Partei ohne Kompass
Merkel bleibt Merkel, mit allen Risiken und Nebenwirkungen!" Genau ein Jahr ist vergangenen, seitdem Angela Merkel volksnah und selbstsicher, überraschend derb, aber nicht ungeschickt auf dem Parteitag der bayerischen Schwesterpartei die Herzen der Delegierten eroberte - nicht allein mit der frechen kleinen Phrase oder jener wohldosierten Prise Selbstironie, die heute so gänzlich aus dem Vokabular der CDU-Vorsitzenden verschwunden ist. Damals traf Angela Merkel den Ton - und in gewisser Hinsicht übertraf sie sich selbst: Die vom Spiegel zur "Trümmerfrau" der skandalgeplagten CDU erklärte Parteichefin bot dem fremden, überwiegend männlichen Parteivolk eine geschickt inszenierte Show, ritt laute Attacken gegen die Bundesregierung, nahm huldvoll Jubel und Vorschusslorbeeren entgegen. Als Edmund Stoiber etwas oberlehrerhaft ihren Auftritt lobte und - Versehen oder nicht - dieses Lob des Gönners zu allem Überfluss über das Saalmikrofon ging, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper.
Dieselbe Angela Merkel, die im November 2000 offensichtlich ihren Platz neben dem Platzhirsch Stoiber markieren konnte, erlebt knapp ein Jahr später auf dem CSU-Parteitag in Nürnberg ein Fiasko: Ihrer soliden, wenngleich wenig originellen Rede wird nicht eben aufmerksam gelauscht. Artig applaudieren die Delegierten, sie folgen der ihrerseits angespannten CDU-Chefin aber weder emphatisch, noch begeistert. Orientieren sich die CSU-Mitglieder allein an den Signalen, die ihr eigenes Parteipräsidium gibt? Demonstrativ rascheln Vorstandsmitglieder während der Merkel-Rede mit ihren Zeitungen. Im Vorjahr wäre Unhöflichkeit gegenüber dem Gast - einer Dame zumal! - nicht denkbar gewesen: Der Ministerpräsident des Freistaats hatte damals die überaus freundliche Aufnahme der frischen und doch professionellen Frau an der Spitze der CDU höchstselbst befördert, während die Parteitagsregie der CSU in diesem Herbst nunmehr den triumphalen 60. Geburtstag des Landesvaters zum Höhepunkt der Veranstaltung machen musste.
Abgemeyert und ausgemerkelt?
Hatte Angela Merkel in diesem Jahr von vornherein keine Chance zur Entfaltung? Steht die unbeantwortete "K-Frage" nach dem Herausforderer für Gerhard Schröder jeder Profilierung durch Inhalte entgegen? Hat sich das böse Kabarettistenurteil über die "abgemeyerte und ausgemerkelte CDU aus Nordlichtern und Ostgoten" in Bayern - wie anderenorts auch - durchgesetzt, so dass sich der raffinierte CSU-Chef schließlich lieber in Begleitung der Miss Bayern zeigt als neben der in der Gunst der Öffentlichkeit rapide gesunkenen Vorsitzenden der Schwesterpartei? Ist Politik gänzlich reduziert auf die Inszenierung?
Selbstverständlich ist die Euphorie des vergangenen Jahres um den angeblich kometenhaften Aufstieg der Angela Merkel verflogen. Das war nicht anders zu erwarten. Kein noch so versierter Medienstar hätte das positive Urteil aufrecht erhalten können, das auch kritische Journalisten über die vermeintliche Retterin der Union im Jahr 2000 fällten und das den Aufstieg der Protestantin aus dem Osten an die Spitze der von westdeutschen Männern dominierten Partei begleitete. Allen voran war es Angela Merkel selbst, die den drohenden Verlust an Wohlwollen erwartete - nicht aber den beständigen, auch öffentlich ausgetragenen Disput um ihre eigene Person.
