Politik und Anstand
BERLINER REPUBLIK: Willy Brandt sagte: Es wird sich als geschichtlicher Irrtum erweisen, das Ideal der Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als überholt abzutun, das dem demokratischen Sozialismus der Sozialdemokratie zugrunde liegt. Wie denken Sie darüber?
HANS-JOCHEN VOGEL: Ich rufe mir diesen Satz gerne in Erinnerung. Ich ziehe daraus übrigens den Schluss, dass sich Willy Brandt kurz vor seinem Tod nicht nur für die drei Grundwerte, sondern auch gegen die Preisgabe des Begriffs „demokratischer Sozialismus“ ausgesprochen hat. Er wollte offenbar diesen Begriff als ein Element sozialdemokratischer Tradition beibehalten wissen. Natürlich hat sich der Inhalt dieses Begriffs im Laufe der vergangenen Jahrzehnte geändert. Ursprünglich war es die Beschreibung eines gesellschaftlichen Endzustands, der eines Tages eintreten werde. Wobei es für die Sozialdemokratie tatsächlich immer ein demokratischer Sozialismus war. Heute gilt die Definition, die Willy Brandt gegeben hat. Genau so steht es auch im Berliner Programm. Und dabei sollten wir es belassen.
BERLINER REPUBLIK: Ihre Wertvorstellungen legen den Schluss nahe, dass für Sie Überzeugungen wichtig sind. Wie würden Sie Überzeugungen von Ideologien abgrenzen und welche Rolle spielen Überzeugungen in Ihrem Leben?
HANS-JOCHEN VOGEL: Ideologien sind Gesamtvorstellungen: wie die Gesellschaft beschaffen sein sollte und wie dieser Zustand erreicht werden kann. Schwierig wird es, wenn diese Ideologie mit einem Wahrheitsanspruch auftritt. Und es wird noch schwieriger, wenn diese Ideologie für sich das Recht in Anspruch nimmt, ihre Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Letzteres kann man am Beispiel des Kommunismus sehen, aber auch in früheren Phasen des Christentums. Das gab es bei der Sozialdemokratie nie. Aber es gab im Erfurter Programm von 1891 ideologische Vorstellungen, die mit einem Wahrheitsanspruch einhergingen. Einem Anspruch, der sich auf die vermeintliche Gesetzmäßigkeit des Geschichtsablaufs stützte. Eine Gesetzmäßigkeit, die dann eben im Sozialismus enden werde. Wir sind mittlerweile aus guten Gründen gegenüber Ideologien sensibler geworden. Als Sozialdemokraten erkennen wir unterschiedliche Begründungen für unsere Grundwerte an. Das Godesberger und noch stärker das Berliner Programm sagen: Hinsichtlich der Frage, aus welchen Erwägungen jemand die drei Grundwerte anerkennt, hat die Partei die Entscheidung des Einzelnen zu respektieren. Überzeugungen sind eine Sache des einzelnen Individuums. Was hast du für Vorstellungen über dich und über dein Dasein? Warum bist du da? Was solltest du tun, um ein gutes und gelingendes Leben zu führen? Das sind dann subjektive Vorstellungen, die umso beachtlicher sind, wenn sie auf Nachdenken, auf Meinungsaustausch und auf Erfahrungen beruhen. Überzeugung ist das Gegenteil von Beliebigkeit. Sie darf sich nur nicht so verfestigen, dass sie auf Einwände und auf neue Einsichten nicht mehr reagiert.
BERLINER REPUBLIK: Wann sind Sie Willy Brandt das erste Mal begegnet und welchen Einfluss hatte er auf Ihre politische Karriere?
