Partei ohne Botschaft
Im Juni sprach ich vor dem Bezirksparteitag der Sozialdemokraten in Ostwestfalen-Lippe; nun referiere ich hier, vor den Mitgliedern des Bezirksvorstandes im Nachbarbezirk Westliches Westfalen. Eingeladen wurde jedes Mal der Politologe und Parteienforscher. Das ist schon, wie ich glaube, etwas Neues. Und es ist symptomatisch. Vor zehn Jahren war es in der SPD noch nicht üblich, einen externen Interpreten, gar einen universitären Politikwissenschaftler auf Parteitagen zu Rate zu ziehen. Wahrscheinlich hätte ein solcher Vorschlag für die meisten einfach nur exzentrisch geklungen. Parteien hatten genug Selbstbewusstsein, um ihre Probleme alleine im eigenen Kreise zu diskutieren und selbst zu lösen. So jedenfalls war die Stimmung.
Das ist irgendwie ein wenig anders geworden. Über Parteienkrisen reden wir schon seit etlichen Jahren. Mal wird es dramatisch erregt thematisiert, dann geht es aber auch rasch wieder ruhiger zu. So hätte man es auch jetzt wieder erwarten können: Erst die große Aufregung während der CDU-Affäre, als einige schon italienische Verhältnisse beschworen. Darauf hätte eigentlich die Entwarnung kommen müssen. Und tatsächlich ist das ja auch ein bisschen so. Aber es herrscht doch in den Parteien nach wie vor ein bemerkenswertes Unwohlsein, eine latente Grundangst vor noch Schlimmeren. Das nun scheint mir allerdings neu zu sein.
I. Nun liegen die Probleme der Parteien seit den 80er Jahren schon auf der Hand.
1) Die Parteien haben ihre Milieus verloren. Das ist kein neuer Befund jedoch ganz entscheidend. Die Milieus, das katholische-kirchliche oder auch das gewerkschaftliche Arbeitermilieu, waren die Kraftquellen der Parteien. Sie gaben ihnen das spezifisch normative und auch kulturelle Gepräge. Sie haben den Parteien das Personal geliefert, haben für ihre Basisnähe und Unverwechselbarkeit gesorgt. Im Politologenjargon: Die Milieus haben das politische Personal rekrutiert, sozialisiert, mobilisiert und sie haben Interessen aggregiert und vermittelt. Das sind im Prinzip die Kernaufgaben von Politik. Einen gleichwertigen Ersatz für die Übernahme dieser Kernaufgaben der Politik haben Parteien bislang noch nicht finden können.
2) Das alles hat zu einem Abstand der Parteien von der Gesellschaft geführt. Das eben ist die Substanz der Krise des Parteienwesens schon heute. In dem Maße, in dem den Parteien ihre Wurzeln in der Gesellschaft abhanden kamen, in dem Maße hielten sie sich dann am Staat schadlos. Sie bedienten sich seiner Subventionsmöglichkeiten, erschienen dadurch aber noch abgehobener, entrückter, unverdient priveligiert.
3) So hatten Parteien durchaus auch in den Zeiten der Vertrauenskrisen über den Staat und etlichen öffentlichen Institutionen weiterhin Macht bzw. Einfluss. Doch kontrastiert der Einfluß mit dem Mangel der Parteien, weder die Kultur noch den Geist der Zeit irgendwie bedeutsam zu prägen. Die Themen setzen andere. Parteien hecheln hinterher, sind eher wie Schwämme, die Stimmungen aufnehmen. Das macht übrigens gerade Sozialdemokraten zu schaffen, die doch von ihrem ganzen Anspruch her, auch Ziele vorgeben wollen. Das macht die Identitätsunsicherheiten bei den Parteimitgliedern selbst aus und hat bei Teilen der Bevölkerung zu einer Art Verachtung geführt.
4) Vor allem bei den jüngeren Eliten ist das so. Für sie stellt Politik nicht mehr das entscheidende Instrument für gesellschaftlichen Einfluss oder Veränderung dar. Und damit haben sie recht. Junge Menschen gehen in die Wirtschaft, aber nicht in die Politik. Denn sie wollen rasch etwas erreichen. Wir leben in Zeiten der Beschleunigung - Politik kann da nicht mithalten, sie muss gewissermaßen im Tempo langsam sein und muss gerade in differenzierten Gesellschaften ein hohes Maß an Kompromissen zustande bringen. Das alles dauert und wirkt am Ende nicht sehr mitreißend. Auch das führt zu Anti-Parteien-Affekten.
5) Abgewandt von Politik hat sich auch das Neue Unten. Hier weiß man nicht, wohin das politisch führen mag. So wie in den USA: Die Abkoppelung eines ganzen passiv-apathischen Segments der Herausgefallenen vom politischen Pozeß? Oder, was sich in anderen europäischen Ländern andeutet: Die Möglichkeit zur Mobilisierung von rechtspopulistischen Parteien? Wir sehen in vielen europäischen Ländern eine parteipolitisch ganz neue Konfliktlinie, auf der sich Rechtspopulisten erfolgreich tummeln, die junge Arbeiter und Arbeitslose mit großer Resonanz ansprechen, gewissermaßen mit Machothemen. Das Auto spielt eine große Rolle, natürlich das Ausländerthema - das sind überwiegend Reaktionen auf den sozialökologisch-feministischen Zeitgeist früherer Jahre. Das hat viel Konjunktur im Moment und hätte durchaus auch in Deutschland Raum und Chancen. Und es würde den Sozialdemokraten sehr schaden. Dort wo es diese Parteien gibt, sind die Sozialdemokraten in der Arbeiterschaft nicht mehr die Partei Nummer 1.