Das Gesamtbild bleibt denkbar farblos
Die CDU-Quereinsteigerin hatte in den zehn Jahren ihrer politischen Karriere längst erfahren, wie rasch in der Mediendemokratie das Glitzern im Rampenlicht verglüht. In Helmut Kohls Schatten stand bekanntlich "das Mädchen"; nach der Spendenaffäre sollte sie als "Jeanne d′Arc" der CDU Rettung bringen. Beide Zuschreibungen enthalten das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit, aber sie sind spezifischen Situationen entsprungen und nicht charakteristisch für die Frau, die die CDU seit anderthalb Jahren zu führen versucht und sich trotzig durch Widerstände beißt. Wie keine zweite Figur auf der politischen Bühne der Bundesrepublik musste Angela Merkel in den vergangenen Jahren erleben, wie grundlegend sich das mediengemachte Bild eines Menschen wandeln kann. Als Parteivorsitzende - und darin liegt der von ihr tragisch unterschätzte Unterschied zu allen ihren vorherigen Positionen - ist sie diejenige, die das Gesamtbild der Union prägt und im Idealfall auch in der Opposition zum Leuchten bringen kann. Noch immer ist dieses Gesamtbild denkbar farblos.
Edmund Stoiber genießt - betrachtet man sein Verhältnis zur Partei - gegenüber Angela Merkel einen signifikanten Vorteil, einen "Standortvorteil". Das Image der bayerischen Volkspartei ist nach außen und innen eindeutig. Es zu prägen, ja zu modernisieren war nicht Stoibers vorrangige Aufgabe, als er als sechster Vorsitzender der CSU das Amt von Theo Waigel übernahm. Die CSU-Mitglieder wollten schlicht einen Garanten für Kontinuität. Mit Stoiber gewannen sie sogar eine Autorität - ganz wie es sich für die stets an ihren Patriarchen orientierte Freistaatspartei geziemt. Obschon der Ministerpräsident beispielsweise die BSE-Krise nicht gerade bravourös in die Hand genommen hat, versteht es Stoiber doch, vor der Öffentlichkeit ein stimmiges Bild von Partei, Person und Politik abzugeben.
Monolithisch ist die CDU nie gewesen
Das ist für Vorsitzende der CDU von jeher schwieriger gewesen: Die christlichdemokratischen Landesverbände nördlich von Bayern sind nie auch nur annähernd so monolithisch strukturiert gewesen wie die CSU. Angela Merkel hatte es zu Beginn ihrer Amtszeit besonders schwer. Ihr fehlte der Rückhalt in einer verlässlichen Hausmacht, dafür aber war die unkonventionelle Politikerin aus dem Osten getragen von der Heilserwartung der verunsicherten Parteibasis - was wiederum das Risiko barg, dass sie dieser Erwartung nicht gerecht würde. Die neue Vorsitzende musste zunächst die unappetitliche Affäre um die Parteispenden bereinigen, die Finanzen der CDU sortieren und zugleich der Union nach Kohl und dem kurzen Intermezzo von Wolfgang Schäuble einen frischen Anstrich geben. Das waren gewissermaßen die staubigen Erbteile aus dem alten Bonner Adenauerhaus.
Wohl hatte die gesamte Riege der karrierebewussten westdeutschen Profipolitiker der Generalsekretärin den Platz an der Parteispitze überlassen. Die zugespitzte Lage und das überraschende Votum der Parteibasis auf den Regionalkonferenzen hatten die üblichen Mechanismen der Postenvergabe außer Kraft gesetzt, ihr jedoch nicht per se die Gefolgschaft der Granden der CDU gesichert. Und so ergoss sich bald Häme über die misstrauische Vorsitzende, die ihre als "Girlscamp" verspottete Führungsetage im Adenauerhaus abschottete, die alten Wortführer der Partei nicht recht in Entscheidungen einbinden wollte und zu allem Überfluss das eklatante Ungeschick des von ihr bestallten Generalsekretärs Laurenz Meyer sowie die Profilierungsversuche des ungebärdigen Chefs der Bundestagsfraktion Friedrich Merz ertragen musste.
Schrieb wirklich Merkel den Abschiedsbrief?
Fehler, Pannen - alles ist verzeihlich. Aber dass die überfällige politische Neu-Orientierung der CDU ausblieb, ist ein schwer entschuldbares Versäumnis. Zumal Angela Merkel gute Chancen gehabt hätte, alte Zöpfe abzuschneiden und eigene Akzente zu setzen: Schließlich traute sich in der ersten Phase ihrer Amtszeit niemand, die Stimme gegen die neue Integrationsfigur zu erheben.
