Man gönnt sich ja sonst nichts

Das Programm im Tipi ist zu gut, um es nüchtern zu genießen

Verehrte Damen, verehrte Herren, ich bitte einen Moment um ihre geschätzte Aufmerksamkeit ..." - eine Viertelstunde vor jeder Aufführung meldet sich die charakteristisch-verrauchte Stimme von Otto Sander: Dann hat man die Gelegenheit, noch ein Gericht für die Pause oder ein Getränk zu bestellen und sich die letzte Zigarette vor dem Auftritt der Künstler anzustecken. Mit diesem Ritual beginnen die Abende in der Bar jeder Vernunft . Und seit kurzen auch im Tipi, dem Zelt am Kanzleramt.


Sofern es die weltwirtschaftliche Lage dem aufgeklärten Großstädter oder seiner Verwandtschaft aus, sagen wir mal: Detmold erlaubt "gönnt man sich einen Abend". Erst kommt das Fressen (Speisen zu Preisen der gehobenen Gastronomie), und dann kommt die Moral (Unterhaltung mit Variete, Musik, Kabarett, Kleinkunst oder, wie man heute sagt: Comedy). Die Idee geht auf, im Theater zu speisen, auch während der Vorstellung an seinem Wein zu schlürfen, an Tischen zu sitzen und in der Pause - möglichst in kleiner Runde - das Programm und die anderen Zuschauer zu kommentieren. Die Vorstellungen sind üblicherweise zu gut, um sie nüchtern zu genießen.


Die Mutter beider ungewöhnlichen Kleinkunsttheater ist die Bar jeder Vernunft. 1992 gegründet, gehörte sie zur Alternativkultur. Ein Spiegelzelt, das Anfang des 20 Jahrhunderts für holländische Strandpromenaden gebaut wurde, dient als kuscheliger Vergnügungsort für rund 300 Gäste. Oft ist es ausverkauft. Heute ist die Bar in der Neuen Mitte angekommen - ohne dort wirklich hingehören zu wollen. Immerhin liegt das Durchschnittsalter der Gäste liegt deutlich unterhalb dem unseres neu-alten Bundeskabinetts - was zugegebenermaßen nicht weiter schwierig ist. Malediva, seit etlicher Zeit in der kabarettistischen Szene aktiv, fordert ihr Publikum schon mal auf, die Aschenbecher zu klauen und die Chromgarnituren der Toiletten abzuschrauben - ohne erkennbaren Erfolg. Scheinbar ist das Barvolk zu brav geworden. Kein Wunder: Biolek als Schirmherr, das 0,3-Liter-Glas Holsten für 3,50 Euro, sehen und gesehen werden - wo ginge das besser als in einem Spiegelzelt. Also doch: Willkommen in der neuen Mitte!

Berlin ist pleite - und das ist auch gut so

Die Programme laufen zwischen zwei und sechs Wochen. Oft steht die musikalische Darbietung im Vordergrund. Sie reicht von Chansons, leicht verdaulicher Philosophie, einem Wechselspiel zwischen Trash und Tiefgang über schwul-lesbische Elemente bis zu schrägem Varieté. Meist ein Gemisch aus vielem und - so weit wie es selbst sahen - immer unterhaltsam. Viele der Künstler sind mit der Bar groß geworden, so auch Georgette Dee, die Geschwister Pfister oder Otto Sander. Vereinzelt wird es auch polit-sarkastisch. Man kann lachen, wenn im aktuellen Programm Pigor & die Pigoretten "Berlin ist pleite - und das ist auch gut so" singen. Oder musikalisch "Hitler - das Parfum für den Mann" vorstellen.
Zum zehnjährigen Jubiläum der Bar wurde das größere, modernere Tipi eröffnet. Das Tipi steht auf historischem Vergnügungsboden zwischen Kanzleramt und dem Haus der Kulturen der Welt, wie die gute alte Schwangere Auster heute bedeutungsschwer heißt. Mitte des 19. Jahrhunderts endete Berlin am Brandenburger Tor nach Westen. Als ehemaligen Exerzierplatz benutzten die Städter den Ort für das Volksvergnügen. Ein Zirkus für Reitkunst und Pantomime stand dort, wo sich heute der Reichstag befindet, Kaffeelokale und Ausflugsgaststätten wurden nordwestlich in Zelten beherbergt. "In den Zelten" tanzten hier die Berliner "bis in die Puppen" - wie sie spöttisch die Denkmäler der königlichen Herrscher und Feldherren im Tiergarten nannten. Später stand hier die Kroll-Oper, zuletzt das Tempodrom.


Mit rund 550 Plätzen bietet das Tipi mehr Platz als die Bar. Acht Meter lichte Höhe lassen sogar - wie bei den Tiger Lillies - Akrobatik am Seil zu. Im Übrigen ist das Konzept ähnlich wie im Mutterhaus, vielleicht internationaler und weniger wortlastig. Ein kleines, engagiertes Team ackert an Programm und Service. Zu den Künstlern wird ein gutes Verhältnis gepflegt. Man umsorgt sie in ihren plüschigen Kabinen, auf dass sie sodann gut gelaunt und ausgeruht ihre Freude auf das Publikum übertragen. So spielt die Küchencrew schon mal am Nachmittag mit den Ten Tenors Volleyball, bevor man gemeinsam im Garten grillt. In der Sprache der Dakota, so die Homepage des Etablissements , steht "Ti" für wohnen und "Pi" für benutzen. Dieses Rezept hilft, die Qualität der Unterhaltung zu sichern. Wir jedenfalls spüren das unausgesprochene Einvernehmen zwischen Bühne und Publikum.


Tische können auch hier nur bestellt werden, wenn Champagner oder Menu für mehrere Personen geordert wird. Im Übrigen herrscht freie Platzwahl in der jeweiligen Kategorie (zwischen 18,50 und 36 Euro pro Karte). Wenn Balagan spielt, wird die Speisekarte dem Programm angepasst (Filetschnitzel Stroganoff 14,50 Euro, Borschtsch 4,50 Euro) und das Publikum trinkt polnischen Wodka (4cl. zu 7 Euro).


Geheimtips sind beide Zelte nicht mehr, wie die Anwesenheit zahlreicher Touristen schnell klar macht. Sie dürften das auch gar nicht sein, denn unsubventioniertes Theater muss sich nun einmal rechnen - in Zeiten des Kultursterbens sowieso. Dass dies möglich ist, verdanken Bar wie Tipi ihrem publikumswirksamen Programm, ihren recht hohen Eintritts- und Getränkepreisen und ihren Sponsoren.


Besonders ist das alles schon. Wir gönnen uns einen Abend kommerzieller Alternativkultur der Extraklasse. Doch die treffende Charakterisierung fällt uns auch nach zwei Flaschen Wein (der günstige für 22 Euro) nicht so recht ein. Vielleicht: Hochkultur für Leute wie uns, die nach langem Arbeitstag in der Oper einzuschlafen drohen. Kultur für uns - weil wir sie verstehen. Zwei Zelte, ein Tip.

Tipi das Zelt - Große Querallee, 10557 Berlin Tiergarten, Tel. 030-3906650
www.tipi-das-zelt.de

Bar jeder Vernunft - Schaperstr. 24, 10719 Berlin-Wilmersdorf, Tel. 030-8831582
www.bar-jeder-vernunft.de

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