Nachtleben: Im zahmen Westen

Im zahmen Westen

Kreuzberger Nächte sind lang ... -weilig, würde manch übellauniger Neu-Ost-Berliner anfügen. Und hätte damit noch nicht einmal ganz Unrecht. Im Gegensatz zu den quirligen, aufstrebenden Techno-Lofts, die an dieser Stelle bereits vorgestellt wurden, ist der Graefekiez die Prosecco-WG unter den Kneipenkiezen. Etwas gesetzter, ruhiger, aber dafür weiß man, was man hat. Es besteht nicht die Gefahr, dass die neue Lieblingskneipe nach einigen Wochen auf dem umkämpften "Was-ist-die-hippste-Kneipe"-Markt wieder dichtgemacht hat. Von alter Revolutionsromantik ist nicht mehr viel zu spüren, die wenigen Graffiti ("Fischer zu Stäbchen") können nicht darüber hinwegtäuschen: Wer hier ausgeht, hat zweimal mit derselben gepennt und gehört schon zum Establishment.

Nichtsdestotrotz gab es ernsthaft Bestrebungen, Neu-Ost-Berliner von der stillen Schönheit des Kreuzberger Kiezes zwischen Landwehrkanal im Norden und Urbanstraße im Süden zu überzeugen. Der Graefekiez wird zur Zeit öffentlichkeitswirksam vermarktet: Der Gewerbeleerstand soll behoben werden, man hofft, die ruhige Wohngegend in der Nähe von Landwehrkanal und Volkspark Hasenheide mit kleinen Läden zu beleben: von A wie An- und Verkauf (Trödelläden mit zuweilen erstaunlichem Fundus an guten und schlechten Geschenkideen) über L wie Lakritz (und sonstige Verköstigungsmöglichkeiten verschiedenster Nationalität) bis W wie Weinläden (die in schnuffligen Gewölbekellern beheimatet sind). Eine besondere Aktion ist die Kunst- und Kulturmeile Graefekiez, die den vor Ort ansässigen Künstlern die Möglichkeit eröffnet, ihre Projekte in den Cafe-Kneipen und kleinen Läden auszustellen.

Der Kulturwandel geht auch am Graefekiez nicht vorbei: Die alten Kreuzberger Eckkneipen mit Buletten, Pferdefleischgerichten und Wolfgang-Petry-Abenden werden weniger. Stattdessen übernehmen türkische Kulturvereine die Altberliner Kneipen mit ihren Butzenscheiben, fügen der im Ursprung belassenen Inneneinrichtung ein paar Plastikstühle und etwas Neonlicht hinzu - und schon kann der männliche Teil der Leserschaft sich in diesen neuen türkischen Teestuben ( z.B. Altberliner Gaststube Graefeeck) vergnügen.

Es lohnt sich allemal, den Abend etwas früher zu beginnen und sich in einem von zwei kulinarischen Geheimtips den Gaumen kitzeln zu lassen. Am Planufer Ecke Grimmstraße findet sich die Trattoria/Pizzeria il Casolare, die im Sommer zudem mit einem gemütlichen Biergarten lockt. Die Speisenauswahl ist eher schlicht; neben den Standard-Pizzen (11-14 Mark) kann nur aus wenigen, täglich wechselnden Gerichten gewählt werden. Das Pizzaerlebnis steht - nahezu suchterzeugend - dennoch im Vordergrund, so dass der obligatorische Tagesspiegel-Verkäufer italienische Arien schmettert, um die Aufmerksamkeit der Pizza-Autisten auf sich zu lenken. Tisch reservieren!

Wer die griechische Küche nur schätzt, um hin und wieder einen körpersympatischen Ölwechsel durchzuführen, dürfte von der Taverna Babis enttäuscht sein. In den vier sehr schönen, hohen Räumen mit Stuck und allem, was zur Wohnzimmeratmosphäre dazugehört, lässt sich eine schöne alternative zum italienisch-chinesischen Einheits-Essengehen finden. Reichhaltigkeit und "Nouvelle GreCuisine" stehen bei den beiden Tagesmenüs zwischen 17 Mark (drei Gänge) und 22 Mark (vier Gänge) im Vordergrund. Zu später Stunde setzt sich manchmal auch ein Gast an das Klavier, und träumend kann bei Ouzo und Kerzenlicht der weitere Abend geplant werden.

Den Startpunkt unseres heutigen Kneipenrundgangs bildete das Mexikoetablissement Pow-Wow. Die Speisekarte erklärt den Pow-Wow als indianisches Tanzritual mit Gesang und Trommelmusik. Jedoch scheint beim Transfer nach Deutschland von der Tanzfreude einiges verloren gegangen zu sein. Das Publikum, bestehend aus zu Bürgern gewordenen Altrockern zwischen 25 und 40, nutzt die unauffällig dahinplätschernde Musik zu entspannter Unterhaltung, Billard, Bier und Essen. Die Speisekarte ist für eine Kneipe recht abwechslungsreich: Burger, Salate und viele vegetarische Gerichte (zwischen 10 und 22 Mark). Die Deko schwankt zwischen Stahltresen, mexikanischer Traditionspflege und kitschiger Plastikrosenromantik. Wenn man sonst nicht viel vor hat, ist das Pow Wow eine unkomplizierte Abwechslung für viele Geschmäcker im Stile eines gepflegten Ausgeflippt-Seins, ruhig in Lautstärke und Aufmachung.

