Zweck der Bildungspolitik ist es folglich, die Mittel dieses übergeordneten Zwecks bereitzustellen. Das tauglichste Mittel zur Realisierung dieses bildungspolitischen Zwecks nun sei die Konkurrenz der Hochschulen, der Lehrenden und der Studierenden. Die Konkurrenz in der Wissenschaft wird durch die beiden Zweck-Mittel-Verhältnisse zum Mittel des ökonomischen Erfolgs. Offen zu Tage tritt diese Subsumtion der Organisation von Wissenschaft unter ökonomische Begriffe in der Evaluation. Kosten und Nutzen, Aufwand und Ertrag werden versucht, in ein quantifizierbares Verhältnis zu setzen.

Gold, Zeitungslob und Fürstengunst

Schiller, selten noch gelesen, weil dessen Kenntnis sich kaum als Beitrag zur Qualifikation des "Humankapitals" verkaufen lässt, hat mit der Unterscheidung des philosophischen Kopfes von dem Brotgelehrten gegen diese Subsumtion und damit für die Freiheit der Wissenschaft geschrieben: Der Brotgelehrte "hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt." Das Gold, das wäre heute der variable Gehaltsbestandteil nach dem neuen Besoldungssystem, über dessen Höhe die Ergebnisse der Evaluation entscheiden würden. Das Zeitungslob von damals ist auch heute noch geschätzt und wäre zu ergänzen um die Indizes der Zitierhäufigkeit von Publikationen. Nur die Fürstengunst, die gibt′s nicht mehr.

Konkurrenz in die Wissenschaft. Hesiod unterscheidet zwei Arten von Konkurrenz. Die eine Art von Beeiferung säe Hader und Zwietracht. Nur genöthiget ehrte man diese. Die andere dagegen sei die Beeiferung um den Ertrag. Gut sei den Sterblichen solche Beeiferung. Hesiod wusste, dass das Nötigende an der Konkurrenz das sei, sich ihr nicht entziehen zu können, ohne seine eigene Existenz preis zu geben. Deshalb: Nur genöthiget ehre man diese. Die Nötigung der Konkurrenz, sich dieser nicht entziehen zu können, ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass sie auch notwendig wäre. Das Faktische der gegebenen Verhältnisse determiniert zwar das Leben in diesen Verhältnissen, doch determiniert es nicht die Idee, wie zu leben wäre. Implizit wird schon bei Hesiod die Frage nach dem Zweck der Konkurrenz gestellt. - Ist der Zweck der Konkurrenz in der Wissenschaft der wissenschaftliche Ertrag? Oder ist der Zweck der Konkurrenz in der Wissenschaft der, Vorteile, die für alle anderen Nachteile sind, im Vergleich von Produktionsstandorten zu erlangen? - Die Wahrheit, die Hesiod dem missratenen Bruder Perses im "Rügelied" verkündet, ist eben die, zu sagen, wie zu leben wäre. Im Wetteifer um den Ertrag der Sache selbst.

Dass schon damals durch die antiken Dichter das Ideal den wirklichen Verhältnissen vorgehalten werden musste, diskreditierte nicht das Ideal, sondern die Verhältnisse. Die 68er, zu denen Zimmerli sich bekannte, hatten zumindest noch das Ideal vor Augen, wie zu leben wäre, dem gemäß die Gesellschaft nach den Erkenntnissen der Wissenschaft, die in der Kriti-schen Theorie damals diskutiert wurden, einzurichten wäre, nicht die Wissenschaft nach dem in der Gesellschaft vorherrschenden Prinzip der Konkurrenz.

Ich studiert′ einmal die Philosophie. Es trug sich zu in jener Zeit, in der selbst die "Königin aller Wissenschaften" (Kant) sich der Prüfung beugen musste, zu wessen Nutzen in sie noch investiert werde. Bloß der Wirklichkeit ihr Ideal vorzuhalten, dass die Menschen Zwecke an sich selbst wohl seien, hat der Wirklichkeit noch nie genutzt. Ob die Philosophie jene Prüfung überstanden hat, das weiß ich nicht.


Anmerkungen

1 Vgl. Carsten Stender: Wenn nicht in Deutschland, dann anderswo, in: Berliner Republik 4/2001, 69.
2 "Wissen, Qualifikation, fachliche und soziale Kompetenz werden immer mehr zur Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und wirtschaftlichen Erfolges. Wissen ist der entscheidende Produktionsfaktor (...)." Aus dem SPD-Leitantrag "Sicherheit im Wandel", Beschluss des SPD-Parteivorstands vom 9. Juli 2001.

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