Putin, ein Systemfehler

Rußlands Präsident garantiert den Status Quo

Schon immer hat sich Rußland als Projektionsfläche für westliche Erwartungen utopischer oder apokalyptischer Art geeignet: Rußland als das große Andere, als das Unterbewusste des Westens, als realisierbare Utopie oder als Zerrbild einer völlig missglückten Moderne. In den letzten Jahren: Rußland als Schauplatz einer epischen Schlacht zwischen dem Bösen, das in immer neuen Masken mit immer anderen Namen sein Unwesen treibt, als Kommunismus, als Nationalismus, als organisierte Kriminalität oder als verludertes Nuklearwaffenarsenal, und dem Guten - das der Einfachheit halber meist Reformer oder Demokrat genannt wird.

Diese auf Dauer gestellte manichäische Entscheidungsschlacht hat in den letzten Jahren der Jelzin-Ära an Dynamik eingebüßt. Zu krank war Boris Nikolajewitsch, und zu deutlich war, dass die Energie des ersten Präsidenten Rußlands, der sich im August 1991 auf den Panzer gestellt hatte, um den Kommunismus endgültig zu zerschlagen, nur noch ausreichte, um Stagnation, Korruption und Schuldendienst zu verwalten.

Und dann, rechtzeitig zum Millennium, taucht Wladimir Wladimirowitsch Putin auf, dem von Jelzin bestimmt wurde, Rußlands starker Mann zu sein. Wenig bis nichts war über den Mann bekannt, der beinahe über Nacht zum amtierenden russischen Präsidenten wurde. Putin, das unbeschriebene Blatt, die ideale Projektionsfläche. Auf seine Person richteten sich sowohl Heilserwartungen wie Untergangsszenarien, und Auguren jeder Couleur versuchen seither herauszufinden, wofür dieser Mann eigentlich steht.

Eine neue Wissenschaft greift um sich - die Putinologie

Putin bewegt sich erst seit Juni 1996 in den Korridoren der Macht. Die erste Moskauer Position des gebürtigen Petersburgers war die eines Spitzenbeamten in der Präsidialverwaltung. Im Februar 1997 wurde er Mitglied des einflussreichen Sicherheitsrates, in der für ökonomische Sicherheit zuständigen Kommission. Im Juli 1998 avancierte er zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB, einer Institution welcher Putin seit seinem Studium professionell verbunden war. Im März 1999 übernahm Putin auch den Posten eines Sekretärs des Sicherheitsrates. Am 9. August 1999 machte ihn Jelzin zum Premierminister und stellte ihn als seinen Nachfolger vor, und seit dem 1. Januar 2000 übt er die Funktion des amtierenden Präsidenten aus.

Trotz seines raschen Aufstiegs in den Moskauer Machtzirkeln blieb Putin nahezu unbekannt, als er Premierminister wurde, und sein geringer Bekanntheitsgrad wurde nur noch von seiner Popularität unterboten - die Zustimmung der Russen und Russinnen zu ihrem neuen Premier lag in den ersten Tagen bei gerade mal zwei Prozent. Nach vier Wochen im Amt erreichte Putins Popularitätskurve die 60 Prozent. Markige Worte und eine ebenso rücksichtslose wie telegen aufbereitete Kriegsführung in Tschetschenien hatten den neuen Mann im Kreml zu einem Hoffnungsträger gemacht.

Das Interesse der Öffentlichkeit konzentrierte sich von Anfang an auf die Person Putin und vernachlässigte weitgehend den Politiker Putin. Erstaunlich ist das nicht: Politik ist in Rußland seit jeher personenzentriert. Orthodoxer Cäsaropapismus, zaristische Autokratie, bolschewistischer Führerkult und nun postmodernes Image-Making operieren alle mit Persönlichkeit und nicht mit Programmatik. Parteien mit erkennbaren Programmen gibt es in Rußland nicht - mit Ausnahme vielleicht der Kommunisten, die ihr verstaubtes Programm zusammen mit ihrem alternden Elektorat aus einer andern Zeit geerbt haben und aus nostalgischen Gründen daran festhalten.

Putin macht hier keine Ausnahmen - er selbst hat es bislang vermieden, programmatische Äußerungen zu seiner Politik zu verlautbaren.

Die Person Putin also: Tiefreligiös soll er sein. Den schwarzen Gürtel im Judo hat er. Entscheidungsfreudig ist er und dynamisch. Er hat zwei Töchter. Wenn es sein muss, scheut er auch vor Kraftausdrücken in der Öffentlichkeit nicht zurück: Tschetschenische Terroristen will er "vernichten", in ihrer eigenen "Scheiße" will er sie begraben. Hochintelligent ist er, wissen seine Freunde. Loyal und treu, aber auch ein ausdauernder Feind. Gut zuhören könne er, fand Frau Albright nach ihrer Moskaureise. Beeindruckend fand ihn auch Joschka Fischer. Durchgreifen und aufräumen kann er, befanden die allermeisten Russen anerkennend, und quittierten Putins Krieg in Tschetschenien mit einem Popularitätsbonus.