Inzwischen aber kursieren sogar Gerüchte, nach denen bezweifelt wird, dass es wirklich Angela Merkel selbst gewesen ist, die jene mutigen Zeilen verfasste, die am 22. Dezember 1999 unter ihrem Namen in der Frankfurter Allgemeinen erschienen und den Bruch mit Helmut Kohl markierten. Entscheidend ist nicht, wie viel Wahres in diesen Gerüchten steckt, entscheidend ist die Tatsache, dass sie überhaupt in der Union herumgeflüstert werden. Die Partei geht auf Distanz zu ihrer Chefin, so wie diese Abstand zu jenen hält, auf die sie doch eigentlich dringend angewiesen ist.
Mittlerweile ist selbst Christian Wulff in Deckung gegangen, der eine zeitlang kaum aus dem Kameraschatten der umjubelten Vorsitzenden wegzudenken war. "Beratungsrestistent" sei die CDU-Vorsitzende, grollt Gertrud Höhler in aller Öffentlichkeit - und engagierte sich im Berliner Wahlkampf für die FDP. Für die Union gravierender freilich ist das Dunkel, in dem Angela Merkels Vorgänger Wolfgang Schäuble versteckt ist.
Merkels Marktwirtschaft als Lachnummer
Wohl wahr, geschickt bindet der Konsenskanzler Christdemokraten in sein Regierungshandeln ein. Schröder nehme der Union die Themen, schreibt denn auch der CDU-Insider und Politologe Gerd Langguth. Wichtiger ist aber doch, dass sich die Union Themen nehmen lässt. Die Opposition muss die Regierung kontrollieren, packen. Angela Merkels Kritik aber bleibt schwach. Sie moniert im Bundestag, dass ein "mehr an Sicherheit mit einem mehr an Steuern" finanziert wird. Und muss dem Datenschutzbeauftragten die Frage überlassen bleiben, ob die im "Otto-Katalog" des Innenministers geforderten Eingriffe die bürgerlichen Freiheiten den Absichten des Grundgesetzes entsprechen, den Bürger vor äußeren und inneren Gefahren, aber auch vor dem Staat zu schützen?
Mit einer innovativen Familienpolitik hatte Angela Merkel eine Positionierung gewagt. Weniger erfolgreich war die Debatte um die vermeintlich "Neue Soziale Marktwirtschaft" und die so genannte "Wir-Gesellschaft". Die Überlegungen zur Marktwirtschaft drohten zur Lachnummer zu werden, weil die Parteistrategen sich nicht mit der gleichnamigen Initiative der Wirtschaft verständigt hatten. Und weil das vielversprechende Attribut "neu" schließlich auf Geheiß der Parteichefin kurzerhand kleingeschrieben werden musste. Geschickter ging wieder einmal die Schwesterpartei vor, die ihr wirtschaftspolitisches Papier schlicht der "Sozialen Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert" widmet. Orthografie und Titel mögen nicht entscheidend sein. Wohl aber sollte zu denken geben, dass beispielsweise Norbert Blüm in seinem Urteil über die "neue Soziale Marktwirtschaft" der Befürchtung Ausdruck gibt, seine Partei verflüchtige "Gerechtigkeit zu einem Regelwerk". Für Blüm schmeckt das Konzept nach "dünner Suppe": Die von Angela Merkel entworfene "Wir-Gesellschaft" instrumentalisiere das Solidaritätsprinzip zum Mittel der Marktteilnahme und eines utilitaristischen Wohlstandsverständnisses.
Wie kann sich die CDU heute definieren?
Die angesichts der Verunsicherung durch die Globalisierung dringend notwendigen Handreichungen fehlen. Die CDU könnte sich dazu bekennen, dass soziale Sicherheit und die von der ostdeutschen Parteichefin stets gepriesene Freiheit eine gesunde Verbindung eingehen müssen, dass nicht zuletzt auch ein enger Zusammenhang zwischen innerer und sozialer Sicherheit besteht. Auch die Auseinandersetzung mit dem Wandel der traditionellen CDU-Klientel lässt auf sich warten. Der CDU fällt es zunehmend schwer, sich über ihre Anhängerschaft zu definieren. Die klassischen konservativen Kreise sind nicht mehr prägend, die konfessionell gebundenen gesellschaftlichen Milieus zerstoben, die Kraft des für die CDU einst konstitutiven Katholizismus hat nachgelassen. Wohin soll sich eine bürgerliche Partei wenden, wenn sich die Sozialdemokraten in der Mitte des Parteienspektrums breitmachen?
