Ohne neue Kraftwerke geht es nicht
Die Herausforderung der zukünftigen Stromversorgung besteht einerseits darin, Strom zu sozialverträglichen und wettbewerbsfähigen Preisen anzubieten. Andererseits muss dieser Strom aber so erzeugt werden, dass die ambitionierten Klimaziele der Bundesregierung erreicht werden, denn Deutschland will bis 2020 seine Kohlendioxid-Emissionen um 40 Prozent reduzieren und gleichzeitig aus der Atomenergie aussteigen.
Die dena kommt in ihrer zusammen mit der TU München erarbeiteten Analyse zu folgendem Ergebnis: Wir können eine sichere Stromversorgung im Jahr 2020 ohne Atomenergie erreichen. Aber: Angesichts der im Jahr 2020 zu erwartenden Stromnachfrage kann die Jahreshöchstlast mit Kraftwerkskapazitäten in Deutschland nicht mehr effizient abgedeckt werden, sofern keine effizienten Kohle- und Erdgaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von rund 12.000 Megawatt neu gebaut werden. Geschieht dies nicht, gehen in Deutschland im Jahr 2020 zwar nicht die Lichter aus. Es müssten dann aber alte und ineffiziente Kohlekraftwerke mit spezifisch hohen Kohlendioxid-Emissionen weiter betrieben werden, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Dieses Ergebnis traf in Teilen der Umweltbewegung, aber teilweise auch im parlamentarischen Raum, auf heftige Kritik. Im Kern steht der Vorwurf, die dena hätte in ihrer Studie die vorhandenen Einsparpotenziale und die Möglichkeiten erneuerbarer Energien nicht voll eingerechnet. Weiter wird argumentiert, durch neue effiziente Kohlekraftwerke würden die Klimaschutzziele nicht erreicht werden beziehungsweise der weitere Ausbau der regenerativen Stromerzeugung würde behindert.
Was heißt Arbeit? Und was Leistung?
Die Frage lautet also: Welche Komponenten gehören zu einem klimafreundlichen und innovativen Energiesystem, mit dem wir im größten Industrieland der Europäischen Union zugleich eine hohe Versorgungssicherheit gewährleisten können? Die Zukunftsaufgabe besteht darin, die vorhandenen wirtschaftlichen Einsparpotenziale auf der Nachfrageseite auszuschöpfen, den Ausbau und die Integration regenerativer Technologien zu forcieren sowie den Ausbau von effizienten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zu organisieren – und gleichzeitig die Netzinfrastruktur des elektrischen Verbundsystems im nationalen und europäischen Rahmen zu verbessern und auszubauen, in Fern- und Nahwärmenetze zu investieren sowie Erdgaspipelines zu verlegen. Eine besondere Bedeutung kommt neuen Speichertechnologien zu, die in das elektrische Verbundnetz eingebunden werden müssen, um große Mengen an schwankender Stromerzeugung aus Windkraft und Photovoltaik in das System zu integrieren.
Bei der Diskussion um eine zukünftige gesicherte Stromversorgung muss grundlegend zwischen Arbeit (kWh) und Leistung (kW) differenziert werden – selbst Fachleute treffen diese Unterscheidung in der aktuellen Debatte häufig nicht. In fast allen einschlägigen Gutachten – auch den als Reaktion auf die dena-Studie verfassten – wird nur die Bereitstellung von Arbeit betrachtet, nicht aber die gesicherte Leistung. Worin liegt der Unterschied? Windkraftwerke und Photovoltaikanlagen sollen in Zukunft erheblich zur Stromerzeugung beitragen. Diese Kraftwerke erzeugen aber nur dann Strom, wenn der Wind weht und die Sonne scheint. In Deutschland beträgt die Auslastung der Jahreshöchstlast aus Photovoltaikanlagen derzeit rund 850 Stunden im Jahr, bei Windkraftwerken liegt der Wert bei etwa 1.700 Stunden pro Jahr. Doch ein Jahr hat 8.760 Stunden. Um unsere Stromversorgung zu sichern, müssen wir also dafür sorgen, dass auch dann ausreichend Kraftwerke in Betrieb sind, wenn Wind und Sonne nicht zur Verfügung stehen.
