Leitbild
 solidarische Flexibilität

Dokumentation DenkraumArbeit: Die 10 Müggelseer Thesen

Unsere Arbeitswelt wandelt sich beständig und rasant. Änderungen in der Arbeitsorganisation, technologische Innovationen, die Digitalisierung, aber auch das Bedürfnis, Arbeit und Privatleben besser miteinander vereinbaren zu können, erfordern neue politische Antworten. Diesen Wandel müssen wir gestalten. Es geht darum, den Fortschritt am Arbeitsmarkt im Interesse von Beschäftigten und Wirtschaft zu nutzen.

Über diesen Wandel haben mehr als 100 Expertinnen und Experten anderthalb Jahre im „DenkraumArbeit“ beraten, organisiert vom Progressiven Zentrum und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein Resultat dieses strukturierten Nachdenkprozesses sind die 10 Müggelseer Thesen, die die Kernideen und Forderungen des DenkraumArbeit zusammenfassen. Unser erklärtes gemeinsames Ziel ist es, die progressive Agenda nachhaltig zu beeinflussen.

Zeitsouveränität steigern

Das Leitbild der zehn Thesen ist das Konzept der „solidarischen Flexibilität“. In den vergangenen Jahren war unser Verständnis von Flexibilität von marktwirtschaftlicher Konkurrenzlogik und kurzfristigen Vorteilen geprägt. Die solidarische Flexibilität schafft neue Wege für einen fairen Ausgleich zwischen Unternehmen und Beschäftigten. Individuelle Förderung und soziale Absicherung werden als Investitionen in eine ökonomisch und gesellschaftlich nachhaltige und erfolgreiche Arbeitswelt verstanden, die aus staatlichen Mitteln oder Versicherungsbeiträgen solidarisch finanziert werden müssen. Solidarische Flexibilität steht somit für die Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensgestaltung als notwendige Voraussetzung für gesellschaftliche Innovation.

These 1: Zeitsouveränität steigern – Beschäftigungspotenziale nutzen. Viele Menschen wünschen sich mehr Souveränität, was die Dauer, Lage und Verteilung ihrer Arbeitszeit angeht. Die einen fühlen sich durch berufliche und private Anforderungen zunehmend gehetzt und möchten ihre wöchentliche Arbeitszeit reduzieren. Andere, die etwa unfreiwillig in Teilzeit beschäftigt sind, möchten hingegen gerne mehr arbeiten. Gefragt sind daher neue Vereinbarkeitslösungen, die den vielfältigen Lebensentwürfen besser entsprechen – etwa durch einen gesetzlichen Anspruch auf Wahlarbeitszeit.

These 2: Verantwortungsvolle Unternehmen belohnen. Auch wenn in einigen Bereichen bereits deutliche Fortschritte hinsichtlich der physischen Gesundheit der Beschäftigten erreicht wurden, nimmt die Zahl der psychischen Erkrankungen zu. Zu befürchten ist, dass sich diese Entwicklung in einer zunehmend digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt aufgrund der Verdichtung von Arbeitsprozessen noch weiter verschärfen wird. Daher wollen wir mithilfe eines steuerlichen oder beitragsabhängigen Bonussystems verantwortungsvolle Betriebe fördern, die sich für eine nachhaltige Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit einsetzen.

These 3: Selbstbestimmte Erwerbsbiografien unterstützen. Viele Menschen stehen vor dem Problem, dass zeitliche Freiräume für Familie, Pflege, Weiterbildung oder Ehrenamt nicht ausreichend vorhanden, finanziell nicht tragbar und sozialrechtlich nicht abgesichert sind. Flexible Arbeitszeitmodelle und ein Lebenschancenbudget zur selbstbestimmten Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit würden dieses Problem beheben.

These 4: Lebensverläufe berücksichtigen – Risiken absichern. Neue Beschäftigungsformen, pluralisierte Lebenslagen sowie veränderte Anforderungen an die Familien- und Sorgearbeit erfordern neue Angebote bei der Unterstützung von Übergängen. Um ein Auseinanderdriften von Beschäftigungs- und Lebenschancen zu vermeiden und die Bereitschaft für neue Berufs- und Lebenswege zu fördern, müssen wir die bestehenden Sicherungssysteme stärker präventiv ausrichten und zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln.

Weiterbildung für alle

These 5: Weiterbildung für alle ermöglichen. Um die beruflichen Entwicklungsoptionen jedes Einzelnen und die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Aufstieg zu verbessern, müssen wir – besonders angesichts des digitalen Strukturwandels – einen allgemeinen und kontinuierlichen Zugang zu Weiterbildung schaffen. Ein individueller Rechtsanspruch auf Qualifizierungsberatung und Weiterbildung wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.