Noch ruhiger kann man gegenüber im Rizz sein Bier trinken. In der nüchternen Atmosphäre aus Backstein, hohen Decken und dunklem Holz geben sich zuweilen Siedler-Spieler öffentlich ihrer Leidenschaft hin. Hinsichtlich der Preise und des Publikums ist das revolutionäre Kreuzberg hier am deutlichsten in der Neuen Mitte angekommen. Man fühlt sich wohl, wenn man ein Sachbuch liest oder mit intellektuellen Freunden neben dem Billardtisch eine Existentialismus-Debatte führen will. Der klassische Kneipengänger hingegen sieht sich in den abendlichen Vorruhestand versetzt oder macht sich weiter auf die Suche nach dem Mythos Kreuzberg.

Ein paar Schritte weiter leuchtet im Souterrain (typisch) die Dildile. Man steigt die paar Stufen hinab und kann sich schnell in heller und warmer Umgebung lockern. Ein Bücherregal und ausreichend viele Berliner Tageszeitungen laden zum Lesen. Neben kleinen Messingtischen bieten im vorderen Raum zwei größere Polsterecken auch Platz zum Liegen. Im hinteren Bereich bollert ein kleiner Kohleofen, und unaufdringlich leise flüstert die Musik. Diese Umgebung und die für das kleine Etablissement umfangreiche Weinkarte (5,50 - 7,50 Mark/Glas; 25 - 50 Mark/Flasche) regen zum Gespräch an. Hier gehst Du mit Deinem Partner für das nächste Beziehungsgespräch hin oder löst eine der philosophisch-bierseeligen Fragen der letzten Woche. Sollte zuhause der Fernseher ausgefallen sein, können die Gespräche an den Nachbartischen vor den schlimmsten Soap-Entzugserscheinungen bewahren ("Letztens auf dem Ökomarkt ..."). Wir wurden ausgesprochen freundlich bedient. Bei kleinen Aufmerksamkeiten (Erdnüsse am Tisch, Tampons auf dem Damenklo) und moderaten Preisen bleibt man gerne länger.

Wird man zwischendurch von dem kleinen Hunger überfallen, wartet das Graefekiez mit einer abwechslungsreichen Schnellimbissdichte auf. Auf dem Kottbusser Damm gibt es preiswertes Sushi (Musashi), in der Boppstraße den Imren Grill, einen ausgefallenen Döner, der nach Weihnachten schmeckt, in der Graefestraße zwei schnelle Chinesen und schweres Gyros bei O. Kostas mit richtigem Fleisch.

Spät am Abend geraten wir ahnungslos noch ins TRIEBwerk. Türgucker und Stahlbleche wecken das Interesse. Drinnen wird schnell klar: Der Laden ist dem Besonderen im schwulen Leben vorbehalten. Im vorderen Raum bietet eine kleine Bar das Übliche zu west-berliner Preisen ("Köstritzer Schwanzbier": 6 Mark). Der zweite Raum wird dunkler, dort stehen viele schwarze Ledersofas und es läuft ein kleiner Fernseher zur Animation (Polizeifilme!). Auf der Suche nach der Toilette verirren wir uns im Keller, dessen verschachtelte und dunkel verhangene Räume lediglich durch ein paar Grablichter beschummert werden. Später wird uns erklärt, dass mit den orthopädischen Hilfsmitteln (Sling, Andreaskreuze, Ketten) bestimmte Positionen einfacher zu halten sind. Durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit soll ein gewisser Gehorsam den Lustgewinn mechanisch implizieren. - Wer drauf steht, probiert es aus. Freitags: naked oder underwear Sex - Dienstags: Trieb Sex - Montags: 2 for 1 - sonst: GayBar.

Musashi - Japan Imbiss, Kottbusser Damm 102, Tel. 693 20 42
Imren Grill - Dönerladen, Boppstraße 4
O. Kostas - Griechischer Grill, Graefestraße 8, Tel. 69 04 19 59
Altberliner Gaststube Graefeeck - Türkische Teestube, Urbanstraße 125
Dildile - Cafe und Weinkneipe, Dieffenbachstraße 62, Tel. 693 03 69
TRIEBwerk - GayBar, Urbanstraße 64,
Tel. 695 05 03
Pow Wow - Essen und Trinken - Dieffenbachstraße 11/Ecke Grimmstraße, Tel. 694 56 06
Rizz - Cafe und Kneipe, Grimmstraße 6/Ecke Dieffenbachstraße, Tel. 694 21 83
Taverna Babis - Griechisches Restaurant, Graefestraße 83/Ecke Böckhstraße, Tel. 691 55 64
Trattoria il Casolare - Italienisches Restaurant, Grimmstraße 30/Ecke Planufer, Tel.: 69 50 66 10

Infos zum Grafekiez gibt′s auch online unter www.graefe-kiez.de
U-Bahnanschluss: U1 Kottbusser Tor, U8 Schönleinstraße, U7 Südstern.
Nachtlinien: N19 und N8

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