Natürlich werden Photovoltaikanlagen und Windkraftwerke in Zukunft noch besser verfügbar sein, zum Beispiel durch den Ausbau von Offshore-Windparks. Dennoch benötigen wir in Zukunft, auch über das Jahr 2020 hinaus, hocheffiziente Mittel- und Spitzenkraftwerke auf Kohle- und Erdgasbasis, um die erforderliche Regel- und Reserveenergie für die schwankende Stromeinspeisung zu erhalten. Genau deshalb behindert der Bau neuer hocheffizienter Kohlekraftwerke nicht den weiteren Ausbau von regenerativen Technologien, sondern er ist im Gegenteil ein wichtiger Baustein zur Optimierung des Gesamtsystems – auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
Der Stromverbrauch steigt weiter
In ihrem Gutachten hat die dena bereits berücksichtigt, dass der Stromverbrauch bis zum Jahr 2020 um 8 Prozent reduziert, die Stromerzeugung aus regenerativen Energien auf 30 Prozent sowie aus der Kraft-Wärme-Kopplung auf 25 Prozent erhöht wird. Jedoch kann heute noch nicht als gesichert gelten, dass diese Ziele wirklich erreicht werden. Bislang ist der Stromverbrauch immer gestiegen, allein in diesem Jahr um 0,9 Prozent. Das ist zwar nicht viel, aber wenn wir auf eine Verringerung um 8 Prozent kommen wollen, ist auch ein nur geringer Zuwachs die falsche Richtung. Das Öko-Institut und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) sehen in aktuellen Gutachten, zum Beispiel für das Bundesumweltministerium, eine Absenkung des Stromverbrauchs von nur 5 oder 6 Prozent bis zum Jahr 2020 voraus.
Wieder andere Szenarien gehen von einem gleich bleibenden oder sogar steigenden Stromverbrauch aus. Dabei wird unterstellt, dass zwar in den bisherigen Anwendungsgebieten Strom massiv eingespart werden kann, aber neue wie zum Beispiel Wärmepumpen oder klimatisierte Gebäude hinzukommen. Zuwächse werden auch auf den Gebieten Information und Kommunikation erwartet, ebenso aufgrund der Einführung von Elektroautos.
Selbst wenn man annimmt, dass wir die Ziele des Energie- und Klimaprogramms der Bundesregierung erreichen, wird bereits ab dem Jahr 2012 nicht mehr genügend gesicherte und effiziente Kraftwerksleistung zur Verfügung stehen, um die Jahreshöchstlast zu decken. Wie gesagt: Bis 2020 wächst die Differenz zwischen Jahreshöchstlast und gesicherter Kraftwerksleistung auf rund 12.000 Megawatt. Und sie wächst sogar mit steigender Tendenz, unter anderem weil seit Abschluss der dena-Studie zuvor als sicher eingestufte Kraftwerksprojekte sehr strittig geworden sind, wie zum Beispiel die Kraftwerke Mainz-Wiesbaden oder Staudinger. Auch hat das Bundesumweltministerium kürzlich den Ausbau der Offshore-Windkraftwerke von 20.000 auf 10.000 Megawatt reduziert. Bei konstanter Stromnachfrage würde sich die Differenz zwischen Jahreshöchstlast und gesicherter Leistung im Jahr 2020 sogar auf rund 15.800 Megawatt belaufen.
Warum es beim Atomausstieg bleiben sollte
Nicht nur Kraftwerke müssen neu gebaut werden, es fehlen bislang auch die Trassen für den Abtransport des Stroms. Mindestens 850 Kilometer neue Verbundleitungen müssen gelegt werden, um den Windstrom aus Nord- und Ostdeutschland sowie aus der Nord- und Ostsee zu den Verbrauchern in den Lastschwerpunkten zu transportieren. Doch gegen diese neuen Trassen leisten genau diejenigen Widerstand, die sonst massiv für die Nutzung von regenerativen Energien eintreten.
Bei allen Szenarien hat die dena immer unterstellt, dass der gesetzlich festgeschriebene Ausstieg aus der Atomenergie bestehen bleibt. Eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke um 20 Jahre würde die Differenz zwischen Jahreshöchstlast und gesicherter Kraftwerksleistung je nach Szenario um 10 bis 15 Jahre verzögern, die Situation also entspannen. Trotzdem plädiere ich für die Beibehaltung des Atomausstiegs, weil es für ihn gute Gründe gibt. Am Risiko der laufenden Reaktoren hat sich nichts geändert, und auch die Frage der Endlagerung des hoch radioaktiven Atommülls bleibt weiter ungelöst.
Eine Aussage des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der früheren VEBA AG, Rudolf von Bennigsen-Foerder, ist heute aktueller denn je. Bennigsen-Foerder sagte 1989: „Es sollte eigentlich nicht über die laufenden Kernkraftwerke ... debattiert werden, sondern über die Frage, wie Kernkraftwerke ersetzt werden, wenn sie altersbedingt auslaufen sowie über die Frage des langfristigen Stellenwerts der Steinkohle ... Das erheblich verstärkte Energiesparen muss weltweit den größten Einzelbeitrag zur Problemlösung leisten – sonst scheint die Aufgabe nicht lösbar.“
Es geht um 15 Kraftwerke, nicht um 60
Es geht konkret um den Neubau von rund 15 Kraftwerken, die alte Kraftwerke ersetzen – und nicht um rund 60 Kraftwerke, wie in der öffentlichen Diskussion polemisch behauptet wird. Diese 60 Kraftwerke werden nicht benötigt und können im Strom- und Kohlendioxid-Markt überhaupt nicht realisiert werden. Sie wären daher weder wirtschaftlich noch finanzierbar.