6) Die Parteien sind überaltert. Nur 2,9 Prozent der Sozialdemokraten sind unter 25; das liegt noch unter dem Anteil der über 80-jährigen in der SPD, denn der beträgt 3,4 Prozent; über ein Drittel der Parteimitglieder ist älter als 60. Man kann sich damit beruhigen, dass das durchaus dem gesellschaftlichen Entwicklungstrend entspricht. Und so ist es auch. Im Jahr 2040 werden 28 Prozent der Wähler über 70 Jahre alt sein, im Jahr 2050 wird jeder zweite Deutsche älter als 56 sein. Die Deutschen werden überhaupt das älteste Volk der Welt bilden. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene werden entschieden in der Minderheit sein. Und der große Mehrheitsblock der Alten wird in der "ergrauenden Gesellschaft" gegenüber dieser Minderheit fremdeln, denn die neue junge Minorität wird kulturell, religiös und ethnisch sehr viel schillernder und heterogener zusammengesetzt sein. Welcher Sprengstoff da für Politik drinsteckt, ist, glaube ich, bislang noch gar nicht ansatzweise bedacht worden.
7) Die Großorganisation war wichtig für diejenigen, die es allein nicht schaffen konnten, die aber durchaus Selbstbewusstsein und Aufstiegsehrgeiz hatten und von einem Zukunftsglauben getrieben waren. Heute brauchen die meisten diese Art von Organisation nicht mehr, gerade weil die klassischen Organisationen erfolgreich Ressourcen für die einzelnen erkämpft haben, die sie unabhängig von kollektiven Zusammenschlüssen werden ließen.
II. All diese Probleme treffen die (großen) Parteien allgemein. Dazu trägt die SPD aber noch einige besondere Probleme mit sich.
1) Die Sozialdemokraten leiden am sozialen und ökonomischen Strukturwandel der letzten 20-25 Jahre. Die Welt der Altindustrien geht ziemlich unter, die alte klassische Arbeiterklasse schmilzt zusammen. Damit geht die ökonomische Voraussetzung der überlieferten sozialdemokratischen Parteiorganisation und Vorstellungswelt zugrunde.
2) An die Stelle der großkollektiv organisierten altindustriellen Gesellschaft ist eine individualisierte und pluralisierte Gesellschaft getreten. Das hat den Sozialdemokraten in den 80er und 90er Jahren eine Menge Probleme bereitet. Denn gerade ihr Anhängerpotential spreizte sich dadurch kulturell und normativ so gewaltig wie kein anderes sonst in verschiedene Lebensstilgruppen. Es reichte von den ökologisch-angegrünten und kosmopolitischen Studienräten bis hin zu eher materialistischen, kleinbürgerlichen Arbeitern der alten Art. Das war das, was den berühmten und so schwierigen sozialdemokratischen Spagat ausgemacht hat.
3) So weit und heterogen die Anhängerschaft war, so schmal war und ist am Ende der Stamm sozialdemokratischer Aktivisten. Im Grunde ist das ab Ende der Ära Schmidt eine einzige Generation, die Ende der 60er, Anfang der 70er in ganzen Rudeln in die SPD einfiel, dort dann die Älteren wegdrängte und den nachwachsenden Jahrgängen auf lange Zeit die Zugänge versperrte. Und so war die SPD auf eine einzige Generation, mit einem einzigen ziemlich homogenen Habitus und Polit-Stil verengt, was problematisch war angesichts der Notwendigkeit, auf verschiedene gesellschaftliche Lebensstilgruppen zugehen zu müssen. Das hat dann deswegen auch lange nicht geklappt. Und heute dämmert es allen, welche Probleme es noch geben wird, dass ganze Jahrgänge nach den sogenannten "Enkeln" fehlen, all diejenigen, die zwischen 30 und 45 sind. Und die Jüngeren, die man jetzt rasch nach oben gehievt hat, denen fehlt eben doch eine Menge. Sie wirkten zuvor wie die braven Kofferträger der Schröder-Scharping-Engholm-Generation, nicht wie Leute die sich in harten politischen Querelen durchgekämpft haben, die dabei eine eigene politische Botschaft herausbilden und durchboxen mussten. So gibt es dort noch keine Leitwölfe, die die nötige Brutalität, die wünschenswerte Intrigenerfahrung, den erforderlichen strategischen Weitblick und die bedenkenlose Wendigkeit besitzen, die man wohl braucht, um irgendwann einmal erfolgreich an der Spitze von Partei und Regierung stehen zu können. Auf der anderen Seite sind schon jetzt die Altaktivisten seit den 70er Jahren erkennbar müde geworden.