These 6: Weiterbildung transparent gestalten. Damit Weiterbildung von allen in Anspruch genommen werden kann, müssen Weiterbildungsangebote übersichtlicher und transparenter gestaltet sein. Zusätzlich müssen lebensbegleitende Bildungszeiten künftig einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert erhalten. Sämtliche Informationen zur persönlichen Weiterentwicklung könnten mit flächendeckenden und unabhängigen Qualifizierungsberatungen unter einer bundesweiten Dachmarke „Weiterbildung“ systematisch gebündelt werden.

These 7: Weiterbildungsqualität verbessern. Etablierte Qualitätssicherungsverfahren reichen bisher nicht aus, um die Weiterbildungsgüte zu verbessern. Ob in Schule, Berufsbildung, Studium oder Weiterbildung: Ein professionelles pädagogisches Personal ist die zentrale Voraussetzung für gelingende Lernprozesse. Wir müssen daher nicht nur die Teilnahme an Weiterbildungsangeboten fördern, sondern brauchen ebenso eine Qualitätsoffensive in der Weiterbildung. Dazu gehört auch, flächendeckende Mindeststandards für „gute Arbeit“ in der Weiterbildungsbranche zu gewährleisten.

In die gesellschaftliche Infrastruktur investieren

These 8: Arbeitssuchende zielgerichteter fördern. Wir beobachten, dass sich die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt. Zugleich setzt die Arbeitsmarktpolitik vorrangig auf die schnelle Vermittlung von Arbeitslosen. Vonnöten ist daher ein Paradigmen-wechsel im SGB II: Statt einseitig auf Aktivierung zu setzen, müssen wir jeden Arbeitssuchenden individuell und nachhaltig fördern und befähigen. Dazu gehört ein Umgang auf Augenhöhe, der langfristige Perspektiven schafft, und eine bessere Ressourcenausstattung arbeitsmarktpolitischer und sozialer -Dienstleistungen.

These 9: Schutzfunktionen der sozialen Sicherungssysteme erhalten. Unser Sozialversicherungssystem basiert auf dem so genannten Normalarbeitsverhältnis. Abweichungen von dieser Norm lassen sich innerhalb der jetzigen Sozialversicherungslogik nur unzureichend integrieren. Die Sozialversicherungssysteme müssen künftig unterbrochene Erwerbsverläufe und neue Erwerbsformen (etwa Solo-Selbständige) einbeziehen, etwa durch eine steuerfinanzierte Mindestsicherung innerhalb der sozialen Sicherungssysteme.

These 10: Gesellschaftliche Infrastruktur. Der digitale und der demografische Wandel erfordern es, dass wir künftig mehr in die soziale Infrastruktur investieren – von Bildung und Pflege bis hin zur Stadtentwicklung. Zugleich besteht die Gefahr, dass sich die im Zuge der Digitalisierung erzielten Produktivitätsgewinne zunehmend auf wenige Unternehmen und Individuen konzentrieren. Hier gilt es, einen Ausgleich zu schaffen. Wirtschaftliche Optimierungschancen sollten auch zu gesellschaftlichen Gewinnchancen werden. Kernaufgabe progressiver Politik ist es, neue Mechanismen zur Finanzierung von Gemeinwohlaufgaben zu finden.

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Alle bisherigen Projektergebnisse sind auf der Plattform www.denkraumarbeit.de öffentlich einsehbar.

Mitwirkende des DenkraumArbeit sowie Unterstützerinnen und Unterstützer der 10 Thesen: Sven Altenburger, Lars Andresen, Joachim Arndt, Rosina Baumgartner, Ursula Bazant, Marion Binder, Yvonne Blos, Ruth Brandherm, Norbert Büning, Andreas Crimman, Klaus-Heinrich Dedring, Leonhard Dobusch, Antje Draheim, Tobias Dürr, Werner Eichhorst, Michael Fischer, Thomas Fischer, Kirsten Frohnert, Andrä Gärber, Manuel Gath, Harald Geywitz, Wolfgang Gründinger, Nils Heisterhagen, Tanja Hille, Lena Hipp, Johannes Jakob, Bastian Jantz, Marei John-Ohnesorg, Bernd Käpplinger, Matthias Klein, Sarah Klein, Konrad Klingenburg, Ulrich Klotz, Ingo Kolf, Klaus Kost, Martin Krebs, Julia Kropf, Stefan Marx, Matthias Merfert, Ulf Meyer-Rix, Michael Miebach, Josef Mikschl, Martin Mindermann, Marius Mühlhausen, Bettina Munimus, Max Neufeind, Raphael Neuner, Katharina Oerder, Stefan Profit, Sven Rahner, Stefan Ramge, Nane Retzlaff, Sandra Reuse, Fedor Ruhose, Lisa Ruppel, Daniel Sahl, Wolfram Sauer, Bettina Schattat, Mareike Scheerer, Jakob Scherer, Christina Schildmann, Rolf Schmachtenberg, Wolfgang Schroeder, Karin Schulze-Buschoff, Leon Tilly, Benedikt Siebenhaar, Joß Steinke, Simone Stelten, Philipp Stiel, Oliver Suchy, Jochen Tscheulin, Simon Vaut, Peer-Oliver Villwock

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