Parteienaversion:

Erbgut politischer Kultur in Deutschland

Redaktionelle Vorbemerkung: Bei jedem Parteiskandal - etwa der Parteispendenaffäre der CDU - wird
befürchtet, daß dieser den Parteien insgesamt schadet. Gleiches gilt, wenn Konflikte ausgetragen werden,
die als bloßer "Parteienstreit" gelten und deren inhaltlicher Grund nicht erkennbar oder erkannt ist. Daß
Einzelvorgänge und politisches Versagen sehr schnell in der Öffentlichkeit zu allgemeiner Parteienkritik führen, hat seinen Hintergrund in einem tief im öffentlichen Bewusstsein sitzender Vorbehalt gegenüber Parteien und Politikern, der historische antidemokratische und elitäre Wurzeln hat. Hermann Scheer hat diese 1979 als einer der ersten in seinem Buch "Parteien kontra Bürger. Die Zukunft der Parteiendemokratie" (Piper-Verlag) beschrieben. Das Thema ist aktuell geblieben. Zum "Nach"-Lesen nachfolgend der Abschnitt "Parteienaversion: Erbgut politischer Kultur in Deutschland" in seiner Originalfassung.



Es gab und gibt Parteien in Deutschland, die sich nicht gerne Partei nennen und Begriffe wie Vereinigung, Block, Bund, Bewegung, Gemeinschaft, Aktion, Union vorgezogen haben. Damit versuchten sie im Mantel der Überparteilichkeit aufzutreten, weil Parteien in der deutschen politischen Kultur gebrandmarkt sind. Seit dem Beginn der modernen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert besteht ein Unbehagen gegenüber Parteien, das ein Produkt gegen die repräsentative parlamentarische Parteiendemokratie gerichteter Ideologien ist. Die konservative Oberschicht des Adels und des Königtums, die sich als gottgewollte und natürliche Herrscher des Volkes ausgaben; die Verfechter direkter Demokratie, die in der politischen Führung einen unvermittelten Volkswillen verkörpert sehen wollen; die Vertreter der privilegierten bürgerlichen Eliten, die parlamentarische Politik als exklusive Angelegenheit besitzender, gebildeter und individuell unabhängiger Honoratioren betrachteten: sie alle nährten und pflegten die deutsche Parteienaversion. Die Vorbehalte sind bis heute unverändert: die Parteien schöben sich zwischen Führung und Volk, Volk und Führung, Volk und Volksvertreter und verfälschen damit die Führungsverantwortung und den Volkswillen.


Um diese aus unterschiedlichsten Staats- und auch Demokratievorstellungen gespeisten Aversionen zu einer Überideologie zu machen, wurden keine Diskriminierung und kein Missverständnis parteipolitischen Handelns ausgelassen, die frühzeitig zu hartnäckig fortlebenden Vorurteilen wurden. Am offenkundigsten ist bis heute die Voreingenommenheit innerhalb der Kommunalpolitik verbreitet, die mit Parteipolitik nichts zu tun haben dürfe. So "lösen noch weithin in Deutschland die Begriffe Partei, Parteipolitik und Parteipolitiker automatisch eine ganze Fülle ausgesprochen negativer Assoziationen aus: Einseitigkeit der Sicht und des Urteils, Befangenheit im Dogmatismus und Traditionalismus, Einfallslosigkeit und Immobilität, Ideenarmut und Borniertheit, Irreführung des harmlosen Volkes und ahnungsloser Mitglieder durch hermetisch sich abschließende und im Grunde unkontrollierbare Führungsoligarchien, innerparteiliche Meinungsknebelung und parlamentarischer Fraktionszwang, Intoleranz und Fanatismus, Intrigantentum und Macchiavellismus, Cliquenwesen und Korruption, Ämterpatronage und Karrieremacherei, und schließlich durch all das Schädigung des Allgemeinwohls und Aushöhlung der Staatsautorität durch einen parteigebundenen Gruppenegoismus - das Sündenregister der politischen Parteien ist in den Augen breitester Volksschichten endlos und mit allen erdenklichen Lastern gespickt."1



Konservative Parteienaversion: Herrschaft über das Volk gegen die Parteien


Im konservativen Spektrum des 19. Jahrhunderts war die Antiparteienhaltung Ausdruck des Widerstandes der den Staat beherrschenden Klasse gegen Demokratisierungsbestrebungen. Politik galt ihr nicht als Sache des Volkes, das zu anderem geboren war. Die sich mit den Parteien entwickelnde Politisierung des Volkes, die Forderung nach einer Parlamentarisierung der Staatsmacht, wurde als Anschlag auf Staat und Nation und als artfremde Verführung des Volkes verunglimpft.

