Kulturrevolution
Die Zeiten ändern sich - die Beschleunigung des Wandels hat auch die SPD erfasst. Noch im Bonner Erich-Ollenhauer-Haus erntete der Referent des Parteivorstandes, wenn er von der Wissensgesellschaft, von den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sprach, bestenfalls höflichen Respekt. Meistens wurde die Parteizentrale ermahnt, schneller und umfangreicher Materialien, Flugblätter und Plakate zu drucken und zu verschicken. Natürlich meckert die Basis nach wie vor über Informationsdefizite. Doch im Berliner Willy-Brandt-Haus wird anders kritisiert. Es geht darum, dass die unteren Parteigliederungen noch nicht umfangreich genug vernetzt sind. Gefragt wird: "Warum sind bisher nur Bezirks-/Unterbezirks-Büros und nicht auch jeder Ortsvereinsvorstand an das Intranet der SPD angeschlossen?"
Digitale SPD
Diesem Defizit will jetzt der Parteivorstand auf Initiative des Generalsekretärs zu Leibe rücken. Er hat im Rahmen des Projektes "Demokratie braucht Partei" die "digitale Partei" beschlossen: "Wir werden das Internet als einen wichtigen Weg der innerparteilichen Kommunikation aufbauen. Dies betrifft die Hauptamtlichen, die Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, die Funktionäre, die Mitglieder. Wir wollen alle Gliederungen in einem geschützten Informationsbereich im Internet bringen. Wir werden Schritt für Schritt eine komplett neue Angebotsstruktur im Netz aufbauen, die auf Beteiligung und Einbeziehung setzt und die Ressourcen mobilisiert, die gerade bei jungen Mitgliedern vorhanden sind."
Dieser Teil der Organisationsreform ist unumstritten (die Geschwindigkeit der Umsetzung dürfte vor allem eine Geldfrage sein). Zahlen, etwa der Mitgliederstruktur und -entwicklung, zeigen, dass die SPD, bliebe sie genau so, wie sie jetzt ist, als Werte-, Mitglieder- und Volkspartei kaum eine große Zukunft haben wird. In die abendliche und samstägliche hierarchische Binnenkommunikation Älterer (nur noch knapp 10 Prozent der Mitglieder sind unter 35 Jahren) und "Zeitreicher" (vor allem Lehrer, kommunale Angestellte, Beamte und Rentner) fließen die kulturellen Erfahrungen anderer gesellschaftlicher Bereiche zu langsam ein. Das Desinteresse gerade junger Leute an einer solchen Parteipolitik nimmt weiter zu; nicht von ungefähr stieg in der 1999 erhobenen Shell-Jugendstudie die erlebte persönliche Distanz zur Politik in
allen Gruppen stark an. Die ritualisierte Parteiwelt muss sich öffnen, auch durch neue Kommunikationsformen via Netz.
Doch steckt hinter der Zielsetzung "Digitalisierung" mehr als das Bemühen, die Organisation der SPD einmal wieder auf den aktuellen Stand der Technik zu bringen. 600 Jahre nach Gutenberg wächst die junge Generation plötzlich mit einer gänzlich neuen Kulturtechnik der Information und Kommunikation auf. Der Siegeszug des world wide web bringt derzeit nicht nur eine New Economy hervor, auch die politische Kultur und die Bedingungen von Demokratie wandeln sich radikal. Die Internet-Wahlkampfseiten der Kampa 1998 und des NRW-Wahlkampfes 2000 waren erst ein Anfang. Das Internet wird das Verhältnis von Bürgern, Parteien und Staat grundlegend ändern. Die Politik wird sich an mehr und an direktere Bürgerbeteiligung, nicht zuletzt durch neue globalisierte Interessengruppen, gewöhnen müssen. Das politische Handeln muss sich beschleunigen, immer schneller wird Politik auf globalen Anpassungsdruck reagieren müssen. Für die Parteien ergibt sich hiermit - zugespitzt - die Alternative, weiter an Mitgliedern und gesellschaftlichem Einfluss zu verlieren oder als Teil einer neuen, Netz-gestützten, globalen Zivilgesellschaft ihre Chance zu suchen.
