Mehr als Cuba libre
Mehr als ein Jahr ist seit dem Gipfel von Rio, der Lateinamerika in der Berichterstattung der deutschen Medien so viel Aufmerksamkeit verschafft hatte, ins Land gegangen. Seit gut zwei Jahren stehen Sozialdemokraten und Bündnisgrüne auf Bundesebene in der Verantwortung und setzen neue Akzente, auch in der Lateinamerikapolitik. Es ist an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Die mentale Landkarte, die wir uns von einem Gegenstand zurecht legen, zeichnet unser Handeln im wesentlichen vor. Entsprechend werden auch Politik und Berichterstattung über den Subkontinent von unseren vorstrukturierenden Urteilen geprägt. Schon der Begriff Lateinamerika schränkt den Blick eigentlich auf die Perspektive der einstigen iberischen Eroberer und Kolonialherren Mittel- und Südamerikas ein, übergeht zum Beispiel Französisch Guyana oder englischsprachige Länder wie Jamaika und Belize. Obwohl die Bedingungen gegenseitigen Verstehens aufgrund ähnlicher kultureller Muster sehr gut sind, geht das landläufige Bild von Lateinamerika doch häufig nicht über Cuba libre, argentinische Steakhäuser und Drogenkrieg hinaus.
Das relativ schlechte, aber eben nicht immer zutreffende Image lateinamerikanischer Länder - Militärregime, Verschuldung und Korruption - ist dafür mitverantwortlich, dass deutsche Unternehmen sich zu wenig in modernen, zukunftsorientierten Bereichen auf dem Subkontinent engagieren und zurückhaltend auf die Erschließung neuer Märkte reagieren. SPD und Grünen ist daher sehr daran gelegen, dass sich die Wahrnehmung von und damit das Handeln gegenüber Lateinamerika mit seinen 500 Millionen Einwohnern und einem Bruttosozialprodukt von über 1,7 Billionen Euro 1999 ändert.
Die sich verändernde Wahrnehmung Mittel- und Südamerikas zeigt sich in der Revision des Lateinamerika-Konzeptes durch die neue Bundesregierung. Nachdem 1995 noch der gesamte Subkontinent in einem Papier abgehandelt wurde, das über Allgemeinplätze nicht hinaus kommen konnte, wurden nun Ende des Jahres 2000 fünf Regionalkonzepte vorgelegt, die den differenzierten Entwicklungen der Regionen Mercosur, Andenregion, Mexiko, Zentralamerika und Karibik gerecht werden.
In der Karibik ist es vor allem Kuba, die mit elf Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Insel der Region, der Aufmerksamkeit zukommt. Kuba war den Linken im Lande immer eine besondere Herzensangelegenheit. Galt es doch gerade nach dem Fall der Sowjetunion, eine der "letzten Bastionen des Sozialismus gegen den US-Imperialismus" zu verteidigen. Die Menschenrechtsverletzungen der kubanischen Regierung wurden bei der Lobpreisung des kubanischen Bildungs- und Gesundheitsniveaus, um das sie so mancher Amerikaner beneidet, oft geflissentlich übersehen.
Das von Egon Bahr und Willy Brandt entwickelte Konzept vom "Wandel durch Annäherung" kann nach dem Zusammenbruch des Staatskommunismus in Mittel- und Osteuropa auch auf Kuba zu einer friedlichen Umgestaltung des politischen Systems beitragen.
Anders dagegen die Politik der USA, die die kubanischen Revolutionäre einst in die Arme der Sowjetunion getrieben hatte. Die USA ziehen aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Macht mit dem Toricelli-Gesetz von 1992 und dem Helms-Burton-Gesetz von 1996 auch Drittstaaten in den Sog ihrer falschen Isolationspolitik, die nach nunmehr 40 Jahren hinsichtlich ihrer Ziele als gescheitert angesehen werden muss.
Die Industrie ist sich mit uns einig, dass das wirtschaftliche Potenzial der wichtigsten Karibikinsel besonders im Bereich Infrastruktur, das heißt Straßenbau, Eisenbahn und Tourismus nicht einfach anderen Ländern überlassen werden sollte. Jetzt schon engagieren sich Frankreich, Italien, Spanien, Kanada und Japan stark auf Kuba. Die Idee vom "Wandel durch Handel" ist aber alleine kein tragfähiges Konzept für die notwendige Demokratisierung des Landes. Ein höherer wirtschaftlicher Verflechtungsgrad mag dahingehend Einfluss haben, dass Konflikte wegen der sonst zu befürchtenden volkswirtschaftlichen Kosten friedlicher ausgetragen werden.
Dies ließe sich eventuell für die Länder der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur (Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay) nachweisen, die inzwischen alle Grenzstreitigkeiten überwunden haben und Probleme ohne den Einsatz militärischer Mittel regeln. Ein spill-over Effekt hin zur Bildung demokratischer Institutionen innerhalb eines Landes oder zwischenstaatlich ist durch die Intensivierung von Handelsbeziehungen alleine jedoch wenig wahrscheinlich.