4) Das Gros der Aktivisten kommt aus dem Öffentlichen Dienst. Das ist schon problematisch: Es ist die Quelle des Unbehagens darüber, dass die politischen Eliten in Deutschland so stark sozial verengt sind. Das hat zu regelrechten Repräsentationslücken im parlamentarischen System geführt. Je stärker aber die Parteien an gesellschaftlichen Bindungen verlieren, desto wichtiger wäre es, dass das Parlament die gesellschaftliche und soziale Schichtung schon in seiner personellen Zusammensetzung widerspiegelt. Aber so ist es nicht. Und so ist es ganz bezeichnend, dass die populistischen Parteien in Europa allesamt sehr erfolgreiche Anti-Öffentliche-Dienst-Parteien sind und Arbeitnehmer und Selbständige der nicht-geschützten, der nicht-etatistischen Bereiche mit großer Wirkung ansprechen. Bei der Sozialdemokratie hat das alles zu einer weiteren Entfremdung zwischen Aktivisten/Mandatsträgern und klassischen Produktionsarbeitern geführt
5) So kamen auch die Verluste der SPD in ihren früheren Stammquartieren seit den späten 80er Jahren zustande. Mit Ausnahme einiger weniger Wahlen (an denen fast jedes Mal Schröder beteiligt war) haben die Sozialdemokraten große Probleme, Arbeiter und Arbeitslose in den Vorstädten der urbanen Zentren noch hinreichend zu mobilisieren. Nordrhein-Westfalen hat das jetzt wieder gezeigt, wie auch sämtliche Wahlen 1999 und vor den Bundestagswahlen ‘98. Man hat das immer als Verluste bei den Kerntruppen der SPD bezeichnet. Das ist nicht ganz richtig. Die Kerntruppen der Sozialdemokratie waren immer die bildungsbeflissenen, aufstiegorientierten Facharbeiter. Für sie gab es bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wenig soziale oder gesellschaftliche Aufstiegschancen aufgrund des Bildungsprivilegs der bürgerlichen Schichten. So richteten sie ihre beträchtlichen Bildungs- und Sozialenergien auf den Binnenraum der Arbeiterbewegung, so wurden sie zu den emsigen Organisatoren des sozialdemokratischen Milieus. Sie waren es, die die Parteiarbeit organisierten, die die Arbeitersportverbände, die Arbeitersänger, die Naturfreunde, die Freidenker etc. "machten". Und über diese Organisationen band diese Elite der sozialdemokratischen Facharbeiterschaft auch unpolitische, auch schlecht qualifizierte Arbeiter an die SPD. Mit der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre aber verschwand diese Facharbeiterelite aus den Arbeiterquartieren. Die Söhne und Töchter machten Abitur, studierten, stiegen sozial auf, zogen weg. Die Organisatoren des Milieus verließen das Milieu. Dadurch verwaisten die Arbeiterquartiere kulturell und politisch. Und so kam es auch hier zu einer Individualisierung - aber die bedeutete nicht Erlebnis- und Optionszuwachs, sondern im Gegenteil Verzicht auf soziale Kontakte, Rückzug auf Dosenbier und Video - gewissermaßen völlige Heimatlosigkeit und schließlich oft genug politische Apathie. Und das bescherte der SPD die Probleme heute. Mit einem bisschen schlechten Gewissen sorgen sie sich zwar um die "Zurückgebliebenen", wollen auch die Ausgegrenzten und Marginalisierten sozialpolitisch auffangen. Aber sie können sie nicht mehr politisch-strategisch so in den Mittelpunkt stellen. Die frühere organisierte Arbeiterklasse war noch als Avantgarde zu denken. Das gab den Sozialdemokraten Selbstbewusstsein, gab ihnen die feste Überzeugung, für eine große Sache einzutreten. Das ist mit den Randständigen - die eben anders als das klassische Industrieproletariat nicht einmal zur Ausbeutung benötigt werden - schlechter zu glauben. Auch insofern tut sich die SPD schwer damit. Es hat etwas mit dem Verlust an sicherer, zukunftsoptimistischer Identität zu tun, was der SPD viel Selbstgewissheit genommen hat. Die Schwungkraft der SPD hing immer mit dem Glauben an eine besondere Mission zusammen. Das ist ihr abhanden gekommen.
III.
1) Die Sozialdemokraten regieren. Im Sommer 2000 sogar recht sicher und kommod, mit freundlichen Kommentaren in der Presse und schönen taktischen Erfolgen im Bundesrat. Bei Umfragen steht die Partei wieder auf dem ersten Platz. Es muss also neben den Krisenfaktoren zudem günstige Voraussetzungen und Schubkräfte für die SPD geben. Und es ist so wie häufig: Gerade in einigen Problembereichen liegen auch - und oft lange verborgen - Vorzüge (wie ja ebenfalls oft in Erfolgen die Keime der Niederlagen lauern). Gewiss, die Sozialdemokraten hatten es schwer mit den spezifischen sozialen und kulturellen Heterogenitäten in ihrem Wählerpotential. Sie mussten das, was zur Normalität in modernen und hochkomplexen Gesellschaften gehört, schon früh üben: Sehr gegensätzliche Lebensstilgruppen politisch als Wählerkoalition unter einen Hut zu kriegen. Die CDU brauchte das lange nicht, da ihre Anhänger bis in die frühen 90er Jahre normativ weithin sehr nahe beieinander standen. Das hat sich dort in den letzten Jahren stark geändert. Dort gibt es nun vor allem zwischen den Generationen in Fragen wie Religion, Heimat, Nation, Familie, Gentechnologie etc. ganz neue Gegensätze. Damit tut sich die CDU bislang außerordentlich schwer. Die SPD hat da einen Erfahrungsvorsprung. Das zeigte sich 1998, als sie den Bundestagswahlkampf mit dem gezielten Dualismus von Semantik, Personen und Symbolik ziemlich virtuos führte, während die CDU noch sehr dilettiert.
