Nehmt mich auf in die Gemeinschaft!

Was passiert, wenn Menschen versuchen, aus utopischen Entwürfen ein richtiges, ein gutes, ein authentisches Leben zu machen. Ein Sammelband zählt die Opfer

Selbstverantwortung an das Regelwerk einer Gemeinschaft zu delegieren, die Harmonie mit innerer und äußerer Natur wiederzufinden, die schmerzhaften Grenzen des Ich zu überwinden und sich im symbiotischen Zusammenschluss mit Gleichgesinnten gegen den Relativismus der "Welt da draußen" zu wappnen: All das sind Motive utopischen Handelns, die dem Leser immer wieder begegnen, wenn er in den Beiträgen der Anthologie Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe blättert. Die geistigen Mütter und Väter utopischer Gesellschaftsmodelle verwenden zwar viel Raum auf Fragen der Güterverteilung oder des Besitzanspruches, des Geldverkehrs oder der Regierungsform. In Wahrheit aber versuchen all diese Entwürfe die Frage nach dem richtigen, dem guten, dem authentischen Leben zu beantworten.

Vordergründig schien es etwa den von Karl Marx und Friedrich Engels so genannten "utopischen Sozialisten" Robert Owen oder Giovanni Rossi, auch dem Kommunarden Heinrich Vogeler in Worpswede um die Organisation einer herrschaftsfreien, unhierarchischen Gesellschaft zu gehen, in der das Postulat der "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" endlich Realität wird. Dahinter aber spürt man geradezu die "seinssprengende Kraft" (Karl Mannheim), das Begehren, die Sehnsucht. Wonach?

Ein Kapitel des Buches widmet sich der Utopie der Klöster, ein anderes den amerikanischen Täufergemeinden. Was haben beide gemeinsam? Anders gefragt: Was rechtfertigt für so verschiedenartige Phänomene wie den Freistaat Christiania in Kopenhagen, die Kommunen der Lebensreformbewegung oder den summer of love der Hippies in San Francisco die Verwendung des gleichen Begriffs, nämlich den der "Utopie"? Gibt es zwischen diesen unterschiedlichen Phänomenen überhaupt eine Gemeinsamkeit, die es rechtfertigt, sie alle in einem Band zu versammeln?

Das schwer Verständliche zieht uns hinan

Das Buch gibt keine bündige Antwort. Der Leser wird mit den Beiträgen über Landkommunen, Tauschbörsen oder Kibbuze allein gelassen. Das hat sicher mit der Struktur zu tun, aus der die Sammlung entstanden ist: Grundlage war eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks. Zum Problem wird der Gemischtwarenladen, wenn der Leser nicht nur die Produkte der bunten Welt "alternativer Lebensentwürfe" konsumieren will, sondern sich Unterstützung in der kritischen Auseinandersetzung mit dem erhofft, was man noch vor zwanzig Jahren die "herrschenden Verhältnisse" nannte. Das sucht man in den Aufsätzen vergebens, was allerdings kein Fehler sein muss. Im Gegenteil: Es hat Folgerichtigkeit. Denn nicht nur unser Verhältnis zum Utopischen hat sich verändert, sondern auch die Lesegewohnheiten: Was sich dem vordergründigen Verständnis entzieht, stachelt möglicherweise unsere Begierde an.

Und nun sind wir empört

Wer die Schwelle zum Kloster überschreitet, betritt eine andere Welt. Aber wie in einer magischen Verwandlung wird auch er selbst zu einem anderen. Er unterwirft sich einem Diktat. Individuelle Ansprüche opfert er dem Kollektiv. Dessen Regelwerk legitimiert sich im Falle des Klosters durch eine göttliche Macht, und aus diesem Grund weckt die Osmose in uns keinen Argwohn. Im Falle der Kommune des Wiener "Aktionsanalytikers" Otto Mühl legitimiert die Person des spirituellen Führers Hierarchie, Verhaltenskodex und gegenseitige Bespitzelung - und nun sind wir empört. Die Selbstermächtigung eines Freizeittherapeuten, eines tabubrechenden Aktionskünstlers verletzt unseren kritischen Sinn und erinnert zu deutlich an den Personenkult des Faschismus. Ein selbsternannter Guru ist als Transzendenz nicht glaubhaft, nicht akzeptabel. Schade eigentlich. Denn was den Menschen in die Oasen verwirklichter Utopien treibt, ob sie nun Christiania heißen oder Monte Verità, Lancaster County oder Height-Ashbury, das ist eben jenes Bedürfnis nach Transzendenz, die Sehnsucht nach Geborgenheit unter dem schützenden Baldachin einer übergeordneten Macht, die in den Zeiten des Niedergangs christlicher Religiosität immer schwerer zu haben ist. Es ist die Sehnsucht nach einem vorbewussten Zustand, in dem, um mit Gottfried Benn zu sprechen, "die Dinge fest auf ihrem Platze" stehen.

