Perspektive: europäische Sozialpolitik
Beschäftigung und soziale Sicherheit sind eine Sache Europas
Am Ende dieses Jahrtausends zeigt sich, dass wir mit Europa einen zusätzlichen Handlungsrahmen für Politik gewonnen, aber auch nationale Zuständigkeiten und Einflussmöglichkeiten verloren haben. In fast allen Bereichen gibt es "europäische Bezüge", sind in Brüssel vereinbarte Vorgaben zu beachten und politische Weichenstellungen auf ihre Vereinbarkeit mit gemeinschaftlichem Recht zu untersuchen oder nur noch im europäischen Rahmen zu verwirklichen. Dies gilt auch für die Beschäftigungs- und Sozialpolitik - wenngleich in der deutschen Debatte über soziale Gerechtigkeit, die Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme bisweilen die Ansicht vorherrscht, diese Themen ohne Berücksichtigung der europäischen Dimension behandeln zu können.
In den letzten Jahren hat sich die Sozialpolitik kontinuierlich vom Stiefkind der europäischen Politik zu einem zentralen Politikfeld entwickelt. Kaum ein Thema war ähnlich umstritten, wurde zugleich so wenig beachtet und entfaltete schließlich eine derartige Dynamik. Seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften gibt es eine ausführliche Debatte darüber, ob die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und die fortschreitende wirtschaftliche Integration eine gezielte Sozialpolitik auf europäischer Ebene erfordern. In der letzten Zeit geht es dabei insbesondere um die Frage, ob die Europäische Union angesichts der hohen Arbeitslosigkeit eine eigene Arbeitsmarktpolitik gestalten sollte oder ob dies weiterhin allein den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Es ist ein Erfolg sozialdemokratischer Politik, dass Arbeitslosigkeit und soziale Sicherheit zunehmend als Angelegenheit Europas betrachtet werden.
Europäische Sozialpolitik beruht im wesentlichen auf drei Prinzipien: Vereinbarung gemeinsamer Grundsätze, voneinander lernen und Unterstützung durch europäische Finanzmittel. Wenngleich die Gemeinschaftsverträge die Kompetenz für Beschäftigungs- und Sozialpolitik im wesentlichen bei den Mitgliedstaaten belassen und der Gemeinschaft nur in wenigen Bereichen eine Zuständigkeit übertragen, haben die Vorstellungen von einer europäischen Sozialunion im Lauf der Jahre immer konkretere Gestalt angenommen und wurden durch eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen der Gemeinschaft ausgefüllt. Dadurch entstand eine gemeinschaftliche Sozialpolitik, die das Arbeits- und Sozialrecht der Mitgliedstaaten erheblich beeinflusst hat.
Zu nennen sind das Recht auf Freizügigkeit mit der Gewährleistung sozialer Sicherheit für Wanderarbeitnehmer/innen, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Erwerbsleben und die umfassenden Regelungen zum Arbeitsschutz. Mit dem Vertrag von Amsterdam ist schließlich ein entscheidender Schritt in Richtung einer europäischen Beschäftigungspolitik gemacht worden. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich auf das gemeinsame Ziel, Arbeitslosigkeit abzubauen und durch aktive Arbeitsmarktpolitik vorhandene Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen. Entscheidend ist, dass die jeweilige Politik der einzelnen Mitgliedstaaten nunmehr der Kontrolle und Bewertung durch die europäischen Institutionen unterliegt. Dies wird unterstützt durch eine konsequente Förderpolitik aus Mitteln der Europäischen Strukturfonds, die streng an dem Ziel des Erhalts und der Schaffung von Arbeitsplätzen ausgerichtet ist.
Darüber hinaus ist es der deutschen Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 gelungen, als weiteres Element europäischer Beschäftigungspolitik eine Vereinbarung über den Europäischen Beschäftigungspakt - einen makroökonomischen Dialog - zu erzielen. Jetzt gilt es, diese Vorgaben durch konkrete Maßnahmen umzusetzen und Europa schrittweise zu einer Sozialunion auszubauen. Dazu gehört auch die Verankerung sozialer und demokratischer Grundrechte in den europäischen Verträgen, über die gegenwärtig beraten wird.