2) Natürlich ist es ein Problem, wenn eine Führungsgruppe zu homogen ist. Aber es hat auch Vorzüge. Gemeinsames Lernen ist leichter möglich. Die ganze Enkelschar ist durch Regierungsbeteiligungen seit Ende der 80er Jahre gemeinsam in die Mitte gerückt. Das hat der SPD eine Menge Konflikte erspart, wie es sie noch so heftig und zahlreich in den 70er Jahren gab, als verschiedene Generationen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Lernresultaten schroff aufeinander prallten. Zwar wird die Lücke bei den Alterskohorten nach den Enkeln noch ein ganz gewaltiges Problem werden. Gegenwärtig ist sie ein Vorzug. Rasche und jähe Generationswechsel führen im übrigen unweigerlich erst einmal zu einer Menge Konfusion, verursachen vieler Fehler, als Folge mangelnder politischer Erfahrungen. Die SPD hat das 1987 lange Jahre mitmachen müssen. Jetzt ist die CDU dran. Schröder und Müntefering sind natürlich politisch-taktisch erheblich ausgekochter als Merkel oder gar Polenz. Selbst Struck tritt dann doch nicht in so viele Fettnäpfchen wie Friedrich Merz. Bis zu den Bundestagswahlen 2002 wird sich dieser Vorsprung wohl halten lassen können.
3) Dass die jetzige Aktivistengeneration in der SPD nach langen Schlachten erschöpft ist, erspart dem Kanzler eine Menge Ärger. Die SPD ist berechenbarer geworden, leichter steuerbar, fast schon Kanzlerwahlverein. Das ist langfristig nicht unproblematisch, aber es ist aktuell stabilisierend für die Regierung.
4) Die Sozialdemokraten haben erheblich davon profitiert, dass sich in den 80er und 90er Jahren zwei Parteien links von ihnen angesiedelt haben. Die SPD ist dadurch in die Mitte gerückt und wurde so zur Scharnierpartei der Regierungsbildung in Deutschland nahezu schlechthin. Schröder hat diesen parteipolitischen Neuformierungsprozess noch weiter strategisch verstärkt, indem er demonstrativ FDP und PDS zumindest partiell in die Arithmetik gesetzesgeberischer Mehrheitsbildung einbezogen hat. Das Ziel ist unmissverständlich: die Union soll macht-/koalitionspolitisch isoliert werden. Doch soll hier angemerkt werden, dass es Scharnierparteien der Mitte, die mit mehren Koalitionsvarianten operieren, nie ganz einfach hatten. Sie verloren durch ihre wendigen Manöver oft an eindeutiger Substanz oder Identität. Früher galt: Je stärker man die optionale Karte spielen wollte, desto wichtiger war eine enge, wertorientierte Verbundenheit von Partei und Kernanhängerschaft. Das mag zwar in postmodernen Zeiten anders geworden sein - doch sicher bin ich mir da nicht. Noch ist die Optionsvielfalt für die SPD ein Vorzug. Aber die Neo-Genscheristen in der SPD sollten schon bedenken, wohin der klassische Genscherismus die FDP bis 1999 geführt hatte: fast in den Abgrund.
5) Positiv für die SPD ist auch, dass es da wirklich eine neue Mitte gibt. Zur Mitte zähle ich diejenigen, die irgendwo zwischen 30 und 50 Jahre alt sind, also in der Mitte des Lebens stehen. Das ist die Kerngruppe der Gesellschaft. Das sind diejenigen, die produzieren, die Dienstleistungen erbringen, Steuern zahlen, Kinder erziehen. Es sind etwa die Jahrgänge 1950 bis 1969. Das ist in der Tat die Gruppe, die seit den 80er Jahren konstant am stärksten die Parteien, die jetzt die Regierung bilden, gewählt haben. Hier gab es selbst in dieser depressiven Zeit des Spätsommers ‘99 noch eine deutliche Mehrheit für Rot-Grün. Man kann diese Jahrgänge, jedenfalls einen Teil davon, als die sozial-liberale Kohorte bezeichnen. Diese neue Mitte (im Gegensatz zur alten Kohl-Mitte, deren Sozialisation eben mehr in den 50er und frühen 60er Jahren lag) ist stark geprägt durch die sozial-liberale Zeit. Sowie übrigens auch durch die sozialen Bewegungen und politischen Konflikte in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Politisch bewegte Zeiten prägen doch nachdrücklich politisches Wahlverhalten und wirken stabilisierend. In dieser Gruppe ist das sonst so oft erwähnte und schon stereotyp allgemein unterstellte Wechselwählerverhalten, das rein nutzenorientierte Wandern zwischen den Lagern bei Wahlen eben nicht im bemerkenswerten Maße zu finden.
IV.
1) Aber was ist das Rot-Grüne in dieser Gruppe, was bedeutet das noch? Wir wissen es nicht. Wir wissen durch Shell-Studien zwar fast alles über die deutschen Jugendlichen, wir wissen mittlerweile auch viel über die sogenannten Neuen Alten, also die 55- bis 70-jährigen - aber wir wissen eigentlich nichts über Ziele, Bedenken, Hoffnungen und Ängste der Kernschicht der Gesellschaft, die im Kern, nochmals, auch die Trägergeneration der jetzigen Regierung ist.