Gerhard Schröder hat diese paradigmatische Dimension in seinem Beitrag zur zivilen Bürgergesellschaft (NG/FH April 2000) angedeutet: "Schon heute, sagen die Computerfreaks stolz, seien viele Websites und Chat-corners, die sich mit technischen Fragen befassen, die ‘reine, weltweit praktizierte Nachbarschaftshilfe′. ...Dieses Zur-Verfügung-Stellen des ‘Quell-Codes′ halte ich auch gesellschaftlich für eine ausgezeichnete Metapher. Die Zivilgesellschaft lebt also nicht nur von der Mobilisierung gegen Privilegien und Herrschaft, sondern auch von der tendenziellen Abschaffung des Herrschaftswissens". Selbst Ulrich Beck nahm diesen Faden auf und lobte, die SPD-Organisationsreform sei angesichts des Vorhabens, durch "virtuelle Konferenzen" über das Internet die Mitsprache der Ortsvereine an Entscheidungen der Berliner Parteizentrale zu fördern, "geradezu vom zivilgesellschaftlichen Geist inspiriert" (Die Zeit 22/2000).
Demokratische Chancen durch Digitalisierung der Politik
Die Hoffnungen, die in der Politikwissenschaft mit dem Internet verbunden werden, lassen sich als "Revitalisierung der Demokratie" auf den Punkt bringen. Die Bürger können sich über das Netz mehr und leichter in die Politik einmischen und unmittelbar mit ihren Parteien und Regierungen interagieren. Gerade für die Jüngeren dürfte der Zugang zur Politik per Mausklick leichter, die Teilhabe spannender und die Transparenz der Politik größer werden. Parteien sprechen über ihre Websites auch neue Gruppen von Nichtmitgliedern an, die sich online vielleicht eher als Parteimitglieder einschreiben. Neue Wählergruppen lassen sich erschließen, nicht zuletzt dadurch, dass ortsunabhängig Mitsprache und Mitentscheidung möglich wird. Auch die für die gesellschaftliche Kommunikation bedeutenden "Zeitarmen" (die Selbständigen und neuen "Arbeitskraftunternehmer", die unter neuen Flexibilitätsverhältnissen und zumeist nicht nur 40 Stunden Tätigen, aber auch die zunehmende Zahl der Alleinerziehenden) hätten damit eine Chance sich einzumischen.
Durch die Wahl im Internet lässt sich Stimmabgabe und mobiles Leben miteinander verbinden. Die "Verlinkung" der Parteipolitik mit unabhängigen Politikplattformen dürfte neue Formen direkter Demokratie hervorbringen. Vielfältige zeitlich begrenzte, thematisch bezogene Initiativen werden zunehmend auf die Parteipolitik einwirken; über die neuen Medien entsteht ein neuer Typus globaler Gemeinschaft und flüchtiger "sozialer Bewegung", der keine geographische Nähe mehr benötig. Die Partizipation an elektronischen Diskussionsforen und die permanente Volksbefragung per Netz könnten zu einer zentralen Säule der aktiven Bürgergesellschaft werden. Die Durchsetzung zentral geleiteter Kommunikation würde schwieriger, die durch die Fernseh(un)kultur entstandene inhaltsleere "Theatralisierung der Politik" (Thomas Meyer) würde zurückgedrängt, der reformfeindliche Korporatismus abgeschotteter Eliten bekäme Gegenwind, nationale Diktaturen wären kaum noch möglich.
