Nur nicht langfristig

Über die Kultur des neuen Kapitalismus

Die Menschen, die ich interviewt habe, sind Vorarbeiter, Buchhalter, Autoverkäufer, Computerprogrammierer, Sekretärinnen von Managern, Leute, die wir im Englischen als solide Mittelklasse bezeichnen. Kaum die vorderste Front von Revolutionären, denn sie glauben an das Versprechen eines dynamischen Kapitalismus, stellen aber fest, dass sie im modernen Unternehmen desorientiert sind. Das Management predigt ihnen, dass sie Risiken übernehmen sollen, aber sie wissen nicht, wie sie das tun sollen; das Management betont die Notwendigkeit vom Umlernen, aber dieses Lernen bekommt eine hermetische, kaum verständliche Bedeutung, wenn es in die tagtägliche Erfahrung der mittleren Arbeitnehmerschichten übersetzt wird.


In einer frühen Phase des Kapitalismus hätten diese Arbeitnehmer in größerer Sicherheit gearbeitet, denn die geschäftlichen Strukturen von vor 50 Jahren waren starre Bürokratien. Max Weber verglich einmal in einem berühmten Vergleich die moderne Armee mit dem modernen Unternehmen, beide Pyramiden der Macht, voller Bürokratieebenen. Die Menschen, die in solchen Unternehmen arbeiteten, konnten ihre Fortschritte auf der Konzernleiter messen - oder ihre fehlenden Fortschritte.


Was Weber eine rationale Bürokratie nannte, hat eine verständliche Struktur, aber es handelt sich auch um eine starre Struktur. Sie reagiert nicht schnell auf Veränderungen der Marktbedingungen, technische Innovationen oder neue Formen der Finanzierung. In den letzten 20 Jahren hat es daher eine große Umgestaltung im Zustand dieser Bürokratie gegeben. Bürokratieebenen wurden aus den Organisationen entfernt; die Pyramide der Macht wurde durch eine lockere und dezentrale Netzwerkstruktur ersetzt. Aber gleichzeitig macht es die neue Informationstechnik möglich, die Kommandofunktionen in einer Managerelite zu konzentrieren, die sowohl effizient eine große Anzahl von Arbeitnehmern führen kann als auch genauso schnell die von diesen geleistete Arbeit umstellen kann.


Die doppelte Transformation der Institutionen steht für eine große Verschiebung im modernen Kapitalismus. Die moderne Bürokratie wird flexibel in der Form; dezentralisiert, aber nicht demokratisch in ihren Funktionen.


Der Grund, weshalb ich die Beschäftigten als durch diese institutionelle Umwandlung desorientiert erlebt habe, hat mit der Erfahrung der Zeit zu tun. Ein Kontrast in der mittelenglischen Sprache beleuchtet diese Erfahrung: im frühen Englisch war eine "Karriere" (career) eine gut gekennzeichnete und gut gebaute Straße, während ein "Job" ein Bündel von Holz oder ein Sack Kohle war, der ohne weitere Beachtung hin und her geschoben werden konnte. Mit diesen Worten ausgedrückt ersetzt die moderne Welt die Karriere durch Jobs. Und nicht in einer linearen Progression, sondern die Arbeitserfahrung folgt einem viel willkürlicheren und zufälligeren Kurs: Sie erinnert an einen fragmentarischen postmodernen Roman und nicht so sehr an eine gut aufgebaute Geschichte. Dieser fragmentarische Zeitrahmen ist eine logische Konsequenz von Institutionen, deren Motto als "nur nicht langfristig" beschrieben werden könnte, Institutionen, deren Geschäftspläne sich alle zwei oder drei Jahre verschieben, deren Belegschaften, je nachdem, ob die Institution ihren Schwerpunkt verändert, andere Firmen aufkauft oder selbst aufgekauft wird, plötzlich wachsen oder abnehmen.