Die Bundesregierung hat inzwischen die Frage der kubanischen Altschulden regeln können und die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba aufgenommen. Nach der Evaluierung der ersten Erfahrungen im Bereich Umwelt- und Ressourcenschutz könnte die Kooperation auf Investitionen zum Beispiel im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ausgeweitet werden. Deutschland folgt damit dem Beispiel anderer EU-Länder auf der Grundlage des im Dezember 1999 bekräftigten gemeinsamen Standpunktes gegenüber Kuba, dort den Übergang zu pluralistischer Demokratie und Marktwirtschaft zu fördern.
In der Andenregion stellen Drogen und Gewalt das größte Problem dar. Der weltweite Kokaanbau konzentriert sich zu 90 Prozent auf Peru, Kolumbien und Bolivien. Peru baut alleine fast 70 Prozent des weltweiten Kokas an; in Kolumbien werden etwa 70 Prozent davon zu Kokain raffiniert. Europa, das einen Großteil dieses Kokains importiert, hat ein genuines Interesse daran, die Region zu befrieden und eine alternative Entwicklung zu fördern.
Vielerorts bedingen sich Drogen und Gewalt gegenseitig. Von gewalttätigen Konflikten gezeichnete Gebiete finden sich jedoch auch in Gegenden, in denen keine Drogen angebaut werden. Kolumbien, das Sorgenkind der Andenregion, könnte durch den "Plan Colombia" von Präsident Pastrana in dieser Hinsicht bald besseren Zeiten entgegensehen: Sollte es gelingen, durch diesen Plan, der im wesentlichen Projekte zum Ausbau der Infrastruktur und der Zivilgesellschaft beinhaltet, in Kolumbien nach über 40 Jahren Bürgerkrieg einen Friedensprozess zu initiieren, so würde davon die gesamte Region nachhaltig profitieren. Der Beitrag der EU sollte die friedliche Konfliktlösung, alternative Entwicklung und Technische Zusammenarbeit fördern, nicht jedoch Kompensation der Auswirkungen militärischer Repression sein, die von den USA durch die Bereitstellung von Waffen unterstützt wird.
Der "Plan Colombia" bietet die Chance, dass durch den eingeleiteten Friedensprozess die Menschenrechtssituation verbessert wird. Dabei müssen die erforderlichen repressiven
Maßnahmen polizeilich, nicht militärisch sowie auf rechtsstaatlichen Grundsätzen basierend
erfolgen.
Die institutionelle Verankerung der Demokratie ist in Mittel- und Südamerika fast so vielfältig wie in Europa - sie reicht von notdürftig kaschierten Diktaturen bis zu funktionierenden Demokratien. Auch am Beispiel von Wahlen, z.B. der aktuellen in Peru und Mexiko, zeigt sich die Bandbreite der politischen Systeme Lateinamerikas deutlich. In Peru ließ sich Präsident Fujimori erfolgreich im Amt bestätigen. Nationale und internationale Organisationen, die den Wahlprozess beobachteten, stellten jedoch zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Die elementaren demokratischen Spielregeln wurden in Peru missachtet, um den Kandidaten der Opposition, Alejandro Toledo, auszuschalten. Die sich daraufhin entwickelnde Oppositionsbewegung kann sich jetzt schon als Erfolg für die politische Kultur des Landes auf die Fahnen schreiben, dass auf breiter Basis über die Demokratisierung gestritten wird. Der Rücktritt Fujimoris wäre noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen.
In Mexiko dagegen führte die sensationelle Abwahl des seit 71 Jahren regierenden Partido Revolucionario Institutional durch Vicente Fox, den Präsidentschaftskandidaten des Partido Acción Nacional nicht zu einer Krise im Lande. Auf eindrucksvolle Weise demonstrierte Mexiko die Stabilität seiner politischen Institutionen; die bestehenden inneren Spannungen und Unterschiede bleiben jedoch. Um diese abzubauen, ist zumindest eine Art Finanzausgleich zwischen dem Norden und dem Süden des Landes erforderlich. Mexiko versucht derzeit, durch eine Diversifizierung seiner (Handels-)Beziehungen ein größeres Eigengewicht innerhalb der NAFTA zu erlangen. Dies gelingt dem Land zum Beispiel durch eine intensivere Kooperation mit der EU, die durch die Inkraftsetzung des Freihandelsabkommens (seit März 2000) belebt werden wird. Auf längere Sicht könnte dies zu einem größeren Wirtschaftswachstum führen und damit eine der Voraussetzungen für einen Ausgleich der inneren Spannungen schaffen. Ohne eine wirkungsvolle Bekämpfung der Korruption und den Versuch, Zugangsrechte sowie den bereits vorhandenen Wohlstand gerechter zu verteilen, wird Präsident Fox die Konflikte jedoch kaum lösen können.
Auch in den Ländern des Mercosur stellen Verteilungskonflikte eine Gefahr für den inneren Frieden dar. Wie das europäische Beispiel zeigt, sind nachhaltige wirtschaftliche Prosperität und soziale Stabilität aufs engste miteinander verknüpft. Die "Integration der Integrierten", die zwischenzeitlich einige Dämpfer erlebt hat, muss daher über die wirtschaftliche Integration hinaus stärker politische Qualitäten entwickeln.