Grenzen von parteiendemokratie.de
Diesen Hoffnungen steht wie bei jeder technologischen Innovation auch ein Bild von sozialen Risiken gegenüber. Können die neuen Medien nicht auch zur Kontrolle und Entmündigung der Bürger eingesetzt werden, zu einer weiteren Differenzierung und Segmentierung in neue ‘autistische′ Teil-Öffentlichkeiten, zur Zerfaserung der Parteien und zur Zersplitterung der Gesellschaft führen? In der Erklärung des Frankfurter Kongresses "Machtfragen in der Informationsgesellschaft" wurde gar formuliert: "Medien werden in erster Linie als Wirtschaftsgut betrachtet, das ausschließlich den Kräften des Marktes überlassen bleiben soll, und nicht als kulturelles und demokratisches Element der Gesellschaft. Setzt sich dieser Trend fort, sind wir künftig mit privaten Unternehmen und Kapitalgruppen konfrontiert, die weltweit die Produktion, die Verteilung und den Fluss von Informationen auf den Datenhighways steuern. Damit entscheiden sie auch über die kommerzielle Verwertung der hochwertigsten Ware des neuen Zeitalters, der Ware Information." (Forum Wissenschaft Studien 47, BdWI-Verlag Marburg 1999).
So bedarf auch die Entfaltung des Demokratisierungspotentials des Internets als dezentraler und interaktiver Medientechnologie aktiver Gesellschaftspolitik. Die Debatte dreht sich vor allem darum, dass der Gesetzgeber das Internet als öffentlichen Universaldienst ausbauen sollte, um möglichst viele kostengünstige Zugänge zu elektronischen Informationen von öffentlichen Einrichtungen und öffentlich-rechtlichen Anstalten auch für sozial Schwache und Minderheiten zu schaffen. "Der Zugang zu Informationen muss ein europäisches Grundrecht werden", so der SPD-Abgeordnete Jörg Tauss.
Auch für die Digitalisierung der SPD ist dieses Problem des Zuganges zentral: Wenn, so die neue Shell-Jugendstudie, inzwischen jeder Vierte der 15-24jährigen das Internet nutzt, heißt dies umgekehrt eben auch: Dreiviertel nutzen es (noch?) nicht, müssen also herkömmlich angesprochen werden. Das Netz stellt keineswegs Gerechtigkeit her, vielmehr verfestigen die IuK-Technologien vier Dimensionen der Ungleichheit: nach Geschlecht, Alter, Bildung und Einkommen. In der Shell-Jugendstudie heißt es über das Internet: "In den alten Bundesländern wird es häufiger genutzt als in den neuen (27% zu 18%), in Großstädten (30%) häufiger als in Mittelstädten (25%) und als in ländlichen Kleinstädten und auf Dörfern (21%). Jugendliche, deren Elternhaus der gehobenen Bildungsschicht zuzurechnen ist, erklären häufiger, das Internet zu nutzen (45%) als Jugendliche, deren Eltern der mittleren (25%) oder unteren Bildungsschicht (16%) angehören." Peter Glotz nannte es gar die "elitäre Komposition der Netzens": Der Anteil von Leuten mit einem hohen formalen Bildungsabschluss sei fast dreimal so hoch wie in der Gesellschaft; fast 30 Prozent der Online-Nutzer hätten ein Netto-Haushaltseinkommen von über 6000 Mark.
Wenn die kulturkritische Analyse von Peter Glotz stimmt (wofür viel spricht), geht es nicht nur darum, dass bei den rasanten technologischen Durchbrüchen nicht alle mithalten können. Vielmehr wollen dies zunehmende Minderheiten auch nicht mehr. Bewusst verabschieden sie sich mit gefühlsbeladenen Argumenten der eigenen Lebensführung aus der Welt, in der der Schnelle den Langsamen frisst. Glotz konstatiert eine zunehmende Kluft und "Kulturkämpfe" zwischen der beschleunigten Gesellschaft und den Ausgeschlossenen. Das letztere Drittel, das als neue underclass auf Entschleunigung und auf die Flucht in die Einfachheit setzt, wird auch durch die digitale Öffnung des politischen Prozesses nicht erreicht werden. Die auf den neuen Medien basierende Reform der Parteiorganisation dürfte sie nicht interessieren oder gar abstoßen.