In Großbritannien und in den Vereinigten Staaten haben wir praktisch eine Generation gehabt, die nur unter solchen Bedingungen gearbeitet hat. Ein Grund, weshalb sie desorientiert sind, ist einfach, dass die Flexibilität die Planung schwer macht; wenn ein Arbeitnehmer zum Beispiel beschließt, den Arbeitsplatz zu wechseln, macht es der chamäleonartige Charakter der Unternehmen schwer, die eigenen Risiken, die eigenen Vor- und Nachteile zu kalkulieren. Eine Welt von kurzfristigen Jobs verringert auch die Identifizierung mit der eigenen Arbeit. Es ist schwer, sich selbst mit einer flüchtigen oder zeitweiligen Beschäftigung zu identifizieren. "Nur nicht langfristig", dieses Motto stört auch die klassische Arbeitsethik einer in der Gegenwart geübten Selbstdisziplin zugunsten von Vorteilen in der Zukunft. Die Organisation, die einen dann belohnen könne, könnte überhaupt nicht mehr existieren.


Im sozialen Bereich verringert die flexible, kurzfristige Arbeitswelt das Engagement gegenüber Organisationen und die Loyalitäten innerhalb von Organisationen. Es ist schwierig, sich gegenüber einem Unternehmen zu engagieren, welches sich gegenüber einem selbst nicht engagiert. Darüber hinaus ist mir in meinen Interviews aufgefallen, wie das informelle Vertrauen und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Arbeitnehmern in diesem neuen System abnimmt. Informelles Vertrauen erfordert genügend Wissen über andere, so dass man in einer Krise beispielsweise weiß, auf wen man sich verlassen kann, und wer wahrscheinlich zusammenbrechen wird; das Zusammengehörigkeitsgefühl erfordert eine andauernde Verbindung. Aber in einer flexiblen Organisationen gibt es einfach nicht genügend Zeit, die Dauer der sozialen Beziehungen ist zu kurz.


Man könnte sagen, dass diese Bedingungen die Arbeitnehmer einfach wieder in die primitiveren Zustände des 19. Jahrhunderts und der dortigen Wirtschaft zurückgeworfen haben. Aber das ist nicht ganz richtig. Das bewusste Anstreben von Instabilität war kein Kennzeichen des frühen Kapitalismus; die großen Magnaten des 19. Jahrhunderts - Rockefeller, Morgan, Beecham, Tinsaud - haben viel mehr alles getan, um dem Wettbewerb am Markt und den dazugehörigen Störungen zu entgehen. Heute wird das Finanzkapital durch den reinen Wert getrieben, der auf Veränderung und auf das Unbekannte gelegt wird, wie man an dem außerordentlichen Wert sieht, der Internetunternehmen zugerechnet wird, die keine Gewinne machen und wenig eigenes Vermögen haben. Im 19. Jahrhundert war der Erwerb einer speziellen Fähigkeit eher dazu geeignet, die Arbeitnehmer vor den Unwägbarkeiten des Marktes zu beschützen; heute ist das selbst in einem Betätigungsfeld wie der Medizin nicht mehr der Fall.


Alle großen und störenden Veränderungen könnten uns dazu veranlassen, uns die Vergangenheit mit einer gewissen Nostalgie anzusehen, aber selbst wenn wir es wollten, könnten wir nicht mehr in Webers Welt der Pyramideninstitutionen zurückkehren, in diese dicken und trägen Bürokratien. Andererseits möchte ich deutlich betonen, dass die angloamerikanische Version der flexiblen Organisation kein Schicksal ist, dem sich andere blind unterwerfen müssen. Es ist ein Trend, und in Bezug auf Trends haben wir Wahlmöglichkeiten, wir können ihre Form bestimmen und ihre Richtung festlegen. Die Ideologie, die immer wieder betont, dass diese Revolution im Wesen des Kapitalismus die unausweichliche Zukunft darstellt, vertritt in Wirklichkeit ein Rezept der sozialen und politischen Kapitulation vor den Interessen eines elitären
Finanzsektors in der Wirtschaft.

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