Polen in Bewegung

Unser größter Nachbar im Osten, in der Nachkriegszeit lange ein »Land ohne Ausgang«, erlebt seit drei Jahrzehnten dramatische Wanderungsbewegungen. Millionen von Polen haben ihr Land verlassen - langfristig wird es davon vor allem profitieren

S eit Jahrhunderten ist Polen ein Auswanderungsland: Im 19. Jahrhundert siedelten viele polnische Staatsbürger in die Vereinigten Staaten um. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine umfangreiche Arbeitsmigration aus Polen in westeuropäische Staaten. Zur Hochphase der Solidarność-Bewegung in den achtziger Jahren verließen erneut viele Polen ihr Land. Trotz dieser langen Tradition markiert der Beitritt zur Europäischen Union einen Wendepunkt in der polnischen Migrationsgeschichte. Seither haben sich das Ausmaß und die Strukturmerkmale der Wanderungsbewegungen spürbar verändert.

Erstens nahm die Zahl der Auswanderer nach dem EU-Beitritt spektakulär zu. Innerhalb Europas ist die polnische Migrationsneigung nur mit der rumänischen vergleichbar. Schätzungen zufolge lebten im Jahr 2007 rund 2,3 Millionen Polen vorübergehend in einem anderen Land – etwa 6,6 Prozent der gesamten Bevölkerung des Landes. Zwar ist diese Zahl mittlerweile leicht zurückgegangen, nicht zuletzt aufgrund der europäischen Wirtschaftskrise und des abnehmenden Migrationspotenzials in Polen. Jedoch lebten Ende 2011 immer noch rund 2 Millionen polnische Staatsbürger im Ausland.

Zweitens änderte sich nach dem Beitritt die Rangliste der Zielländer. Deutschland verlor seine Spitzenposition: Im Jahr 2008 lebten nur noch 25 Prozent aller Auslandspolen in Deutschland. Stattdessen setzte eine beispiellose Wanderungswelle nach Großbritannien und Irland ein. Hatten 2002 nur rund 24 000 polnische Einwanderer im Vereinigten Königreich gelebt, so waren es 2008 fast 700 000. In Irland fiel der Anstieg sogar noch höher aus – von etwa 2 000 Einwanderern im Jahr 2002 auf 200 000 im Jahr 2008. Die Geografie der Migration hatte sich erheblich verändert.

Drittens: Bei der Auswanderung der vergangenen Jahre handelt es sich überwiegend um Arbeitsmigration. Die große Mehrheit der polnischen Migranten – mehr als 90 Prozent – nimmt im Ausland eine Arbeit auf. Somit ist dieser Migrationsprozess auch ein Prüfstein für die Effizienz des EU-Arbeitsmarkts.

Viertens blieben die meisten Polen sowohl in dem Übergangszeitraum vor dem Beitritt als auch danach nur temporär im Ausland. Allerdings mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich Polen zunehmend dauerhaft in ihren Ankunftsländern niederlassen. Das gilt besonders für Großbritannien.

Fünftens sind die Auswanderer der vergangenen Jahre nicht nur deutlich jünger als frühere Kohorten, sondern auch viel besser ausgebildet: Fast 20 Prozent von ihnen besitzen einen Universitätsabschluss. Kurzum: In der Phase nach der EU-Osterweiterung haben sehr viele überwiegend junge und vergleichsweise gut ausgebildete Polen ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Zielländer – aber auch auf Polen selbst. Inwiefern hat die Migrationswelle nach dem EU-Beitritt die sozio-ökonomische Lage in Polen verändert?

Polen blutet nicht aus, sondern es läuft über

Ähnlich wie in anderen Transformationsländern gehörte ein Überangebot an Arbeitskräften lange zu Polens zentralen ökonomischen Problemen. Das war der Grund, warum die Arbeitslosenquote vor dem EU-Beitritt so hoch war; im Jahr 2002 betrug sie mehr als 20 Prozent. Darüber hinaus war der polnische Arbeitsmarkt durch niedrige Beschäftigungsraten, strukturelle mismatches und durch einen großen Anteil Langzeitarbeitsloser gekennzeichnet. All diese Merkmale gelten üblicherweise als die wichtigsten Push-Faktoren der jüngeren Migrationsbewegungen.