Natürlich ist dies kein Argument gegen die Digitalisierung. Aber bei aller technischen Aufbruchstimmung sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass auch die "Hyper-Demokratie" kein Projekt für alle ist: Trotz aller Bildungsanstrengungen werden Computer-Analphabeten übrigbleiben - wenn auch die Drittel-Prognose von Glotz extrem hoch erscheint. Die SPD ist als Volkspartei existenziell darauf angewiesen, auch bei den Modernisierungsverlierern und Aussteigern des Internetzeitalters Zustimmung zu organisieren. Innerparteilich scheint derzeit die kulturelle Technikkluft auf allen Ebenen der Organisation mitten durch Mitgliedschaft und Funktionsträger zu gehen. Ergänzend zur digitalen Beschleunigung sind daher auch "entschleunigte Zonen" gefragt, in denen wie auf Grundwerteforen, oder im Rahmen des Wissenschafts- oder des Kulturforums in persönlicher Kommunikation über Prinzipielles, Visionäres, Philosophisches und Kulturelles in Ruhe gesprochen werden kann.
Zudem geht es darum, was Franz Walter und Tobias Dürr in ihrem Buch über Die Heimatlosigkeit der Macht den Parteien als Erfolgsrezept ins Stammbuch geschrieben haben: Modernisierung, Innovation und technischer Fortschritt, für die heute Digitalisierung das entscheidende Symbol ist, kann nur die eine Seite sein. Erkennbar bleiben muss die unverwechselbare Identitätslinie - bei der SPD vor allem das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Gewinnen können die Sozialdemokraten "auch und gerade in diesen modernen Zeiten nur, wenn sie die alten Traditionsressourcen voll ausschöpfen, wenn sie ihre Traditionsbataillone geschlossen aktivieren und die Verdrossenen, Frustrierten und Benachteiligten wieder an die Wahlurne bringen".
Fazit
Die technische Revolution definiert die politische Kultur neu. Natürlich schadet eine gewisse Technikbegeisterung nicht. Aber darüber darf nicht vergessen werden, dass die kulturellen und demokratischen Potentiale des Internet gestaltet werden wollen. Es wäre eine Reduktion, mit dem Netz lediglich den autoritären Politikstil zu effektivieren, und einfach nur Botschaften der "richtigen Linie" schneller nach unten durchzustellen. Vielmehr sollte die Demokratisierungschance des Internet ergriffen werden: Die dezentrale und interaktive Technologie steht für ein emanzipatorisches Politikmodell, für den Ausbau realer Einflussmöglichkeiten. Mit Transparenz von Entscheidungsprozessen, mit offenem Diskurs, gegenseitigem Lernen und aktiver Beteiligung kann die Partei für den selbstverantwortlichen Bürger an Attraktivität nur gewinnen.
Die SPD wird dann ihre Gestaltungskraft behalten, wenn die "digitale Partei" - wie vorgeschlagen - einhergeht mit einer umfassend an Offenheit, Partizipation, Dialogfähigkeit und Rekrutierungskompetenz orientierten Parteireform. In der Antwort von Ulrich Beck auf Gerhard Schröder fand sich denn auch die nachstehende Mahnung: "Zivilgesellschaftliche Reformen müssen gerade auch in und an den verkrusteten Machtkartellen des politischen Systems und der staatlichen Verwaltung ansetzen und nicht nur minimalistische externe Voraussetzungen für Bürgerengagement bereitstellen - etwa ein Telefonanschluss und ein Zimmer. Mit anderen Worten: Es reicht nicht, die Zivilgesellschaft zu ermächtigen, man muss auch die staatliche Bürokratie ‘entmächtigen′." - Von einigen hört der Referent, dass sie am liebsten in diesem Sinne eine Kulturrevolution in den Gliederungen der SPD anzetteln möchten. Die Digitalisierung dürfte ein derartiges Vorhaben erleichtern.