2) Die langjährigen Aktivisten dieser Generation wirken oft deaktiviert, viele haben gleichsam eine politische Auszeit genommen. Man ist in einer schwierigen Lebenslage, hat Familie, Kinder am Hals, der Beruf stresst, das Eigenheim lastet; oft sind alte und pflegebedürftige Eltern zu versorgen. Insofern haben sich viele aus der aktiven Politik zurückgezogen. Und selbst diejenigen, die noch dabei sind, wirken vielfach demobilisiert, verzagt, wie gelähmt. Denn schließlich sind die Sicherheiten der alten Botschaften und Grundüberzeugungen verlorengegangen. Bis in die 80er Jahre konnte man die politischen Grundaxiome eines guten Sozialdemokraten aus dem Stand herunterbuchstabieren: Wirtschaftsdemokratie, Mitbestimmung, vielleicht auch Rahmenplanung, und bis zuletzt natürlich: soziale Gerechtigkeit. Hier ist irgendetwas nach 1989 plötzlich verlorengegangen. Und schließlich noch einmal 1999 auch durch das, was man Schröder-Blair-Papier nennt. Man hat das im Sommer/Herbst 1999 sehen können, und im Grunde ist das in der Sozialdemokratie weiterhin nicht überwunden: eine Form eklatanter Sprach- und Orientierungslosigkeit. Schröder hat gewiss und auch mit einigem Recht, wie ich meine, viele der alten Illusionen zertrümmert. Aber er hat keine neuen, identitätsstiftenden oder auch identitätswahrenden Kernbotschaften der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, der gemeinschaftserhaltenden Selbstinitiative, der sozialintegrierten, kooperationsfähigen und -gestützten Individualität vermittelt, also Kernbotschaften für all das, wofür Sozialdemokraten auch in nachindustriegesellschaftlichen Zeiten wichtig bleiben, aber von ihnen neu definiert werden muss.
Die meisten Sozialdemokraten werden sich jedoch nicht mit Passion, Leidenschaft oder aus tiefer innerer Überzeugung für die Politik etwa der Steuerreform in die Schanze werfen. Sie werden etwas ratlos sein, ein latentes Unbehagen mit sich herumschleppen, dass viel von dem, was die Regierung durchgebracht hat, eigentlich all dem widerspricht, was man über Jahre für richtig gehalten und an Infoständen vertreten hat. Das Großkapital ist der Gewinner; dem Staat geht eine Menge Geld verloren. Dabei ist der private Reichtum des oberen Zehntels der Gesellschaft sowieso in den 90er Jahren gewaltig angewachsen; die kollektiven Güter aber verkommen immer mehr. So werden gewiss nicht wenige Sozialdemokraten denken, für sich und allein. Das alles gilt einigen besorgten Strategen in der SPD-Zentrale mittlerweile als "Vermittlungsproblem der Reformpolitik". Wie auch immer: die Sozialdemokraten kriegen im Moment das Management des Regierens ganz ordentlich hin. Das ist nicht wenig. Aber ihnen fehlt dafür eine auch prägende, bindende, ja emotionalisierende und nachhaltig haftend bleibende Semantik, Metaphorik, Symbolik. Ihnen fehlt, wenn man so will, eine Überschrift, erst recht ein kulturell dominanter Epochenbegriff für das eigene politische Tun. Noch stärker: Die Sozialdemokraten in der Fläche der Republik wissen nicht recht, warum das, was die Regierung macht, wirklich gut ist, warum es überhaupt sozialdemokratisch ist, wohin es führt, wie sie es auf den Marktplätzen sinnfällig begründen können, weshalb sie sich überhaupt dafür mit beträchtlichem Aufwand an Zeit und Kraft einsetzen sollen. So sind viele Sozialdemokraten zurückgelassen, ohne Begriffe, ohne alte, aber auch ohne neue Gewissheiten, ohne handlungsmotivierendes Pathos. Nun bin ich da ein ganz konservativer Mensch. Eine Partei, deren Kerngruppen sich ihrer Sache nicht mehr sicher sind, wirkt desorientiert, wirkt wenig überzeugend dann auch auf andere, auf die, die man so gerne erreichen möchte, die berühmten Wechselwähler.
3) Es kommt also in der Tat auf diese Kerngruppen an. Weiterhin. Auch wenn das gar nicht modern klingt. Aber die Partei, die ihre integrativen Kerne als erste aufgibt oder vernachlässigt, um sich ganz allein der Medienkommunikation zu widmen, hat das Spiel verloren. Denn es wird weiterhin so sein, dass die integrativen Kerngruppen der Parteien, die oft hochkommunikativ sind, in vielen gesellschaftlichen Bereichen engagiert, also Multiplikatoren sind, wie man es früher nannte. Diese "Parteisoldaten" werden weiterhin gerade in Wahlkampfzeiten ihre Kommunikationsnetze ausspannen müssen, um so zunächst die Stammwähler zu überzeugen und diese dann in externe Grenzbereiche weiter in Bewegung zu setzen. Man darf da den Modernisierernaus aus den diversen Beratungsfirmen nicht auf dem Leim gehen, die erst und in erster Linie auf die fluiden Wähler, die later deciders etc. zielen. Natürlich, es ist eine Plattitüde, keine der Großparteien kann heute noch mehrheitsfähig werden ohne die Wechselwähler. Aber jeder seriöse Wahlforscher weiß, dass erst im Innenraum der Parteien selbst Klarheit, Zuversicht, Entschlossenheit und Motivation da sein müssen, sonst strahlt man nicht nach außen aus. Und: Weiterhin kommt es auch auf die Kernidentitäten, die Kernbotschaften an. Erst wenn eine Partei es schafft, die Wahrnehmung und Interpretation der Probleme der Gesellschaft mit den eigenen Basis- und Primärissues positiv in Verbindung zu setzen, hat sie eine Chance auf Mehrheitsfähigkeit bei Wahlen.