Parteienaversion und Ablehnung des Parlaments gehörten zusammen. Parteien waren die Ausgeburt von Demokratie und Demokratie galt als Missgeburt des unreifen Volkes. Der konservative Reichstagsabgeordnete Oldenburg-Januschau 1910 im Reichstag: "Der König von Preußen und der deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu seinem Leutnant zu sagen: "Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag.""2

Hans Delbrück, einer der repräsentativen Denker des monarchischen Obrigkeitsstaates, in seiner Schrift "Regierung und Volkswille": "Es kann nicht anders sein, als daß jede Parteiregierung die Gefahr mit sich bringt, daß der Staat nicht ganz nach seinem eigenen inneren Bedürfnis, sondern nach einem im tiefsten Grunde abweichenden regiert wird."3



Linke Parteienaversion: Herrschaft des Volkes ohne Parteien


Parteienvorbehalte richteten sich jahrzehntelang vorwiegend gegen die SPD, die der Hauptträger der Demokratisierung und Politisierung war. Die SPD wird mehr als andere als Partei identifiziert. Affekte gegen Parteien sind deshalb auch überwiegend konservativen Ursprungs. Es gibt jedoch auch eine linke Parteienaversion, die im politischen Denken ebenso ihre Spuren hinterlassen hat wie die rechte. Zwar sind die Motive linker Parteienaversionen andere als die der rechten, die Ausdrucksform ist jedoch nicht selten bis in die Begriffswahl täuschend ähnlich. Linke Parteienaversionen gehen auf revolutionsstrategische Debatten des 19. Jahrhunderts zurück. Dabei ging es um die Frage, ob ein parlamentarisches System mit mehreren konkurrierenden Parteien eine geeignete Voraussetzung zum Durchsetzen sozialistischer Ziele darstelle oder ob einer Beteiligung am Parlamentarismus, wenn überhaupt, nur eine zeitweilige, taktische Richtung zur besseren Durchsetzung sozialistischer Ordnungsziele zukomme, deren Verwirklichung zugleich die Abschaffung des Parlamentarismus bedeuten müsse.

Dieser Unterschied ist gleichbedeutend mit der Frage, ob die sozialistische Partei ein auf Dauer angelegtes politisches Organisationsprinzip in einer pluralistischen Gesellschaft oder ob sie eine Kampforganisation zur Revolutionierung der Gesellschaft sei, die mit der Schaffung einer neuen politischen Ordnung ihren Zweck erfüllt habe und dann überflüssig werde. Nicht die Existenzberechtigung der Partei war bestritten, umstritten war ihr Zweck. Als sich in der SPD die reformerisch-parlamentarische Funktion durchsetzte, wurde sie von linksradikaler Seite mit einer antiparlamentarischen und einer antiparteipolitischen Einstellung konfrontiert, die bis heute die linke Kritik an der Sozialdemokratie prägt.

Der Parlamentarismus wurde in der Marx′schen Theorie als die Herrschaftsform der Bourgeoisie betrachtet. Die demokratische Volksrepublik sollte die Alternative zum bürgerlichen Parlamentarismus sein, wofür die Rätedemokratie nach dem Vorbild der Pariser Kommune von 1871 als eine modellhaft geeignete Regierungsform angesehen wurde. Karl Marx: "Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen."7 Parteien wären unter solchen Bedingungen der Volksherrschaft kein politischer Organisationsfaktor. Marx vertraute auf die Rationalität des Volkswillens, wobei er das Volk nach der Überwindung der Klassenherrschaft als ein homogenes Ganzes auffasste.

In der Sozialdemokratie setzte sich jedoch die Anerkennung des Parlamentarismus mit zunehmenden Wahlerfolgen durch, was bald zu der Forderung nach Schaffung einer parlamentarischen Republik führte. Der führende marxistische Parteitheoretiker Kautsky schrieb 1912: "Das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt die Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Volks zum Herrn der Regierung."8 Der parlamentarische Reformismus wurde von Opponenten innerhalb der SPD erbittert bekämpft. Die Kritik am parlamentarischen Reformsozialismus begründete nun die linke Parteienaversion. Rosa Luxemburg charakterisierte bereits 19oo die parlamentarische Methode des französischen Sozialistenführers Jean Jaures: Einerseits werde versucht, "in den Arbeiterkreisen übertriebenste Hoffnungen und Illusionen in Bezug auf die positiven Errungenschaften zu verbreiten, die sie vom Parlament überhaupt erwarten dürfen.