Die Bürgerpartei unter Angela Merkel scheint Furcht vor ihrer eigenen Bürgerlichkeit zu haben, sie verzichtet auf die Formulierung langfristig haltbarer Positionen. Warum legt sie kein mutiges Bekenntnis zum "hohen C" in ihrem Parteinamen ab? Die Diskussion um die Gentechnologie verlangt die kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik. Die CDU ist wahrlich keine Partei des Klerus, doch angesichts des vielfach beklagten Werteschwunds böte das Reservoir der christlichabendländischen Moraltheologie auch einer zunehmend atheistischen Gesellschaft Orientierung und die Grundlage für ethische Normen. Signifikant ist da das Schicksal der Grundsatzabteilung in der Parteizentrale. Sie wurde kurzerhand aufgelöst und der Wahlkampftruppe zugeschlagen.
Die Union auf dem Rückzug in ihre Provinzen
Die Union hat sich in ihre Provinzen zurückgezogen. Während die Berliner Republik unter Bundeskanzler Schröder immer zentralistischer wird, spielt sich das nachvollziehbare Innenleben der CDU vor allem in den Landesverbänden ab - und das nicht etwa, weil die Partei sich auf den Föderalismus der alten Bundesrepublik besinnt, sondern weil sich nur hier Spielräume auftun. Auch die Erfolge der CDU sind in den vergangenen Jahren ausschließlich den Landesverbänden zu verdanken. Die rund 650.000 Mitglieder der CDU Deutschlands dürfen sich an den Reiseimpressionen von Roland Koch zur Sozialpolitik in Wisconsin delektieren. Sie dürfen sich fragen, ob sie den Kurs von Ole von Beust gutheißen, der ganz bewusst ausgerechnet das Thema Innere Sicherheit seinem dubiosen Koalitionspartner Schill überlässt. Immerhin bleibt es den Christdemokraten dank ihrer regionalen Differenzierung erspart, Mitverantwortung für den erbärmlichen Zustand ihres Berliner Landesverbandes zu übernehmen. Doch es ist schon seltsam: Wir "kennen" Roland Koch und Erwin Teufel, Peter Müller und natürlich Kurt Biedenkopf - von der Parteichefin wissen wir wenig. Dabei kann die Parteibasis neben den erkennbaren Duftmarken der Landesfürsten auch eine schlüssiges bundespolitisches Erscheinungsbild ihrer Partei und die Souveränität einer starken Führung erwarten.
Angela Merkel hat eine biografisch erklärbare Scheu davor, ihrer Partei klare Positionen vorzugeben. Die Pastorentochter erlebte den Protestantismus in der Diaspora, der sich in den atheistischen Staat einfügen musste, im Kleinen für Veränderungen eintrat und immer auch alltägliche Arrangements mit der Diktatur traf. Ihr Vater, dessen Nähe zum Staat der SED anderen Pastoren ein Dorn im Auge war, sah im Sozialismus eine Chance für die Kirche. Angela Merkel stand von jeher auf einem Fundament christlich geprägter Werte und lernte zugleich, mit den unveränderlichen Vorgaben der Staatspartei zu leben. Erst recht war sie in ein festes ideologisches Gedankengebäude eingebunden, als sie an der Akademie der Wissenschaften der DDR in der Grundlagenforschung zu arbeiten begann. Die junge Physikerin, die sich zunächst in der FDJ engagierte, war gewohnt, sich einer Generallinie zu fügen - ohne dieser unbedingt zuzustimmen.
Der Charme der Demokratie bleibt ihr fremd
Die Diktaturerfahrung nimmt Angela Merkel das Gespür dafür, dass der Charme der Demokratie auch in der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach politischen Inhalten liegt. Es bleibt die Aufgabe der Parteien, zur klaren Verbalisierung von politischen Inhalten und zum Diskurs beizutragen. "Politische Willensbildung" wird das auch genannt. Wenn allenthalben über die Mediendemokratie lamentiert wird, die zur Verkürzung und zur Verflachung der politischen Debatte zwinge, so wird nur noch deutlicher: Die Union braucht jenen Mut zum Profil, der ihr in der Ära Merkel ausgegangen zu sein scheint.
Doch eine Eigenschaft vor allem hat Angela Merkel immer ausgezeichnet und geschützt: ihr Machtinstinkt. Und sie kann warten. Warum sollte die Parteivorsitzende im kommenden Jahr gegen Gerhard Schröder antreten, wenn das Rennen sowieso aussichtslos wäre? Kann sie den Sattel festzurren, auf dem sie derzeit sitzt, dann sitzt sie einstweilen viel bequemer.