Auch ist die Behauptung falsch, neue Kraftwerke würden die Klimaschutzziele der Bundesregierung unerreichbar machen. In Wirklichkeit werden die zulässigen Kohlendioxid-Emissionen für Kraftwerke europaweit über den Emissionshandel geregelt. Dieser gibt eine Obergrenze vor, die immer weiter abgesenkt wird und nicht überschritten werden darf.
Will ein Kraftwerksbetreiber ein fossiles Kraftwerk betreiben, muss er dafür ab 2013 Kohlendioxid-Zertifikate ersteigern. Werden keine neuen effizienten Kraftwerke gebaut, wie es beispielsweise Greenpeace vorschlägt, dann müssen alte Kohlekraftwerke mit schlechten Wirkungsgraden und sehr viel höheren Emissionen weiter laufen. Dies führt zwar nicht zu höheren Emissionen (weil der Emissionshandel eben dies nicht erlaubt), sehr wohl aber zu hohen Kohlendioxid-Zertifikatspreisen. Diese wiederum führen notwendigerweise zu höheren Strompreisen.
In diesem Kontext ist von Bedeutung, dass zum Beispiel die französischen Strompreise vom Emissionshandel nicht so stark belastet werden, weil Frankreich seine Stromerzeugung zu einem hohen Anteil mit Atomenergie und Wasserkraft – also kohlendioxidfrei – bestreitet. Im globalen Wettbewerb ist es für uns in Deutschland daher überlebenswichtig, dass unser Stromsystem – besonders bei Kohle- und Erdgaskraftwerken – so effizient ist wie nur möglich.
Würden nach dem Vorschlag der dena neue Kohle- und Erdgaskraftwerke mit einem Wirkungsgrad zwischen 46 und 61 Prozent gebaut, könnten alte Kraftwerke mit Wirkungsgraden von nur knapp über 30 Prozent ersetzt werden. Auf jedem anderen Gebiet werden Investitionen in effiziente Technologien massiv gefordert und mit staatlichen Förderprogrammen unterstützt. Nur im Kraftwerkssektor werden sie massiv be- oder verhindert, obwohl sie zu spezifischen Kohlendioxid-Minderungen von rund 30 bis 40 Prozent führen würden.
Stromimport ist keine Alternative
In der Diskussion wird häufig darauf hingewiesen, dass wir unseren Strombedarf auch aus dem europäischen Ausland decken könnten, wenn wir nicht genügend eigene Kraftwerke besitzen. Doch zur Deckung der Jahreshöchstlast sind Stromimporte aus dem Ausland keine Alternative. Eine aktuelle Studie der Europäischen Union der Übertragungsnetzbetreiber zeigt: Die vorhandenen und geplanten europäischen Kraftwerkskapazitäten ab 2015 reichen nicht aus, um eine verstärkte Nachfrage aus Deutschland zu decken. Natürlich können wir mehr Strom aus dem Ausland importieren. Doch die entscheidende Frage ist, ob gesicherte Leistung tatsächlich dann geliefert wird, wenn wir sie benötigen. Genau dies bezweifle ich und plädiere dafür, gesicherte Leistung hier bei uns bereitzustellen. Für ein Industrieland wie Deutschland ist das unabdingbar.
Der Neubau von Kohle- und Gaskraftwerken ist Bestandteil einer energiepolitischen Gesamtstrategie. Dazu gehören ebenso die intelligente Vernetzung der Nachfrage- mit der Angebotsseite, die Nutzung von Speichersystemen und die bestmögliche Vernetzung von dezentralen und zentralen Erzeugungsanlagen. Anders gesagt: Wir benötigen intelligente Systeme. Gerade die Integration der regenerativen Energien ist dabei eine große Herausforderung. Für die einzuspeisende Windenergie müssen nicht nur neue Verbundleitungen gebaut werden, sondern auch effiziente fossile Kraftwerke, die die notwendige Regel- und Reserveleistung bereitstellen.
Klar ist, dass zügig gehandelt werden muss. Die Vorlaufzeiten in der Energiewirtschaft von Planung über Genehmigung bis zu Bau und Inbetriebnahme sind enorm. Die Investitionsentscheidungen müssen in den nächsten zwei bis drei Jahren fallen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sollten jetzt gemeinsam die Voraussetzungen für ein klares Ja zu einem klimafreundlichen und wirtschaftlichen Energiemix aus Energieeffizienz, fossilen und regenerativen Energieträgern schaffen.