Das bürgerliche Parlament wird nicht bloß als das berufene Werkzeug des sozialen Fortschritts und der Gerechtigkeit, der Hebung der Arbeiterklasse, des Weltfriedens und dergleichen Wunderdinge gepriesen: es wird sogar als das berufene Mittel zur Verwirklichung auch der Endziele des Sozialismus hingestellt. So werden alle Erwartungen, alles Streben, alle Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse auf das Parlament konzentriert. Andererseits wird im Parlament selbst das Verhalten der ministeriellen Sozialisten ausschließlich darauf gerichtet, den traurigen, innerlich toten Rest bürgerlicher Demokratie zur Herrschaft zu bringen und am Leben zu erhalten. Zu diesem Behufe wird der Klassengegensatz der proletarischen Politik zur bürgerlich-demokratischen Politik ganz verleugnet, die sozialistische Opposition aufgegeben, und schließlich treten die jauresistischen Sozialisten in der parlamentarischen Taktik selbst als rein bürgerliche Demokraten auf. Von den Rechten unterscheiden sich diese verkleideten Demokraten nur noch durch das sozialistische Schild und - durch eine größere Mäßigung."9

1916 gestand Karl Liebknecht dem Parlamentarismus allein eine operative Funktion im Klassenkampf zu: Das Parlament "kann der revolutionären Bewegung wichtige Hilfe leisten. Aber nicht als Gesetzesfabrik, nicht als Schwatztheater und Gebetsmühle einer parlamentarischen "Opposition", sondern indem es vom Klassenkämpfer, der sein parlamentarisches Mandat nur für diesen Zweck erworben hat, zur revolutionären Tribüne verwandelt wird, von der er den Feuerbrand ins Gebälk der herrschenden Ordnung und den Schlachtruf in die Massen schleudert. Welcher Sozialist das Parlament heute nicht als Werkzeug in den Dienst der Massenaktion stellt, macht es zur plappernden Spinnstube oder zu schlimmerem. Welcher Sozialist es heute nicht benutzt, um das Vertrauen, die Hoffnung der Arbeiterklasse wie auf Regierung, Reichskonferenzen, Partei- und Gewerkschaftsinstanzen, so auch auf den Reichstag und auch auf die parlamentarischen Scheinaktionen der sozialistischen Abgeordneten der Opposition systematisch und in der Wurzel auszurotten, ist ein Irreführer, kein Führer des Proletariats."10

In seiner Schrift "Staat und Revolution" hat Lenin die antiparlamentarische Position nachhaltig unterstrichen: "Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten soll, - das ist das wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus, nicht nur in den parlamentarisch-konstititionellen Monarchien, sondern auch in den außerdemokratischsten Republiken. Ohne Vertretungskörperschaften können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht; ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns denken, soll die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für uns nicht ein leeres Gerede sein."11

Die Position Lenins wurde die der Kommunistischen Parteien. Eine Teilnahme am Parlament wurde nicht grundsätzlich abgelehnt, sie diente aber einem klar von Lenin definierten Zweck: Die parlamentarische Beteiligung der kommunistischen Partei erleichtere es, "den rückständigen Massen zu beweisen, weshalb solche Parlamente auseinandergejagt zu werden verdienen, ihr ihre erfolgreiche Auseinandersetzung erleichtert und dazu beiträgt, daß der bürgerliche Parlamentarismus sich "politisch" überlebt."12 Doch nicht einmal diese taktische Position blieb unbestritten. So schieb Otto Rühle zu "Parlament und Parteien" 1924: "Die erste revolutionäre Leistung des Proletariats hätte folgerichtig die Beseitigung der Parlamente sein müssen. Aber es konnte diese Leistung nicht vollbringen, weil es selbst noch in Parteien organisiert, also in Organisationen gebunden war, die im Grunde bürgerlichen Charakters und infolgedessen unfähig sind, bürgerliches Wesen, d.h. bürgerliche Politik, Wirtschaft, Staatsordnung, Ideologie, zu überwinden. Eine Partei braucht das Parlament und den Parlamentarismus, wie das Parlament die Parteien braucht. Eine bedingt das andere, stützt und hält sich gegenseitig. Die Aufrechterhaltung der Partei bedeutet die Aufrechterhaltung des Parlaments und damit die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Macht. Nach dem Vorbild des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen ist auch die Partei autoritär-zentralistisch organisiert. Alle Bewegung geht in ihr in Form des Kommandos von der Spitze des Zentralvorstandes bis zur breiten Masse der Mitgliederschaften. Unten die Masse der Mitglieder, darüber die Staffel der Angestellten des Ortes, des Bezirkes, des Landes, des Reiches. Die Parteisekretäre sind die Unteroffiziere, die Abgeordneten die Offiziere. Sie erteilen die Kommandos, geben die Parolen aus, machen die Politik, sind die hohen Würdenträger. Parteiapparat, in Gestalt von Büros, Zeitungen, Kassen, Mandaten, gibt ihnen Verfügungsgewalt über die Masse der Mitglieder, der sich keiner entziehen kann."13 Der für "den Zentralismus typische Kadavergehorsam" sorge für die "nötige Resonanz der Subordination". Wer verhandele, "anstatt den Gegner zu packen und zu Boden zu werfen", rette die Bourgeoisie. Der "Verrat an den Massen" ergäbe sich nicht aus "schuftiger Gesinnung", sondern sei die "Konsequenz des bürgerlichen Wesens jeder Partei- und Gewerkschaftsorganisation". Rühle: "Die Stunde der Parteien ist gekommen, wie die Stunde der bürgerlichen Gesellschaft gekommen ist. Sie werden sich noch halten, wie sich auch Innungen und Zünfte aus dem Mittelalter gehalten haben: als überlebte Institution ohne geschichtsbildende Kraft."14