HANS-JOCHEN VOGEL: Willy Brandt ist das erste Mal 1953 in mein Leben getreten. Da war ich Ortsvereinsvorsitzender im Münchner Norden, in einem Arbeiterviertel. Dort waren Flüchtlinge nach dem 17. Juni 1953 in großer Zahl in einer Kaserne untergebracht. Die waren außerordentlich kritisch gegenüber der Sozialdemokratie. Ich habe in Bonn beim Parteivorstand angefragt, ob sie uns nicht jemanden schicken könnten, der mit diesen Leuten umgehen kann. Sie sagten: Ja, da gibt es einen gewissen Brandt, der sei Bundestagsabgeordneter in Berlin. Er kam dann mit der Bahn, und ich habe ihn am Bahnhof abgeholt. Er hat es wirklich geschafft, dass diese Leute ihm zugehört haben. Er hat sie nicht umgedreht. Ich glaube, sie haben auch weiterhin Adenauer gewählt. Aber er hat ihre fast hasserfüllte Feindlichkeit gegenüber der Sozialdemokratie ausräumen können. Das war meine erste Berührung mit ihm. Dann hat es lange Zeit gedauert, bis wir in intensiveren Kontakt kamen. Der erste kam wohl erst 1960 zustande, als ich für das Amt des Münchner Oberbürgermeisters kandidierte. Da kam er ungefähr 14 Tage vor der Wahl nach München und sprach auf einer großen Kundgebung, bei der einige Tausend Leute waren. Eine Botschaft seiner Rede war: Wir müssen jetzt der jungen Generation eine Möglichkeit bieten, Verantwortung zu übernehmen. Es war ja damals ganz ungewöhnlich, dass einer mit knapp 34 Jahren bei einer Wahl in einer Großstadt für ein solches Amt kandidierte. Brandt dachte dabei auch schon ein bisschen an seine eigene Situation. Denn die Alternative Alter oder Jugend stellte sich ja auch zwischen Adenauer und ihm. Mein Erfolg hat ihn dann auch deshalb gefreut, weil er sah: So was geht. Seitdem waren wir in kontinuierlicher Berührung.
BERLINER REPUBLIK: Sie waren in den sechziger Jahren Münchner Oberbürgermeister. Dabei mussten Sie sich viel mit den Achtundsechzigern auseinandersetzen. Wenn man aus der Sicht von heute auf diese Generation schaut: Welchen Einfluss hatte sie bei dem Gang durch die Institutionen? Was hat sich nachhaltig geändert?
HANS-JOCHEN VOGEL: Der so genannte Marsch durch die Institutionen hat die Marschierer stärker verändert als die Institutionen. Aber das ist ja auch ein Zeichen für die Effektivität unserer demokratischen Strukturen. Aus Sicht der Achtundsechziger waren das Thema Umweltschutz und auch andere Themen im Parlament nicht genügend oder überhaupt nicht präsent. Diese Themen haben sich dann ab 1983 in Gestalt der Grünen eine parlamentarische Repräsentation verschafft. Ich erinnere mich noch gut an ihre Anfänge im Bundestag. Manches war da schon ein wenig absonderlich. Aber die demokratischen Strukturen waren stark genug, sie so zu prägen, dass sie 15 Jahre später Regierungsverantwortung übernehmen konnten und seitdem in einer Art und Weise wahrnehmen, die sich vom Auftreten der anderen Parteien kaum unterscheidet. Sie wissen: Ich bin in mancherlei Hinsicht ein altmodischer Mensch. Deshalb finde ich manchmal auch etwas gut. Das ist ja heutzutage eher ungewöhnlich. Viel üblicher ist es, alles Mögliche schlecht zu finden und zu kritisieren. Aber ich bleibe dabei, dass sich gerade in diesem Punkt unsere demokratischen Strukturen außerordentlich bewährt haben. Darum bin ich auch für die Zukunft nicht ohne Hoffnung.
BERLINER REPUBLIK: Würden Sie heute jungen Menschen empfehlen, in die Politik zu gehen?
HANS-JOCHEN VOGEL: Ja, das würde ich tun. Wenn ich dazu Gelegenheit habe, sage ich den Jüngeren: Mein Lieber, es ist nicht in Ordnung, dass man weghört und wegschaut. Und es genügt nicht, dass man sich über die Politik und die Politiker den Mund zerreißt. Man muss nicht nur für sich selbst sorgen, sondern man soll sich auch für das Gemeinwesen und folglich in der Politik engagieren. Politik heißt nichts anderes als Einflussnahme auf den Zustand des Gemeinwesens. Das, was gut ist, bewahren; das, was nicht gut ist, verändern. Die Zahl der Jüngeren, die einem solchen Rat folgen, muss wieder zunehmen.