Nun könnte man mit einer einfachen Überschlagsrechnung zu dem Schluss kommen, dass sich die Situation auf dem polnischen Arbeitsmarkt durch die spektakuläre Auswanderung der vergangenen Jahre verbessert hat. Schließlich nahm die Zahl der Arbeitslosen von 3,2 Millionen Anfang 2004 auf 1,2 Millionen Ende 2008 ab; parallel dazu sank die Arbeitslosenquote von 19,1 auf 7,1 Prozent. Jedoch: Statistisch lässt sich die Wirkung der Auswanderung kaum von anderen Effekten wie dem Wirtschaftsaufschwung nach 2004 und dem demografischen Wandel unterscheiden. Tatsächlich können die meisten Studien keine signifikante Auswirkung von Migration auf Arbeitsmärkte belegen, weder hinsichtlich der Höhe der Arbeitslosigkeit noch mit Blick auf die Löhne. Auch in Polen sind die direkten Effekte der Auswanderung auf die Situation am Arbeitsmarkt zu vernachlässigen. Weil noch immer ein enormes Überangebot an Arbeitskräften existiert, haben selbst vergleichsweise große Migrationsbewegungen geringe Auswirkungen – zumindest kurzfristig.

Sehr viel wichtiger in diesem Zusammenhang sind die möglichen langfristigen Folgen. Historisch betrachtet war die massive Auswanderung überschüssiger Arbeitskräfte eine wichtige Bedingung für die Entwicklung Europas nach dem Krieg. Dieses Phänomen ließ sich etwa in Italien und Spanien beobachten, wo die Emigration zu einer größeren Effizienz der Arbeitsmärkte führte. In Polen konnte ein solcher Prozess lange nicht stattfinden, das kommunistische Regime unterband größere Auswanderungsbewegungen. Dariusz Stola beschreibt die Situation in der Nachkriegszeit mit dem Begriff „Land ohne Ausgang“. Infolgedessen bestand während der Transformationszeit ein enormes Überangebot an Arbeitskräften. Hinzu kam, dass die strukturelle und räumliche Verteilung der Erwerbsbevölkerung nicht mit dem Bedarf auf dem Arbeitsmarkt übereinstimmte: Große Teile der Bevölkerung lebten in ländlichen Gebieten von der Subsistenzwirtschaft.

Der Beitritt Polens zur Europäischen Union und die anschließende Massenmigration ermöglichten zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte die Abwanderung dieser – ökonomisch betrachtet – „überflüssigen“ Bevölkerung aus den wirtschaftlich unterentwickelten Regionen. Zu einer der wichtigsten Auswanderergruppen zählten junge, relativ gut gebildete Personen aus rückständigen Gebieten mit schwachen Arbeitsmärkten und hohen Anteilen an Subsistenzwirtschaft. Ihre Abwanderung bedeutet eher ein „Überlaufen“ als ein „Ausbluten“. Verfolgt man diese Argumentation weiter, so dürfte der Ausdünnungseffekt auf dem Arbeitsmarkt das langfristige Entwicklungspotenzial Polens deutlich steigern, indem er maßgebliche Veränderungen der Strukturen und der institutionellen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes ermöglicht. Wo das Überangebot an Arbeitskräften abgebaut wird, werden Arbeitsmarktreformen leichter beziehungsweise überhaupt erst machbar.

Der Fall Polens zeigt also: Wir neigen dazu, uns zu stark auf die kurzfristigen ökonomischen Auswirkungen der Migration zu konzentrieren, und wir übersehen dabei wichtige langfristige und strukturelle Effekte. Wenn Polen ihr Land verlassen, haben sie die Gelegenheit, sich neue Fähigkeiten anzueignen, selbst wenn sie – wie es leider häufig passiert – Tätigkeiten ausüben, für die sie überqualifiziert sind. Im Ausland lernen sie Fremdsprachen, kommen mit anderen Arbeitskulturen in Berührung, knüpfen Kontakte, schnappen neue Ideen auf. Viele der Auswanderer werden zurückkehren. Ihre erworbenen Kompetenzen können sehr wichtig werden für die weitere Entwicklung Polens.

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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