Diese Parteienvorstellung, die bereits einen unverkennbaren psychologischen Einschlag zeigt, kommt den Parteienvorstellungen der antiautoritären Protestbewegung in den 6oer Jahren bereits sehr nahe. Auch hier wurden die Parteien als ein Element im "Kartell der Etablierten" begriffen, das als ein Konglomerat aus Staat, Parteien, Verbänden und Medien zur Sicherung der Kapitalherrschaft galt. Einen wesentlichen Einfluss auf die Parteieneinschätzung der studentischen Protestbewegung hatte die Schrift von Johannes Agnoli zur "Transformation der Demokratie": "Die Parteien trennen sich von der eigenen, aktuellen oder potenziellen Basis und werden zu staatspolitischen Vereinigungen". Die Parteiorganisationen erlebten eine "Verdinglichung". Da eine demokratische Partei den Herrschaftsmechanismus störe, würden zur rechtzeitigen Verhinderung dieser Störung die Führungsstäbe der Parteien "selbst an den Institutionen der Herrschaft" beteiligt. "Dem kommt fraglos der Drang der Führungsstäbe entgegen, sich selbst unter Umgehung der breiten Mitgliedschaft in das Herrschaftssystem einzubauen.

Der aus diesem Prozess entstehende (oligarchische) Verband mediatisiert seine Mitglieder: sie werden zum Werkzeug der Pläne und Interessen der Führungsstäbe." In Form einer "Friedensintegration" schließen die Volksparteien in sich die Interessenkompromisse und dann wieder untereinander, so daß der Interessenantagonismus der Gesellschaft ausgeschaltet würde. Das "wirkliche Gesicht der Volksparteien" werde offenbar: "Sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei - plural in der Methode des Herrschens, einheitlich als Träger der staatlichen Herrschaft gegenüber der Bevölkerung, einheitlich vor allem in der Funktion, die die Volksparteien innerhalb der westlichen Gesellschaft übernehmen." Dies könne nur durch eine "Fundamentalopposition" durchbrochen werden, die in der marxistischen Tradition liege. "Marxistische Klassenparteien streben keine Kooperation gesellschaftlich sich entgegenstehender Gruppen und keinen sozialen Ausgleich an. Vielmehr fordern sie die Anerkennung des Totalitätsanspruchs der Proletarierklasse durch die anderen und zielen auf diesen Anspruch im Klassenkampf." Dies wird dennoch als die demokratische Alternative begriffen, da die "plural-gleichförmige Fassung" der Volksparteien im "faschistischen Einheitspartei-Typus vorgebildet" sei.15

Zwangsläufig wurden rätedemokratische Ideen wieder als Alternative neu aufgelegt. Unter Verzicht auf reale Analysen politischer Strukturen wurden erneut halb- und scheinplausible Erscheinungen zu umfassenden Theorien zusammengefügt. Auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte drückte Rudi Dutschke die Einschätzung der antiautoritären Protestbewegung hinsichtlich der parlamentarischen Parteien aus: "Die Parteien lassen sich nur noch als Instrumente der Exekutive benutzen. Wie steht es um die innerparteiliche Demokratie bei CDU und SPD? Wo ist noch die Selbstständigkeit der Parteimitglieder? Worin drückt sich die aus? Was geschieht auf den Parteitagen? Die Parteitage von CDU und SPD entsprechen den Parteitagen der KPdSU der 30er Jahre: keine Selbsttätigkeit von unten, nur noch Manipulation von oben; Führer, die keinen Dialog mit der Basis führen; verselbstständigte Führungselite, die gar nicht mehr will, daß eine Diskussion stattfindet, da nämlich die praktisch-kritische Infragestellung das Ende der bürokratischen Institutionen wäre. Und das will man nicht. Die Parteien sind nur noch Plattformen für Karrieristen. Ich denke, daß die Parteien und das Parlament nicht mehr die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse von vielen Menschen repräsentieren. Wir haben eine Interessendemokratie. Eine Vielfalt von Interessengruppen trifft sich an der politischen Börse und führt in der Anerkennung des bestehenden Staates nur noch einen Scheinkampf um den Anteil am Brutto-Sozialprodukt."16

