Nachbarschaft in flexiblen Zeiten
I m besten Fall ist Nachbarschaft von gegenseitiger Unterstützung und Toleranz geprägt. Das gilt im zwischenstaatlichen Kontext – für die Nachbarschaft zwischen Staaten – ebenso wie im konkreten Lebensumfeld: im Mietshaus, in der Straße, im Viertel. Aber welche Rolle spielt die Nachbarschaft vor Ort in einer immer flexibleren, mobileren und zunehmend individualisierten Gesellschaft? Vor unseren Augen verkleinert sich die Welt scheinbar, etwa aufgrund der immer schnelleren Reisegeschwindigkeiten und weltumspannender Kommunikation. Zugleich fragmentiert sich unser Lebensraum: hier der Arbeitsort, dort der Wohnort der Partnerin, anderswo Freunde und Eltern. Multilokale Lebensweisen entstehen.
Innerhalb der Städte und in deren Umland haben sich „Funktionsinseln“ herausgebildet: Die Menschen arbeiten in der Innenstadt, wohnen am Stadtrand – und fahren zum Einkaufen auf die grüne Wiese. Die Städte ufern ins Umland aus. Daraus resultieren gesichtslose „Zwischenstädte“ ohne historischen Kern. So wächst die Entfernung zwischen Arbeits- und Lebensorten weiter. Mobilität wird immer wichtiger. In einem solchen Mosaik getrennter Lebenswelten sinken tendenziell auch die individuellen Bindungen an die jeweiligen Orte, und damit lässt auch die Bereitschaft nach, diese Orte mitzugestalten. Zudem entstehen Kontakte immer häufiger ortsunabhängig – und das heißt auch, sie werden zunehmend selbst gewählt. Bedeutet der Gewinn an Ferne also einen Verlust an Nähe?
Historisch war die dörfliche Nachbarschaft keinesfalls eine pure Idylle, sondern eine zweischneidige Angelegenheit: Einerseits vermittelte die Nachbarschaft ein Gefühl von Zugehörigkeit, andererseits war sie geprägt von sozialen und materiellen Zwängen der familiären und dörflichen Gemeinschaft. Von zugezogenen Fremden grenzte man sich ab. Die Städte hingegen versprachen Emanzipation, die Befreiung von diesen Zwängen. Noch heute gilt: Städte bieten Raum für Individualität, für das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe. Die Voraussetzung dafür, dass diese Vielfalt trotz großer physischer Nähe funktioniert, ist Distanziertheit und Gleichgültigkeit, wie der Stadtsoziologe Georg Simmel Ende des 19. Jahrhunderts zeigte. Somit führte die Urbanisierung zum Verlust gemeinschaftlicher Sozialformen und zu mehr Individualität. Gleichzeitig bildeten sich in den Städten quasi-dörfliche Gemeinschaften mit engen Sozialbeziehungen heraus – urban villages –, besonders in den Quartieren der Einwanderer.
Auch im 21. Jahrhundert spielt die Nachbarschaft eine wichtige Rolle. Aber sie wird unter den Bedingungen der Globalisierung sowie des technologischen, wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Wandels zum Teil neu definiert. Wie die amerikanische Stadtsoziologin Saskia Sassen zeigt, funktioniert die globalisierte Wirtschaft keineswegs ortsunabhängig. Im Gegenteil konzentrieren sich die Zentralen der internationalen Konzerne in den global cities. Dadurch verschärfen sich regionale Ungleichgewichte, zugleich nehmen auch innerhalb dieser Städte die sozialen Differenzen zwischen den Modernisierungsgewinnern und -verlierern zu. Im Wettbewerb der Städte untereinander wird das städtische Umfeld, die Infrastruktur und die urbane Kultur auf ihre Qualität als Standortfaktor reduziert, auf die Attraktivität für die Firmensitze großer Unternehmen und ihre hochqualifizierten Arbeitskräfte. Zumal wenn die öffentlichen Haushalte klamm sind, besteht die Gefahr, dass sich Stadtpolitik einseitig auf diese Stärken konzentriert – zulasten der weniger gewinnträchtigen Stadtteile.