Vielerlei Wahrheiten, also keine Wahrheit

Hundert Jahre zuvor schon schrieb Kleist, nachdem er Kant gelesen hatte: "Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört." Wenn die Dinge nicht mehr "fest auf ihrem Platze" stehen und es - nach Nietzsche - "vielerlei Augen, also vielerlei Wahrheiten, also keine Wahrheit gibt", dann führt das zu einem Relativismus, den der Mensch als Befreiung erleben mag - oder als totale Überforderung.

"Nehmt mich auf in die Gemeinschaft!" ruft Benns junger Arzt Rönne, dem über die Selbstreflexion, die immer auch Selbstentzweiung bedeutet, jede Verhaltenssicherheit abhanden gekommen ist. Von der Gemein-schaft, von der Geborgenheit, die das Kollektiv spendet, erhofft sich Rönne eine Art Transzendenz. Er will aufgehoben sein in der Gemeinschaft - und es ist nützlich, sich den doppelten Sinn des Wortes "aufgehoben" deutlich zu machen. Benn selbst ging 1933 in der Gemeinschaft der NS-Gläubigen auf, und das ist kein Zufall, denn das utopische Bedürfnis ist immer auch ein Bedürfnis nach Totalität - eines Menschen-, Lebens- oder Weltentwurfs.

Das betonen auch die Herausgeber in ihrem Vorwort, indem sie auf den berühmten Utopieentwurf Platons verweisen. In dessen Idealstaat ist "der Freunde Besitz ... ein gemeinsamer". Nicht nur Frauen, Kinder und Geldbesitz sollen danach gemeinsam sein, sondern das "Natur Eigene", so dass "Augen und Ohren und Hände gemeinsam zu sehen scheinen und zu hören und zu schaffen, und dass auch alle insgesamt soviel wie möglich gemeinsam loben und tadeln, indem dasselbe ihnen Freude macht und Verdruß erregt". Eine positive Utopie? Immerhin, wenn alle gleich denken und empfinden, kurz gesagt, identisch sind, werden sie sich nicht bekriegen, nicht übervorteilen, es wird weder Neid noch Eifersucht noch Besitzstreben geben.

Etwas in dieser Art schwebte auch Robespierre vor, dem "unbestechlichen" Vollstrecker der Französischen Revolution, dessen Demokratiebegriff noch in den - absurderweise so genannten - Volksdemokratien Osteuropas nachwirkte, ein Demokratieverständnis, das den Pluralismus der Meinungen und Interessen, vor allem auch der unterschiedlichen Lebensentwürfe radikal ausschloss. So wie die Systeme Osteuropas geschlossene Gesellschaften waren, so sind die gelebten Utopien des besprochenen Bandes geschlossene Gesellschaften: Nur auf autoritärem Wege und mit dem Anspruch auf Totalität konnte ein Otto Mühl seine sektenähnliche Kommune über eine Reihe von Jahren zusammenhalten, und nur durch Unterwerfung unter ein Glaubensprinzip erhalten die Amish people in Pennsylvania ihre Gemeinde am Leben.

Die Trauer über den Mauerfall

Aber es geht ja vielleicht nicht darum, das Paradies auf die Erde zu holen. Joachim Meißner, einer der Herausgeber des Buches, bestimmt den Wert von Utopie sehr genau, wenn er am Beispiel des "Lebenstraums Südsee" feststellt, dass wir sie brauchen, "um eine kritische Folie zu haben, vor deren Hintergrund" wir die "eigene Entwicklung besser erkennen und in ihren Fehlern besser kritisieren" können. Tatsächlich bedauerten viele westdeutsche Intellektuelle den Fall der Mauer nur aus dem einen Grund, dass die "gelebte Utopie" des real existierenden Sozialismus der Kritik an hiesigen Verhältnissen eine stärkere Wirkkraft gab - auch wenn und obwohl die Symbiose von Geist und Macht in den sozialistischen Staaten totalitären Terror zeitigte und nur die wenigsten sich ernsthaft diese Realität auch für den Westen wünschten.

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