Liberale Parteienaversion: Politik des Individuums gegen Parteienkollektivismus


Für die Liberalen des 19. Jahrhunderts war Demokratie eine Angelegenheit der durch Besitz und Bildung dafür qualifizierten Individuen. Der liberale Theoretiker Johann Caspar Bluntschli formulierte dieses Ansinnen in seinem "Staatswörterbuch", in dem er für das Pluralwahlrecht eintritt: "In der Tat, auf dem Gegensatz von Hand- und Kopfarbeit, der geistigen und leiblichen Tätigkeit beruht der Unterschied, der auch für die Organisation des Staates und für dessen politisches Leben von größter Bedeutung ist. Für die liberalen Berufe des dritten Standes ist eine höhere Bildung ein unerlässliches Erfordernis, und gewöhnlich haben daher auch nur diese Personen die Fähigkeit und Muße, für den Staat geistig zu arbeiten. Den großen, mehr mit der materiellen Bebauung des Bodens, dem Kleinhandel, der Fabrikarbeit beschäftigten Klassen fehlt es dagegen durchweg an der nötigen Bildung und Muße, um sich den Staatsgeschäften zu widmen."17

Auch die Liberalen waren vor 1914 überwiegend zurückhaltend gegenüber den sozialdemokratischen Forderungen nach einem Wahlrecht, das die Stimmen nach der Zahl und nicht nach persönlichem gesellschaftlichem "Gewicht" wiegt. Parteien wurden ein "notwendiges Übel", um zu einer überschaubaren und geordneten Willensbildung zu kommen, sie sollten aber nicht die Autonomie des einzelnen Abgeordneten beeinträchtigen. Als Repräsentanten der Bildungs- und ökonomischen Eliten waren die Liberalen gegen die Vermassung der Demokratie und gegen die Entwicklung zur Massenpartei, in der die Persönlichkeit des einzelnen verschwimmt. Deshalb waren die Liberalen auch zunächst immer für das Mehrheitswahlrecht bzw. Persönlichkeitswahlrecht anstelle eines Verhältniswahlrechts bzw. Listenwahlrechts, das den Einfluss der Parteien stärkt.

Seit die großen Massenparteien und Volksparteien die Aussichten der bedeutungsloser gewordenen liberalen Parteien auf Erringung eines Mandats auf dem Wege des Mehrheitswahlrechts vernichtet haben, sind die Liberalen aus existenziellen Gründen für das Verhältniswahlrecht - gegen ihre ursprünglichsten Prinzipien. Der Art. 38 des Grundgesetzes, nach dem die Abgeordneten "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind, entspricht der liberalen Demokratietradition. Dieser Artikel steht im Spannungsverhältnis zum Art.21 nach dem die Parteien "bei der politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken, der den Gegebenheiten einer Massendemokratie Rechnung trägt.

Sehr breit vertreten sind zwei Elemente der liberalen Denktradition, die sich nur schwer mit Parteien anfreunden kann, wobei sich dieses Denken von der Liberalen Partei abgelöst hat und heute mehr allgemein nachwirkt. Der eine Grundzug hebt die personale Verantwortung im politischen Prozess hervor, die auch in der Parteiendemokratie nicht an die kollektive Willensbildung abgegeben werden darf. Sie ist tatsächlich ein Wesenselement demokratischer Politik, zu der ein größtmögliches Maß an persönlicher weit- und umsichtiger Verantwortung in der politischen Praxis und bereits bei der Wahrnehmung des aktiven und passiven Wahlrechts gehört. Da aber nur mit Parteien heillos zersplitterte und machtlose Willensbildungen zu verhindern sind, muß das persönliche Element mit dem kollektiven Moment durch innerparteiliche Demokratie verknüpft werden. Der Zusammenhang beider Faktoren wird aber in der Öffentlichkeit nicht widerspruchsfrei beachtet.

So gibt es einerseits die Scheu, in Parteien einzutreten, weil man in der politischen Aussage nicht die persönliche Autonomie verlieren will, andererseits wirkt es abträglich für eine Partei, wenn sie im Rahmen innerparteilicher Demokratie Konflikte austrägt und der Eindruck mangelnder Geschlossenheit entsteht. Einerseits wird vorgeworfen, daß sich die parlamentarischen Parteien durch Einführung der 5 %-Klausel eine Oligopolstellung gesichert haben, andererseits findet die Mehrheits- bzw. Persönlichkeitswahl mehr Anklang als eine Verhältnis- bzw. Listenwahl, wobei nicht bedacht wird, daß bei der Einführung eines Mehrheitswahlrechts die Chancen kleinerer Parteien, Abgeordnete ins Parlament zu bekommen, vollkommen schwinden müßten. Einerseits wird den Parteien der Oligarchievorwurf gemacht, andererseits gewinnt die Person des Spitzenkandidaten zunehmend eine wahlentscheidende Bedeutung - wobei wiederum nicht bedacht wird, daß dadurch eine populäre Führungsfigur relativ unabhängig von den Ergebnissen innerparteilicher Willensbildung wird und in eine monokratische Führungsrolle hineinwächst. Es wird die mangelnde individuelle Unabhängigkeit des Abgeordneten beklagt, dennoch mindert es das öffentliche Ansehen einer Regierung, wenn es zu abweichendem Stimmverhalten in den Reihen der Regierungsfraktionen kommt.