Aber europäische Sozialpolitik bedeutet nicht nur Verständigung auf gemeinsame Grundsätze. Wesentlich ist auch der Wettbewerb der unterschiedlichen Systeme, die ihren Ursprung in der Vielfalt der Kultur, den verschiedenen Traditionen und politischen Entwicklungen der einzelnen Mitgliedstaaten haben. Dies ermöglicht es, voneinander zu lernen und mit dem Blick über die Grenzen in die Nachbarstaaten nach den besten Konzepten zu suchen. Deshalb sollten bei der anstehenden Reform der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland die Praxis und die Erfahrungen anderer Länder in die Überlegungen einbezogen und berücksichtigt werden. Dabei geht es weniger um eine Angleichung als vielmehr um die konsequente Weiterentwicklung des Sozialstaates europäischer Prägung.
Bestes Beispiel für gut gemachte europäische Sozialpolitik sind die Aktivitäten zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit. Die Mitgliedstaaten einigten sich zunächst darauf, dieses Thema zu einem Schwerpunkt ihrer Beschäftigungspolitik zu erklären. Der Blick über die Grenzen zeigte, dass Großbritannien und Frankreich mit ihren Programmen erste Erfolge erzielten. Unmittelbar nach der Regierungsübernahme legte die deutsche Bundesregierung das "Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit" auf und verhalf damit jungen Menschen zu einem Ausbildungsplatz und neuen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Und: Das Programm wurde zu einem wesentlichen Teil aus europäischen Mitteln finanziert - von den zwei Milliarden Mark, die das Maßnahmenbündel 1999 kostete, wurden ca. 750 Millionen Mark aus dem Europäischen Sozialfonds gezahlt. Dies weist den Weg für die weitere Entwicklung der Beschäftigungs- und Sozialpolitik auf europäischer Ebene!
Es geht darum - und dies selbstverständlich nicht nur in der Sozialpolitik -, Europa nicht ausschließlich als notwendigen Ersatz für verloren gegangenen politischen Spielraum zu begreifen, sondern als Möglichkeit, Gesellschaft zu gestalten. Dies bedeutet allerdings auch, dass der Einfluss der nationalen Parlamente weiter sinken wird und durch Zuwachs an politischer Gestaltungsmöglichkeit in Europa kompensiert werden muss. Das erfordert nicht nur klare demokratische Strukturen und eine Reform der Institutionen in Europa, sondern auch eine stärkere Einflussmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger auf europäische Politik und eine spürbare Rückkopplung politischer Entscheidungen.
Die letzten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 1999 haben erschreckend deutlich gemacht, wie gering das Interesse an europäischer Politik in der Bevölkerung ist. Hierin liegt die große Herausforderung der nächsten Jahre - und dabei kommt der europäischen Sozialpolitik eine zentrale Rolle zu. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas und der Zunahme an sozialer Verunsicherung muss Europa einen entscheidenden Beitrag auf diesem Politikfeld leisten und die Sozialpolitik stärker in den Vordergrund rücken. Soziale Fragen wie die der Beschäftigung, der Zukunft der Systeme sozialer Sicherheit und der Beseitigung von Diskriminierungen und Armut betreffen die Bürgerinnen und Bürger in Europa unmittelbar, so dass auch die Aktivitäten auf europäischer Ebene von erheblicher Bedeutung sind. Die Akzeptanz der politischen Zusammenarbeit in Europa bei den Bürgerinnen und Bürgern wird in den kommenden Jahren nicht nur von der Demokratisierung und Transparenz der Entscheidungsstrukturen abhängen, sondern auch und vor allem davon, inwieweit es der Europäischen Union gelingt, in der Sozialpolitik, insbesondere beim Abbau von Arbeitslosigkeit und der Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit, deutliche Akzente zu setzen.