Nun kann man gewiss einwenden, dass das alles ganz traditionell ist und für heutige Zeiten wohl nicht mehr recht gilt. Aber es ist schon interessant, dass die großen Parteifamilien heute, mit Ausnahme der Grünen, allesamt Produkte des 19. Jahrhunderts sind, als die Parteien der organisatorische und oft genug auch sozialkulturelle Ausdruck großer und lang prägender gesellschaftlicher Konflikte wurden. Und auf diesen Konfliktlinien stehen sie nach wie vor. Sie haben dann Erfolge - und nur dann -, wenn sie ihre konstituierenden Konfliktlinien neu aktivieren, natürlich zeitgemäß übersetzen und füllen können. Konflikte sind der Kitt für Parteien und Bewegungen, sind der Integrationsstoff, der befeuernd, klärend, stabilisierend und vor allem nachhaltig wirkt. Diesen Traditionsstoff, dieses kulturelle Kapital wird man immer wieder neu ausgestalten müssen. Man kann das auch als Ereignismanagement machen, als Event, man könnte ja durchaus versuchen, politische Botschaften und Konflikte als Event aufzuziehen.
4) Natürlich reicht es nicht, die alten Botschaften gleichsam zu reaktivieren, die Kerntruppen wieder bei Laune zu halten. Es gibt etwas, wo Parteien mit ihren Traditionsstoffen an ihre Grenze gekommen sind. Da würden sie - käme nichts Neues hinzu - personell und organisatorisch auslaufen. Jeder von uns hier weiß, wie Parteien weithin wahrgenommen werden: Als Personenklüngel aus dem öffentlichen Dienst, als geheime Verschwörerzirkel, die in schummrigen Hinterzimmern tagen. Oder: Der Ortsverein als Seniorenkränzchen, der nach kurzem Referat und kurzer Aussprache ans Trinken geht und Grünkohlessen organisiert. Das will ich alles nicht denunzieren, nur - und auch das weiß jeder - das alles finden zunehmend weniger Leute, vor allem zunehmend weniger jüngere Menschen noch irgendwie attraktiv.
5) Wir hatten das alles schon in den frühen 90er Jahren. Alle zehn Jahre wird die Reform verkrusteter Parteiorganisationen emphatisch postuliert, aber es bleibt dann ganz folgenlos. Nur ist es heute, wie mir scheint, doch ein wenig anders. Jeder spürt, dass es so nicht weitergehen kann. Andernfalls werden die beiden Volksparteien auf mittlere Frist einfach aussterben. Und es gibt mittlerweile auch, glaube ich, weniger Widerstände gegen Öffnung, gegen neue Leute, neue Beteiligungsformen etc., einfach weil fast alle Multifunktionäre froh sind, wenn sie endlich entlastet werden von den Ortsvereins-Pflichten, die man seit über zehn, manchmal zwanzig Jahren in vielen mühseligen Stunden und ohne sonderlich großen Dank dafür zu ernten, erfüllt.
6) Im Grunde ist die entscheidende Frage: Wie sieht der Arbeitnehmertypus oder auch der neue Unternehmertypus des Jahres, na sagen wir, 2010 aus, wie strukturiert sich sein Leben, wie seine Arbeit, wie seine Mobilität? Und ist das vereinbar mit den Strukturen unserer Parteiorganisationen? Und dann wissen wir alle, dass es eher nicht so ist. Viele Arbeitnehmer haben wenig Zeit, sind auch gar nicht hinreichend sesshaft, um an der Ortsvereinsroutine teilzunehmen. Sie machen täglich Erfahrungen mit Team- oder projektbezogener Arbeit, sind gewandt in offenen und kreativen Diskursen. Von alledem aber finden sie wenig in den Parteiorganisationen wieder. Darüber können Parteien einfach nicht mehr hinwegsehen, haben sich organisatorisch einzustellen, wenn sie nicht wirklich zu Fossilien werden wollen. Partizipation ist hier ein wichtiges Wort. Sie ist eine Möglichkeit der Integration, gerade da es die alten selbstverständlichen Milieuloyalitäten, über die sich früher Integration herstellte, nicht mehr gibt. Im übrigen wissen wir aus der Partizipationsforschung, dass Menschen, die sich bürgergesellschaftlich engagieren, auch ein größeres Institutionenvertrauen haben, auch das parlamentarisch-demokratische Regelwerk stärker akzeptieren als die Passiven.