Ein zweites Element traditioneller liberaler Parteienaversion betrifft die persönliche Situation


der Politiker. Selbst rein ehrenamtlich tätige Politiker sind dem dumpfen Verdacht ausgesetzt, materiellen Zielen nachzuspüren, obwohl die politische Aktivität für die allermeisten ein erhebliches finanzielles Opfer bedeutet und die zeit- und kräfteraubende politische Arbeit eher mit beruflichen und familiären Nachteilen verbunden ist. In einer Zeit, in der der Gehaltsstreifen das wichtigste Anreizsymptom ökonomischer Leistungssteigerung ist, wird den politisch Aktiven nicht abgenommen, daß sie überwiegend immaterielle Motive haben. Wie zu alten Zeiten sind nur ohnehin vermögende Personen frei von dem Verdacht, sie würden sich über die Politik zusätzliche Einkommensquellen erschließen. Die Politiker werden nach einer Umfrage des "Bundes der Steuerzahler" als die höchstverdienende Einkommensgruppe nach den Ärzten eingeschätzt. Das Einkommen der Parlamentarier ist eine beliebte Zielscheibe, obwohl die Netto-Bezüge von Bundestagsabgeordneten nicht höher sind als die eines höheren Ministerialbeamten oder eines Schulleiters, bei unvergleichlich höherer Beanspruchung und dem dauernden Risiko der Wiederwahl des Abgeordneten. Hinter dem dennoch verbreiteten Vorurteil, die Abgeordneten würden sich bei der Festlegung ihrer Diäten über Gebühr schadlos halten, steckt nach wie vor die elitäre bürgerliche Prämisse, der Parlamentarier dürfe nicht von der Politik und nur für die Politik leben - ungeachtet der Tatsache, daß dann nur noch ein verschwindend kleiner Personenkreis von Privilegierten für ein Mandat in Frage kommen könnte.


Die Aktualität der Parteienaversion


Nicht jede Kritik an Parteien deutet auf Parteienaversionen, politisch ungelöste Krisengefahren, die Strukturen inner- und zwischenparteilicher Konflikte und die Funktionsweise der Parteien zeigen eine Fülle von Unzulänglichkeiten, die eine Kritik an Parteien nicht nur rechtfertigen, sondern für eine funktionsfähigere Parteienpolitik auch dringend erforderlich machen. Typisch für eine Parteienaversion sind dagegen pauschale Generalisierungen von Fehlverhalten innerhalb einzelner oder aller Parteien, ein verbreitetes Unverständnis über die notwendige Funktionsweise einer politischen Partei und unerfüllbare, widersprüchliche Erwartungen.

Für vorhandene Parteienaversionen sind die Parteien zu einem großen Teil selbst verantwortlich, weil sie es zu sehr versäumt haben, ihre Handlungsbedingungen offen zu legen und der Bevölkerung verständlich zu machen. Parteien erscheinen immer noch vielen Bürgern als hermetisch abgeschlossene Gebilde, die in Hinterzimmern ein vom Bürgerinteresse abgehobenes Machtspiel und Positionsgerangel von Funktionären betreiben. Oder sie erscheinen als phantomartige Gebilde, von denen die schnelle Lösung aller Probleme erwartet wird und die voreilig für alle Mißstände verantwortlich gemacht werden. Dennoch werden der Parteipolitik in vielen Beziehungen die Zuständigkeiten verwehrt, die ihr den Zugriff auf Probleme erst ermöglichten. Nur so kann es geschehen, daß etwa die SPD-geführte Regierung für Krisen in der Privatwirtschaft verantwortlich gemacht und ihr die noch unbewältigte Arbeitslosigkeit angekreidet wird, während sie gleichzeitig mit erheblichen Stimmeneinbußen rechnen muß, wenn sie das politische Instrumentarium für lenkende Eingriffe in die privatwirtschaftlichen Strukturen ausweiten will; oder daß dem Parlamentarier Einfallslosigkeit und Inkompetenz gegenüber neuen gesellschaftspolitischen Herausforderungen vorgehalten wird, während er gleichzeitig seine Zeit bei allen möglichen öffentlichen Gelegenheiten und in vielerlei Gremien abrepräsentieren und -sitzen muß und
damit einem Verschleißprozeß ausgesetzt ist, der keinem adäquaten Aufwand/Nutzen-Vergleich mehr standhält. Daß Parteipolitik konsumiert und von Bürgern zu wenig als ihre eigene Angelegenheit begriffen wird, ist eine Folge der Parteienskepsis bis -feindschaft in der deutschen politischen Kultur. Parteien wird unmenschliches zugetraut und gleichzeitig übermenschliches von ihnen erwartet. Der Politiker soll selbstloses "Mädchen für alles" sein und gleichzeitig ein "Aschenputtel" . Ärzte ereifern sich in aller Öffentlichkeit über Politikergehälter, obwohl die für selbstverständlich gehaltenen Durchschnittseinkommen der Chefärzte das des Bundeskanzlers übersteigen. Professoren mokieren sich in Schriften über mangelnde innerparteiliche Demokratie und Positionsgerangel, gleichzeitig versagen sie vor der Aufgabe einer demokratischen Selbstverwaltung und mauscheln um Berufungslisten. Der Kompromiß in der Politik wird von denselben Leuten als etwas "Faules" kritisiert, die in ihrem täglichen Leben ständig zu Kompromissen gezwungen sind und diese dort als selbstverständlich betrachten. Weil Parteien immer noch als etwas Abnormes begriffen werden, wird ihnen nicht die Normalität zugestanden, für die in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen Verständnis aufgebracht wird.