Arme Nachbarschaften verarmen ihre Bewohner
Dabei sind vor allem auch Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen weniger mobil sind – Kinder, Ältere, Einkommensschwache, Langzeitarbeitslose – auf ihr unmittelbares Lebensumfeld angewiesen. Ihnen fehlen schlicht die finanziellen Mittel, um an der mobilen Gesellschaft teilzuhaben, oft haben sie keinen Zugang zu sozialen Netzwerken außerhalb des eigenen Ortes. Soziale Ausgrenzung hat viele Dimensionen, eine entscheidende ist die fehlende Teilhabe am Arbeitsleben. Soziale Ausgrenzung hat aber auch eine räumliche Dimension. Armut und Arbeitslosigkeit konzentrieren sich in bestimmten Vierteln. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum Teil schränken überlaufende Wohnungsmärkte die Wahlmöglichkeiten ein; zum Teil treffen Leute freiwillig die Entscheidung, in ein Viertel zu ziehen, etwa wenn Einwanderer mit Menschen gleicher Herkunft zusammenleben möchten; zum Teil ziehen Besserverdienende aus diesen Vierteln weg. So können „bedrohte Nachbarschaften“ entstehen, die ihrerseits zur sozialen Ausgrenzung beitragen. „Subkulturen der Armen, die aus räumlicher Nähe erwachsen, können helfen, die Lebenssituation zu ertragen, es aber auch erschweren, sie zu überwinden“, beschreibt der Berliner Sozialforscher Martin Kronauer diesen Effekt. Konzentrieren sich die sozialen Kontakte eines Menschen zu sehr auf Personen in ähnlicher Lage, ist er möglicherweise von bestimmten Informationen abgeschlossen. Auch sind die Möglichkeiten gegenseitiger materieller Hilfe beschränkt. Anders gesagt: Arme Nachbarschaften können ihre Bewohner ärmer machen.
Diese Veränderungsprozesse werden dadurch verstärkt, dass innenstadtnahes Wohnen beliebter wird. Längere Bildungsphasen, häufigere Partnerwechsel und aufgeschobene (oder aufgehobene) Familiengründung führen dazu, dass immer mehr Menschen immer länger in den Innenstädten leben, selbst nachdem sie Eltern geworden sind. Vor allem auch unter gut gebildeten Partnern, die beide berufstätig sind, verliert das Einfamilienhaus im Umland an Attraktivität – in den Städten finden sie nicht nur bessere Erwerbsmöglichkeiten, sondern auch eine umfassendere Infrastruktur, nicht zuletzt für die Kinderbetreuung.
Auch der strukturelle Wandel der Wirtschaft hin zu einer Dienstleistungs- und Wissensökonomie stärkt innerstädtische Quartiere als Arbeits-, Wohn- und Lebensstandort. Diese Quartiere bieten besonders den kreativen Milieus eine Vielfalt an Dienstleistungsangeboten, kulturellen Attraktionen und sozialen Netzwerken. Häufig leben in jenen Vierteln, in denen die „Alternativkultur“ in Hinterhöfen und alten Fabrikgebäuden ihre Nischen gefunden hat, auch viele Einwanderer. „Diese Orte werden zunehmend in ihrer kulturellen Vielfalt ökonomisiert, es ziehen Journalisten, Architekten, Kulturmakler und -manager und neuerdings ‚Neue Medien‘-Leute zu. In die Ladenlokale und … Büroetagen ziehen junge Unternehmer des Softwaredesign, der Homepagegestaltung, der Portalbetreiber, der Internethändler und vor allem der Multimediakünstler.“ So beschreibt der Wiener Stadtsoziologe Jens Dangschat die ökonomische Auf- und kulturelle Umwertung, kurz: den Prozess der Gentrifizierung. Gerade in diesen Quartieren wollen die Bewohner ihre Umgebung mitgestalten und leisten Widerstand gegen städtebauliche Planungen, wie im Fall der Mediaspree in Berlin oder beim Verkauf des Gängeviertels in Hamburg.