Aber wie kann man Partizipation in Parteien organisieren? In einigen europäischen Ländern haben Parteien, auch und gerade sozialdemokratische Parteien, sogenannten Themeninitiativen als Parallelorganisationen zu den Ortsvereinen aufgebaut. Also, thematische Projekte, befristet angelegt, auf konkrete Ergebnisse zielend, die dann einfließen in politische Entscheidungen oder Handlungsprozesse. Es gibt unter SPD-Mitgliedern einen enormen Sachverstand, der einfach brach liegt, den man aber nutzen könnte.
7) An Partizipation führt kein Weg vorbei, wenngleich auch das nicht die alte Herrlichkeit der großen Mitgliederpartei zurückbringt. Und wie jede politische Initiative, und wie jedes politische Instrument hat auch dieses ihre Tücken. Es wird die Mittelschichtlastigkeit der SPD verstärken, denn Partizipation ist angewiesen auf spezifische, sozial exklusive Ressourcen: Auf Argumentationsfähigkeit, Bildung, Sprachgewandtheit, Kompetenz. Partizipation prämiert und verstärkt den ungleichen Zugang zu kulturellen Gütern und Qualitäten. Und weiter: Sicher muss man auch sehen, dass wer partizipiert, etwas bewegen will. Aber die Crux der Politik seit ein bis zwei Jahrzehnten ist ja, dass so furchtbar viel gar nicht mehr bewegt werden kann, weil heute Entscheidungen nicht in Berlin, sondern in Brüssel oder auch noch ganz woanders fallen. Und selbst das, was an politischen Entscheidungen im nationalen Rahmen bleibt, wird auch künftig nicht in großen, transparenten Diskursen geklärt, sondern weiterhin in kleinen Kreisen ausgehandelt werden (müssen), so dass Basispartizipatoren chronisch frustriert sein werden. Hinzu kommt noch die Schere zwischen Projektaktivisten unten und den modernen Politprofis oben, den Beratern und consulters, den Marketing- und Wahlkampfexperten, die Politik ganz professionell aus kleinen Stäben, oft ad hoc, flexibel und blitzschnell, immer personalisierend, bildreich und dramatisierend und dann allein über die Medien betreiben wollen. Da stören schwerfällige Parteiapparate, da stören ideologielastige Mitglieder, da stören aber auch partizipatorische Projektmitarbeiter, denen es allzu sehr um die Sache, das Thema, den konzeptionellen Entwurf, die reflexive Debatte geht. Die moderne Wähler-/Medienpartei auf der einen Seite, das moderne Partizipationsprojekt auf der anderen Seite - das geht strukturell nicht recht zusammen. Der Generalsekretär der SPD möchte aber, wenn ich es recht sehe, beides. Doch wie das verknüpft werden soll, darüber gibt es bei ihm und in der SPD bislang kaum Hinweise.
8) Natürlich muss man zudem auch beachten, dass Parteien sich nicht entwerten, sich nicht für jeden und alles öffnen dürfen. Parteien müssen ihre Substanz erhalten, sie dürfen ihre Parteiförmigkeit nicht zerschlagen und nicht auf jeden Einfall hereinfallen, der ihnen souffliert wird. Es gibt über Vorwahlen etwa reichlich empirische Erfahrungen. Urwahlen haben die zerbrochene Nähe zu den Bürgern nicht wieder hergestellt, sie haben dagegen vielmehr oft den inneren Zusammenhalt der Parteien belastet; Primaries haben die Parteien regelrecht zerstört, sie zu grotesken Gaukeleien und Feldern rigider ökonomischer Verbandsmacht werden lassen. Es gibt europa- und weltweit eher einen Trend zur entschlossenen Rückführung von Ur- und Vorwahlen. Insofern ist es schon komisch, dass das in Deutschland gerade jetzt wieder als Zauberformel für bürgergesellschaftliche Erneuerung der Parteien die Runde macht.
9) Parteien haben weiterhin auf das Gelingen interpersonaler Kommunikation zu achten. Es ist interessant, dass Deutschland auch hier hinterherhinkt, Moden anhängt, die andernlandes schon wieder vergehen. Vorwahlen, Spindoctortum, Politik als Inszenierung - das alles wird international schon ziemlich relativiert. Die Spindoctoren haben etwa Viktor Klima und z.T. auch schon Tony Blair zugrundegerichtet, indem sie sie zu sehr virtualisierten, sie den wechselnden Stimmungen nach modellierten, was die Wähler schließlich verdross. Es gibt viel Bedarf nach unmittelbarer interpersonaler und ernsthafter Kommunikation. Andere europäische Parteien bezeichnen ihre Aktivmitglieder auch als Kommunikatoren. Ich finde den Ausdruck nicht schlecht, denn er weist nach außen, weg von der Binnenintrovertität. Und darauf kommt es an. Parteien müssen Kommunikatorenparteien sein, auf einer durchaus festen Wertesubstanz, müssen Bilder zeichnen können von der Gesellschaft, wie sie etwa in zehn Jahren aussehen soll. An diesen Kommunikatoren und an der Fähigkeit, Zukunftsbilder zu entwerfen, Richtungen zu beschreiben, Begriffe zu prägen, daran hapert es. Generell, aber vor allem auch in der SPD, die von ihrer ganzen Tradition, ihrem Selbstverständnis doch gerade so etwas braucht: eine Zukunftsprogrammatik - früher sagte man auch Utopie. Dies hat sie zur Zeit nicht. Das macht die auffällige Lethargie, die Mut- und Sprachlosigkeit sozialdemokratischer Anhänger aus, wie ich glaube.