Wie der Politiker sich gegenüber dem Bürger nicht wie der Obertan zum Untertan verhalten darf, gehört zur politischen Kultur einer Parteiendemokratie, daß der Bürger den Politiker ebenso als normalen Bürger und nicht als Kastenmitglied versteht. In einer Gesellschaft, deren Bürger soziales, demokratisches, solidarisches und gerechtes Verhalten kaum gelernt haben oder es durch den individuellen Leistungskampf verlernen, müssen die Parteien die Bürger motivieren, den unpolitischen Alltag aufzugeben, damit sie die Parteien anders als im Dunst der Parteienaversion sehen lernen können. Dabei zeigt sich, daß konzeptionelles Versagen von Parteien vor gesellschaftlichen Krisengefahren nicht nur Diskussionen um neue Strategien der Parteien auslöst. Stets werden dann Thesen aufgeworfen, die konzeptionelles Versagen auf die Existenz parlamentarischer Parteien insgesamt zurückführen und ganz anderen politischen Organisationsformen das Wort reden. Die Antiparteien-Kultur wird immer dann besonders belebt, wenn die Politik der Parteien unzulänglich ist.

Anmerkungen:
1 Karl Friedrich Kindler: Der Antiparteienaffekt in Deutschland, in: Gesellschaft - Staat - Erziehung, 1958, S. 113
2 Graf Oldenburg-Januschau: zit. n. Hartmut Wasser: Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, Stuttgart 1974.
S. 49
3 Hans Delbrück: Regierung und Volkswille, Berlin 1914, S. 180
4 Oswald Spengler: Neubau des deutschen Reiches, München 1924
5 Heinrich Triepel: Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berlin 1928, s. 24f.
6 Hans-Helmuth Knütter: Demokratische Institutionen aus der Sicht rechtsradikaler Kreise der Bundesrepublik, in: Politische Vierteljahresschrift, 1966, S. 189-207
7 Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in Marx-Engels-Studienausgabe IV, Frankfurt 1966, S. 214
8 Karl Kautsky: Die neue Taktik, zit. n. Hartmut Wasser: a.a. O. S. 45
9 Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd., Berlin 1970, S. 452
10 Karl-Liebknecht: zit. n. Hartmut Wasser: a.a.O., S. 43
11 Wladimir Iljitsch Lenin: Staat und Revolution, Berlin 1970, S. 49-51
12 Ders.: a.a.O.
13 Otto-Rühle: Parlament und Parteien, in: Wilfried Gottschalch (Hrsg.): Parlamentarismus und Rätedemokratie, Berlin 1968, S. 47ff.
14 Der.: a.a.O.
15 Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967, S. 30ff.
16 Rudi Dutschke: zit. N. Kai Hermann: Die Revolte der Studenten, Hamburg 1968, S. 51
17 Johann Casper Bluntschli: zit. N. Kurt Lenk/Franz Neumann (Hrsg.): Theorie und Soziologie der politischen Parteien, Neuwied 1968, S. XXXVIf

Dem jungen Parteienstaat der Weimarer Republik begegnete Oswald Spengler, einer der Wortführer der "konservativen Revolution", in seiner Schrift über den "Neubau des Reiches" mit einer Haßorgie: "Aus der Angst um den Beuteanteil entstand auf den großherzoglichen Samtsesseln und in den Kneipen von Weimar die deutsche Republik, keine Staatsform, sondern eine Firma. In ihren Satzungen ist nicht vom Volk die Rede, sondern von Parteien; nicht von Macht, von Ehre und Größe, sondern von Parteien. Wir haben kein Vaterland mehr, sondern Parteien; keine Rechte, sondern Parteien; kein Ziel, keine Zukunft mehr, sondern Interessen von Parteien." Parteien sind "Erwerbsgesellschaften mit einem bezahlten Beamtenapparat", "Schwärme von Parasiten am Körper des Reiches", Gemeinschaften "beschränktester und schmutzigster Interessen". Abgeordnete sind "Stimmvieh", "zweifelhafte Leute", Ministersitze eine "Beute", "ohne Rücksicht auf Eignung, Arbeitswillen oder Arbeitskraft", und "Politik ist die Fortsetzung der Privatgeschäfte mit anderen Mitteln".4 Ein Großteil der Staatsrechtslehrer verneinte eine Legitimation der Parteien, die - so Heinrich Triepel - eine "extrakonstitutionelle Erscheinung" seien und die Gestalt "eines dem Staatsorganismus fremden Körpers" hätten.5 Parteien galten nun als die eigentlichen Verhinderer der Demokratie, die allein durch eine Kombination von starker Staatsführung und eines, vorbei an Parlament und Parteien, zu ermittelnden plebiszitären Volkswillens gewährleistet sei. Diese Einstellung erleichterte die Abschaffung von Parteien, Parlament und Demokratie 1933.

