Nachtleben...Der einsame Planet empfiehlt die dicke Wirtin
Zum Start geht es erst einmal in die "Bar" Obst und Gemüse. Dort soll es "pretty hip and popular" zugehen. Uns wurde das bereits Anfang der neunziger Jahre von Einheimischen erzählt, und so scheint eine Wiederentdeckung durchaus angebracht. Sichtlich erschöpft, vielleicht von langen Fußmärschen, wechselt eine müde kleine Gruppe in der Ecke ein paar Worte auf Englisch. Drum & Bass übertönt ihr Gespräch. Über der Theke prangt das Motto "Self service", welches das deutschsprachigen Publikum an den Biertischen draußen rege beherzigt. Die Englischsprecher sitzen vor leeren Gläsern. Wortlos schauen sie auf einen Berlin-Stadtplan.
Wir suchen was Typisches. Unweit liegt die Bärenschänke, deren lokale Spezialitäten unser Führer an preist. An einer langen Bar, heißt es noch, werde hier bei einem Bier mit Berlinern geplaudert. Und tatsächlich: Kaum angekommen, erleben wir, wie einer Busladung Koreaner Molle und Eisbein mit Sauerkraut serviert (12,50 Mark) wird. Drei Berliner sitzen an der Theke. Bereitwillig fotografiert einer die Koreaner mit Eisbein. Dabei singt er. "Sozialhilfe wird erst wieder am 15. ausgezahlt", sagt die Wirtin. Zwei Italiener bestellen Bratwurst. Für uns gibt es das billigste Bier des Abends (0,4 Liter Hohenthanner Pils zu 3,10 Mark).
Skandinavier kommen und trinken viel
Kreuzberg bleibt als Abstecher eher unspektakulär. Der "cult place" heißt Golgatha, einer von zwei empfohlenen "Beer Gardens", wo "pallid Berliners reacquaint themselves with the sun". Am Eingang wird "vollständige Videoüberwachung" zugesagt. Im Fall des Morgenstern sagt unser Führer lange Gespräche an sonderbaren Designertischen voraus. Hier fühlen wir uns wohl. "Skandinavier kommen und trinken viel", sagt die Bedienung. Doch wir machen keine ausländische Bekanntschaft. "Hier ist′s nur gut fürs Frühstück", sagen Einheimische (Samstags, sonntags & feiertags für 16,50 Mark).
Weil eine "balmy summer night" ist, folgen wir der Aufforderung und gehen, weil es dort "best" sein soll, zum Café am Neuen See. Gut 500 Plätze sind besetzt. Der Service sei "pretty slow", heißt es, doch habe man so genug Zeit, Leute zu beobachten und einen Blick über den See zu werfen. Wir stellen fest: Es herrscht Selbstbedienung. Ein Bier-Supermarkt mit langen Schlangen vor dem Tresen und kurzen vor den Kassen. Dann ist der Gast wieder der Platzsuche ausgeliefert. Immerhin ist die Pizza extrem groß (14,50 Mark).
Wir fahren weiter nach Westen, in Richtung Savignyplatz. Hier möchten wir eine Berliner Kneipe mit ihrer ganz eigenen "tradition of hospitality, beer, humor und Schlagfertigkeit (quick-wittedness)" kennenlernen. In der Dicken Wirtin servieren ein dicker und ein hagerer Wirt. Im Hinterzimmer lauschen zwei Dutzend Norweger mittleren Alters andächtig ihrem Reiseleiter und warten darauf, einen Jägermeister kippen zu dürfen. Drei haben sich abgesetzt und trinken kauderwelschend mit zwei Deutschen, die eine Suppe (täglich 4 von über 30; alle unter 6 Mark) empfehlen. Auch hier wird ein Foto gemacht. Der Reiseleiter kommt an die Theke und bestellt mehr Bier. Auch hier sitzen an der Bar drei Stammgäste. Zwei unterhalten sich miteinander. Als wir gehen, hören die Norweger im Hinterzimmer noch immer ihrem Reiseleiter zu. Nur die Jägermeistergläser sind jetzt leer.
Wir suchen etwas Anspruchsvolles - das "preferred watering hole of academics and the more cultured of Berlin expat Russians". Vor der Tür des Café Hegel zentriert sich eine Runde, Durchschnittsalter etwa 45 Jahre, aus der deutsche und russische Wortfetzen heraussprudeln. Es wird ernsthaft gesoffen. Am Rande sitzen einige Pärchen, die sich nicht alle auf Deutsch unterhalten. Als Lutschinka, eine gestandene Wirtin mit knallrot gefärbten Haar ihre Großmutterwerdung verkündet, vereinen sich Westberliner Kunst- und Russenschickeria an der Bar. Es gibt Wodka. "Alle meine russischen Groupie-Girls sind studiert", sagt Lutschinka. Ein Armenier spielt Klavier. Man singt, erst auf Russisch, dann auf Englisch. Shanties. Harmonisch steigt drinnen die Party. Draußen drehen die Touristen wohlwollend die Stühle in Richtung Fenster. Irgendwie sind sie dabei.
Busse voll italienischer Schulklassen
Ein "Club" will noch besichtigt sein. Wir haben die Wahl zwischen Tresor, Delicious Doughnuts, SO 36, KitKat und "around the Ku′damm - generally more mainstream" - dem Big Eden. Das ist, laut Eigenwerbung, die "größte Disko am Kurfür-stendamm", kommt also zum Schluss. Es ist zwei Uhr und die "German high-school kids" sind offensichtlich "disappeared with the last U-Bahn train". Mit seinen 16 Besuchern wirkt das Big Eden eher leer. Zwei junge Berliner Pärchen haben ein befreundetes italienisches Paar mitgebracht. Trotz professioneller Animation an zwei Stahlstangen haben sie keine Lust auf Tanzen: "Zu wenig los hier." Biggi ist die Barchefin. Sie kümmert sich liebevoll um zwei Stammgäste und bedauert, dass wir nicht am Wochenende recherchieren. Auch DJ Luis gehört zum Inventar. Er erzählt von Bussen voll dänischer und italienischer Schulklassen und der Disko-Sozialisation im Big Eden ganz allgemein: "Mit 15 kommen sie alle, mit 18 sind sie weg". Nur Harry bleibt. Er ist Stammgast. Und 36.
Froh, nicht selbst auf einen Reiseführer angewiesen zu sein, trinken wir ein letztes Bier am Zoo. And disappear with the first U-Bahn train.
· Lonely Planet: Western Europe, 5. Auflage 2001, Lonely Planet Publications Ltd., Victoria, Australia. 1200 Seiten, 59,80 Mark
MORGENLAND - "Pub"
Skalitzer Str. 35
Kreuzberg 36
GOLGATHA - "Beer Garden"
Dudenstr. 48-64
Kreuzberg 61
BIG EDEN - "Club"
Kurfürstendamm 202
Wilmersdorf
HEGEL - "Pub"
Savignyplatz 2
Charlottenburg
DICKE WIRTIN - "Berliner Kneipe"
Carmerstr. 9
Charlottenburg
CAFÉ AM NEUEN SEE - "Café"
Lichtensteinallee 1
Tiergarten
BÄRENSCHÄNKE - "Local Specialities"
Friedrichstr. 124
Mitte
OBST UND GEMÜSE - "Bar"
Oranienburger Str. 48
Mitte