10) Doch wieder zurück zur Parteiorganisation, vielleicht der Zukunft. Um den Innenring einer solchen autonomen Mitglieder- und Kommunikatorenpartei muss sich ein zweiter Ring legen, der der Themen- und Initiativenpartei. Mit Leuten, die mit der Partei sympathisieren, aber nicht die Zeit haben, vielleicht auch nicht die volle Identifikation besitzen, lebenslang etwas mitzumachen, zumal lebenslanges Binden ja sowieso nicht mehr so richtig angesagt ist. Parteien mögen das nicht schön finden, aber sie haben es zu berücksichtigen. Und sie müssen ernsthafte Angebote machen, müssen motivierende Strukturen fürs Mitmachen finden. Auf Sinnhaftigkeit und Ergebnisorientierung von Themenprojekten kommt es an.
11) Um diese zwei Ringe legt sich die Medieninszenierungsaktivität. Kein Zweifel, etwa 20 Prozent der Wähler sind anders als über Medien für Politik nicht zu erreichen und selbst das nur noch schlecht. Und natürlich wirken auch auf viele andere, vor allem auf Jüngere, nicht schwerblütige reflexive Programmsentenzen, sondern eben die Show, der Gag, der lockere Auftritt. Man hat das zu beachten, sich aber davon nicht vollständig abhängig zu machen. Denn natürlich widerstreitet diese Logik den Anspruch auf ernsthafte, langfristige, differenzierte programmatische Debatten, auf geduldige Diskurse. Sozialdemokraten können das nicht einfach aufgeben, denn im Grunde hätten sie sonst keine Existenzberechtigung. Das heißt nicht, dass man Personalität und Erlebnis verdammen soll: Diskurse, Ideen haben auch etwas Kaltes, Personen haben etwas Wärmeres, was viele verständlicherweise stärker anspricht. Und die beste Mischung ist sowieso ohne jeden Zweifel, erstens, der große Entwurf, der sich, zweitens, im konkreten politischen Projekt widerspiegelt und der dann, drittens, kongenial und sinnlich repräsentiert wird durch eine glaubwürdige politische Führungsfigur.
V.
Insofern ist meine Botschaft nicht sehr erhebend, sie ist nicht aufregend, nicht neu, schon gar nicht revolutionär. Die Sozialdemokraten haben eine Menge Probleme, wie aber auch zweifelsohne alle anderen Parteien. Es gibt keine selbstverständlichen massenhaften Loyalitäten bei großen Wählerblöcken mehr wie noch vor einigen Jahrzehnten. Aber das, was man an Loyalitätsdepots hat, an kulturellem Kapital, auch an Einsatzbereitschaft, ja an Anhänglichkeiten, an Erzählungen, großen Erinnerungen und Ideen, das sollte man nicht leichtfertig aufgeben, nur weil das alles irgendwie nicht richtig modern wirkt. Man kann nicht alles der Modernisierung, der furchtbar aufgetakelten Marketingsprache dieser Zeit opfern, aber man kann natürlich auch nicht an der Rhetorik und an den Sentimentalitäten der 70er Jahre kleben bleiben. Die Verbindung von Projekt und Event, das ist schon das richtige, das war übrigens auch in früheren Zeiten nicht anders. Die 68er hätten ohne ihre Musik, ohne Happenings, ohne Woodstock, ohne Provokationen auch nicht so viel Resonanz und Breitenstreuung erreicht. Nur mit dröger Marx-Exegese, also mit theoretischen Diskursen, hätte man allenfalls winzige und ziemlich schräge Minderheiten beeindruckt. Das findet man bei allen großen sozialen und politischen Bewegungen - sie waren immer auch Lebensweise, hatten immer etwas Rauschhaftes. Insofern sollte man jugendliche Event- oder Fun-Bedürfnisse nicht denunzieren, sie nicht von vornherein als zwingend unpolitisch abstempeln.
Und so wird man wie immer all diese beiden Seiten berücksichtigen müssen. Wie gesagt Projekt und Event. Wahrung der integrativen Mitgliederkerne samt ihrer Basisidentitäten und doch auch eine Neustrukturierung der Organisation, auch eine neue Sprache zeitgemäßer Botschaften, Bilder, Richtmarken. Man muss immer beides zusammenkriegen. Jeder, der nur das eine - den Traditionsstoff - oder nur das andere - das kühne Modernisierungsversprechen - haben will, wird scheitern. Man hat doppelstrategisch zu verfahren, um diese schöne Parole aus alten Juso-Zeiten noch einmal zu rehabilitieren. Denn es bleibt dabei: Politik in modernen Gesellschaften bedeutet das Management von Widersprüchlichkeiten, Heterogenitäten, oft auch die Orchestrierung von Gegensätzlichkeiten. Das ist furchtbar schwierig, findet leider nicht so recht ein dankbares oder gar begeistertes Publikum. Aber es ist alternativlos.
Kurzum, man sieht: Auch Politikwissenschaftlern fällt nichts wirklich Grandioses ein. Aber vielleicht ist das für alle hier ja auch beruhigend. Und ich bedanke mich, dass dieser Bezirksvorstand tatsächlich heute einen dieser, wie man hinlänglich weiß, ganz und gar weltfremden Politologen geduldig ertragen hat.