Vor allem in den Innenstädten gewinnen neue Formen selbst gewählter Nachbarschaften an Bedeutung. Die Bandbreite reicht von privaten Baugemeinschaften mit sozial-ökologischem Anspruch, die gemeinsam ein Haus planen und bauen, über Genossenschaften bis hin zu ganzen Stadtvierteln wie Freiburg-Vauban, die von Bürgern neu entwickelt werden. Wohnprojekte oder Baugruppen junger Familien mit Kindern sind vom Selbsthilfegedanken getragen und setzen bewusst auf gegenseitige Unterstützung im Alltag. Auch unter dem Druck des Wohnungsmarktes, der in den Innenstadtbezirken immer weniger bezahlbare Wohnungen für Familien bietet, erleben Baugruppen einen Boom. Das Wohnen in der Stadt erlebt aber auch unter anderen Vorzeichen eine Renaissance: Große Immobilienkonzerne bieten „Themenwohnen“ für einzelne Zielgruppen an – wahlweise für Familien mit Kindern oder Kinderlose, Junge oder Alte. Diese exklusiven Wohnkomplexe wirken wie gated communities – die gebaute Distinktion. So unterschiedlich all diese selbstgewählten Nachbarschaften sind, darin leben überwiegend Menschen mit ähnlichen Werten und Lebensstilen. Sie können Ausgangspunkt sein für bürgerschaftliches Engagement in der Straße oder im Viertel.
Kurzum, Nachbarschaft birgt Konfliktpotenzial, sie kann zu einer „schlechten Adresse“ werden, die Lebenschancen beeinträchtigt. Andererseits bietet Nachbarschaft Chancen als Ort der Integration und des selbstbestimmten Miteinanders. Es ist eine Herausforderung für die Stadtpolitik, angesichts der zunehmenden sozialen Spaltung der Städte Problem-Quartiere nicht aufzugeben, sondern gerade hier Selbsthilfe und Organisationspotenziale zu stärken. Es gibt vielversprechende Ansatzpunkte, zum Beispiel wenn Wohnprojekte Verantwortung für ihren Stadtteil übernehmen und Anker für eine positive Entwicklung werden. Diese Initiativen brauchen Unterstützung, damit sie nicht nur Besserverdienenden vorbehalten sind – etwa durch den Vorrang bei der Vergabe städtischer Grundstücke. Der Verkauf von Liegenschaften an den Meistbietenden mag den Kämmerer freuen, im Sinne einer sozial ausgewogenen Stadtentwicklung muss manchmal anders entschieden werden.
Das Comeback der Genossenschaft
Die komplexen Prozesse des Auf- und Abstiegs ganzer Stadtteile und der Verdrängung von einkommensschwachen Gruppen aus den Trendstadtteilen verlangen nach einer aktiven Wohnungspolitik. Waren bis vor wenigen Jahren Verkäufe kommunaler Anteile an Wohnungsunternehmen ein probates Mittel zur Haushaltssanierung, so wird gegenwärtig viel über Rekommunalisierung diskutiert. Die Kommunen haben begriffen, wie wichtig eigene und genossenschaftliche Wohnungsunternehmen für die soziale Balance in den Stadtteilen sind. Das Jahr 2012 als Internationales Jahr der Genossenschaften bietet die Chance, diesen Gedanken wieder voranzubringen: Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung erleben nicht nur beim Wohnen, sondern auch bei Nachbarschaftsläden und Energiegenossenschaften einen begrüßenswerten Aufschwung.
Somit deutet einiges darauf hin, dass die Nachbarschaft gerade in einer mobileren, flexibleren Welt wiederentdeckt wird als Ort der Selbstorganisation und der gesellschaftlichen Teilhabe. Voraussetzung dafür, das nicht nur wenige gut gebildete mit höherem Einkommen und Einzelinteressen davon profitieren, ist allerdings, dass sich die Spaltung der Städte nicht weiter verschärft, dass nicht ganze Stadtteile aufgegeben und dem Verfall preisgegeben werden.
Leider hat die schwarz-gelbe Bundesregierung die Städtebauförderung, besonders das Programm „Soziale Stadt“ massiv gekürzt. Und die Zukunft der Mittel, die der Bund für die soziale Wohnraumförderung an die Länder zahlt, ist ungewiss. Offenbar fehlt der amtierenden Regierung das Verständnis für das enge Wechselverhältnis räumlicher und sozialer Entwicklungen sowie die Bedeutung gut funktionierender Nachbarschaften für den sozialen Zusammenhalt.