BERLINER REPUBLIK: Es ist ja auch häufig so, dass Menschen erst dann reif wären, ein Mandat zu übernehmen, wenn sie schon etwas älter sind, meinetwegen 50 Jahre, und mehr Lebenserfahrung haben. Aber dann sind die Chancen nicht mehr so gut, sich in diesem Sinne noch einzubringen.
HANS-JOCHEN VOGEL: Ich habe große Bedenken gegen die so genannten Insider-Karrieren, in deren Verlauf jemand Politische Wissenschaften studiert, einer Partei beitritt, erst Mitarbeiter eines Abgeordneten, dann einer Fraktion und schließlich selbst Abgeordneter wird. Schließlich ist er sogar Parlamentarischer Staatssekretär oder gar Minister, ohne dass er außerhalb des politischen Bereichs wenigstens eine Zeitlang ein normales Leben geführt und erfahren hätte, wie es der großen Mehrheit seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ergeht. Deshalb halte ich es auch für weniger empfehlenswert, dass jemand schon mit 19 Jahren ins Parlament kommt.
BERLINER REPUBLIK: Was zeichnet einen guten Politiker aus? Welche Eigenschaften sollte er haben?
HANS-JOCHEN VOGEL: Er braucht eine stabile und belastbare Gesundheit, und zwar physisch wie psychisch. Er muss glaubwürdig bleiben. Sein Reden und Handeln müssen übereinstimmen. Er muss mit Macht umgehen können, und zwar Macht nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Durchsetzung dessen, was er für richtig hält. Sonst ist er ein Beifahrer oder ein freundlicher Beobachter, aber kein Gestalter. Außerdem muss er sich ausdrücken können. Er muss so sprechen können, dass die jeweiligen Zuhörer zu ihm Kontakt gewinnen.
BERLINER REPUBLIK: Wofür steht die SPD heute? Gibt es ein Glaubwürdigkeitsproblem?
HANS-JOCHEN VOGEL: Sie steht nach wie vor für ihre Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und damit für eine Gesellschaft, die sich an diesen Grundwerten messen lässt und ihnen zu entsprechen sucht. Natürlich stellt die Anwendung dieses Prinzips immer wieder eine Herausforderung dar. So macht es einen Unterschied, ob es in Zeiten angewandt wird, in denen ein Mehr zu verteilen ist, oder in einer Zeit, in der die Gesellschaft mit einem Weniger zurecht kommen muss. Das ist dann gerade für die SPD und ihre Stammwählerschaft nicht einfach. Vielleicht ist es sogar eine List der Vernunft, wie Hegel gesagt hat, dass wir gerade jetzt in der Regierung sind. Aber: So ist das eben mit der Verantwortung in der Demokratie. Die Glaubwürdigkeit der SPD würde auf längere Frist viel stärker leiden, wenn sie die Realität nicht zur Kenntnis nimmt. Lassalle hat schon 1862 gesagt: Alle politische Aktion beginnt mit dem Aussprechen dessen, was ist. Und jede Kleingeisterei beginnt mit dem Beschönigen und Verniedlichen dessen, was ist. Der schwerste Verstoß gegen die Glaubwürdigkeit wäre es gewesen, wenn die Sozialdemokratie sagen würde: Es hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten eigentlich gar nichts geändert, wir können einfach so weitermachen wie bisher. Dass die jetzt notwendig gewordenen neuen Antworten schwer zu vermitteln sind, liegt auf der Hand. Ich verteidige auch nicht jede Einzelheit. Und ich hätte mir auch gewünscht, dass sie noch früher und noch intensiver erläutert worden wären. Aber zu den Kernelementen der Agenda 2010 sehe ich keine Alternative.