Die Marktorientierung in Lateinamerika bringt keine schnellen Strukturveränderungen der Wirtschaft, da die Klein- und Mittelindustrie sich sehr langsam entwickelt, das Wirtschaftswachstum insgesamt noch zu niedrig ausfällt und extrem ungleich verteilt wird. So klafft die Schere zwischen Arm und Reich z.B. in Brasilien immer weiter auseinander: mindestens 30 Prozent der Brasilianer leben unter der Armutsgrenze, das heißt sie verdienen weniger als einen Euro pro Tag. Die Mitglieder des Mercosur müssen alles daran setzen zu verhindern, dass soziale Ungleichheit und Armut weiter wachsen und breite gesellschaftliche Gruppen aus der formalen Wirtschaft und den Systemen sozialer Sicherung herausfallen.
Gefragt sind dabei auch die Europäer, die auf dem Rio-Gipfel neben dem Versprechen, die Schaffung einer Freihandelszone mit dem Mercosur rascher voranzutreiben, eben auch ein Bekenntnis zur Abstimmung in politischen Fragen und strategischen Partnerschaft abgegeben haben. Mit der Freiheit, unter Brücken zu schlafen, ist niemandem gedient, sagt ein Bonmot. Gleichheit ist darüber hinaus nötig, um der Freiheit des einzelnen die Chance zu geben, sich zu entfalten. Dies erfordert materielle und immaterielle Solidarität innerhalb der Gesellschaften des Mercosur, aber auch zwischen Europa und Lateinamerika. Die bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit ist traditionell ein Instrument, dem dieser sozialdemokratische Dreiklang zugrunde liegt. Die rot-grüne Politik legt dabei Wert darauf, dass Entwicklungszusammenarbeit heute mehr bedeutet, als Projekte finanziell zu unterstützen. Dazu gehört auch gesetzliche Maßnahmen zu treffen, um den lateinamerikanischen Ländern zum Beispiel den Zugang zu Krediten, den europäischen und weltweiten (Agrar-)Märkten und Dienstleistungen zu ermöglichen.
Der Abschluss von Handelsabkommen zwischen der EU und Mexiko bzw. dem Mercosur ist wichtig für Lateinamerika, um nicht wie beispielsweise Rußland auf die Rolle des Rohstofflieferanten reduziert zu werden. Die Diversifizierung der lateinamerikanischen Produktpalette ist eine der Voraussetzungen dafür, dass der Kontinent resistenter gegen Wirtschaftskrisen wird. Europa würde es dann zum eigenen Vorteil gereichen, wenn etwa Brasilien nicht mehr wie noch vor einigen Monaten infolge der Asien- und der Rußlandkrise in wirtschaftliche Turbulenzen geriete. Da wirtschaftliches Wachstum kein Nullsummenspiel ist, haben darüber hinaus industrielle Arbeitsplätze, die in Lateinamerika geschaffen werden, auch Arbeitsplätze und Wohlstand in Europa zur Folge. Aufgrund der komplexen Arbeitsteilung in einer in vielen Bereichen bereits globalisierten Welt, in der Produkte meist aus Zulieferbetrieben mehrerer Kontinente kommen, kann die wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika sehr positive Auswirkungen auf Europa zeitigen.
Dialog ist keine Einbahnstraße, und die hiesigen Errungenschaften sind längst nicht alle zu begrüßen. Die eurozentrische Arroganz vieler Bewohner des "alten" Kontinents, wonach nur die so genannten Entwicklungsländer von ihnen lernen könnten, ist fehl am Platze. Zynisch ließe sich natürlich anmerken, dass etwa Kuba durch Wohlstandsperversionen wie europäischem Sextourismus auf die Karibikinsel bereits eine Menge gelernt hat. Andererseits könnte das 1983 eingeführte, auf drei Säulen fußende Rentensystem Chiles den bundesdeutschen Reformbemühungen wichtige Anregungen geben. Die auf dem Rio-Gipfel vereinbarte strategische Partnerschaft erfordert nicht nur gemeinsame Werte und kulturelle Wurzeln, die die Menschen beider Kontinente schon verbinden. Auch die Artikulation gemeinsamer Interessen gehört dazu und vor allem eine beständige dialogbereite Zusammenarbeit, um diese Interessen partnerschaftlich zu verwirklichen. Die Politik hat dabei nur ihre begrenzten Möglichkeiten wie Wirtschafts- und Entwicklungshilfe, Sanktionen, Beratung, Symbolik oder die Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen. Die rot-grüne Bundespolitik hat diese Möglichkeiten ausgiebig und erfolgreich genutzt. Sie hat ihren Teil in den letzten beiden Jahren dazu beigetragen, dass die Wahrnehmung von bzw. die Beziehungen zu Lateinamerika in der Berliner Republik nachhaltig verändert wurden und werden.