Als die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik etabliert und grundsätzlich in der Bevölkerung akzeptiert war, hatte der Antiparteieneffekt schon sein Eigenleben, zusätzlich verfestigt durch die Erfahrung des Parteiengemetzels vor 1933 und den anschließend erlebten Verwüstungen durch die faschistische Parteibewegung. Die rechten Splitterparteien setzten die offene Agitation gegen Parteien fort. Das Grundgesetz habe "das Staatswesen zum willenlosen Werkzeug der Partei gemacht, das Volk der absoluten Parteidiktatur ausgeliefert und unsere Volkskraft in Atome zersplittert", es wirken "allerlei dunkle Mächte", "verselbstständigte und unabsetzbare Parteiapparate", durchsetzt von "innerer Korruption" und "destruktiv".6 Im Politischen Lexikon der NPD heißt es in den 60er Jahren: "Die Macht des Parlaments wird von den Parteien getragen. Dabei besteht die Gefahr, daß der Wille des Volkes und der Wille seiner Repräsentanten in wesentlichen politischen Fragen auseinandergehen, insbesondere dann, wenn sich die Volksvertreter nicht mehr als Repräsentanten der Gesamtheit, sondern nur noch als Funktionäre einer straffen Parteiorganisation betrachten" Es bedurfte Mitte der 60er Jahre nur des passenden Anstoßes, um den Antiparteieneffekt als einen der rechtsradikalen Antriebsmotoren wiederzubeleben. Dennoch wäre die Parteienaversion vielleicht zu einem rudimentären politischen Kulturelement degeneriert, wäre er nur auf rechtskonservative und undemokratische Kreise beschränkt geblieben.
Parteienaversionen entstehen nicht von selbst, sondern sind ideologisch fabriziert. Einmal vorhanden, dient jeder Anlass dazu, das Vorurteil insgesamt bestätigt zu finden. Solche Anlässe können Ausflug von Einzelvorgängen sein, die sich nicht verallgemeinern lassen, wie Spendenaffären, Bestechungsereignisse, Mandatseinkäufe. Sie können aber auch eine für einen demokratischen Parlamentarismus zwingend erforderliche Angelegenheit sein, wie Abgeordnetenvergütungen oder handfeste politische Kontroversen. Der Antiparteieneffekt ist ein Erbgut der politischen Kultur der Deutschen, über dessen Herkunft und Funktion sich viele nicht im klaren sind, und das seine unmittelbaren Nachfahren in nahezu allen politischen Richtungen hat.

Mancher wird überrascht sein, in welcher gedanklichen Verwandtschaft er sich in seiner Parteienaversion befindet. Bis heute bewirkt diese Abneigung eine bedenkliche Entpolitisierung, die unzählige davon abhält, sich parteipolitisch zu beteiligen. Sie wird zum billigen persönlichen Vorwand, sich politisch zu verweigern und sich dabei noch arrogant über diejenigen zu erheben, die aktive Demokraten in Parteien sind. Das überwiegend selbstlose und aufopferungsvolle politische Engagement unzähliger Parteimitglieder wird haltlosen generellen Verdächtigungen ausgesetzt. Die Parteienaversion verhindert nicht nur, daß größere Bereitwilligkeit zur aktiven politischen Beteiligung in Parteien entsteht, sie wirkt auch zersetzend auf bestehende Neigungen dazu. Es gilt als positiver Nachweis, kein Parteimensch zu sein, was als Beweismittel für die Fähigkeit, "das Ganze" zu überschauen, angesehen wird. Der "Unparteiische" gilt als glaubwürdiger und charaktervoller als der "Parteiische". Es soll deshalb nochmals der Spur und verstreuten Spurenelementen der Parteienaversion nachgegangen werden. Dabei werden einige zentrale Effekte, die zum politischen Alltag der Gegenwart gehören, aufgezeigt. Es lassen sich drei Grundbereiche der Parteienaversion ausmachen, zwischen denen später ideologische Verbindungswege entstanden. Das Feld des konservativen Autoritarismus, des linken Radikalismus und des liberalen Individualismus.

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