Solches Auftreten eines Mannes, der den größten Teil seines professionellen Lebens als KGB-Mitarbeiter verbracht hat*, war jedoch nicht allen Beobachtern ganz geheuer. Die Stimmen, die vor einem drohenden autoritären Regime, einem Polizeistaat, einem Ende der liberalen Freiheiten warnten, mehrten sich, vor allem im Westen. Putins brutales Vorgehen in Tschetschenien nährte diese Befürchtungen. Einigen Beobachtern galt Putin als der Pinochet Rußlands. Und für zweihundert französische Intellektuelle unter Anleitung des Philosophen Glucksmann setzte Putin in Tschetschenien gar das Erbe Stalins fort.

Putin selbst hält sich bedeckt, verweigert programmatische Äußerungen, inszeniert dafür Dynamik und Präsenz. Die russische Zeitung Novoe Vremya, eines der wenigen Presseerzeugnisse, welches sich weder der unter Putin massiv zugenommenen staatlichen Gängelung noch dem Diktat der reichen Medienbarone ergeben hat, bemerkte süffisant, dass sich ein Großteil des russischen Publikums immer noch einrede, dass dieses Stillschweigen Teil der Putinschen Strategie sei: Nach den Präsidentschaftswahlen werde Putin sicherlich etwas Bemerkenswertes sagen, das ihn als talentierten Staatsmann ausweisen werde. Was aber, wenn Putin gar nichts zu sagen haben sollte? Das, so Novoe Vremya, wäre auch nicht weiter schlimm. Schließlich habe man Boris Jelzin 1991 und 1996 gewählt, ohne seine Ansichten zu kennen. Wieso müsse man denn von Putin überhaupt etwas erwarten? "Wir haben sowieso keine andere Wahl. Wir werden ihn wählen."

Und während Putin schweigt und dynamisiert, wächst seine Legende. Zum Beispiel die vom Superspion Putin. Einiges spricht aber dafür, dass seine Erfolge beim Geheimdienst eher bescheiden waren: Als Putin von seinem Auslandseinsatz in Deutschland nach Rußland zurückbeordert wurde, erhielt er eine Stelle als Prorektor an einer Wirtschaftsuniversität in Petersburg, bestimmt kein besonderer Karrierensschritt für einen Topspion. Aus Deutschland brachte er immerhin sehr gute Deutschkenntnisse mit sowie seinen Spitznamen "Stasi". 1990 verließ Putin die Universität und wohl auch temporär den Geheimdienst, um sich im Team des aufstrebenden Reformbürgermeisters von Petersburg, Anatoli Sobtschak, um die Aussenwirtschaftskontakte der Stadt Petersburg zu kümmern. Putins Karriere bis zu diesem Zeitpunkt war nicht spektakulär verlaufen. Man könnte sie aber als durchaus exemplarisch für eine Laufbahn des Umbruchs bezeichnen. Mitte der 70er Jahre hatte er, wie viele andere aufstrebende junge Männer, seine Fähigkeiten in den Dienst des KGB gestellt. Als sich dann 15 Jahre später das Ende des ancien regime abzeichnete, verließ Putin den KGB und trat in die Dienste der neuen, demokratischen Elite, die im neuen russischen Staat die Schlüsselstellen besetzte und von der Entstaatlichung und Privatisierung profitierte.

Die Putinologie kann aus dieser Biographie nur wenige Rückschlüsse ziehen. Zwei Grundmuster allerdings zeichnen sich ab: Putin sucht die Nähe des Staates - zunächst im staatlichen Sicherheitsapparat, dann in der Verwaltung von Petersburg, und ist von der Notwendigkeit eines starken Staates überzeugt. Und Putin weiß um die Wichtigkeit von Technologie, Innovation, und ausländischen Direktinvestitionen.

Diese beiden Punkte stehen denn auch im Zentrum des Ukas Nr. 24 Über die Konzeption der Nationalen Sicherheit der Russischen Föderation vom 10. Januar 2000, jenem Dokument, welches am ehesten einige programmatische Punkte enthält. In der Wahrnehmung des Westens wurde dieses Papier reduziert auf einen einzigen militärstrategischen Aspekt: die Senkung der Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen. Im Ukas Nr. 24 wird der Ersteinsatz von Nuklearwaffen nicht mehr ausgeschlossen, sondern Rußland behält sich ausdrücklich das Recht vor, auf militärische Aggression mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, inklusive Kernwaffen, zu reagieren.

Tatsächlich ist die sogenannte Putin-Doktrin aber ein relativ umfangreiches, 30-seitiges Oeuvre, welches außer militärischen auch wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ökologische Aspekte behandelt. Es ist ein eigenartiger Text. Er enthält einige analytische Elemente sowie einen Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der Krise. Dies alles ist aber angereichert mit der Beschwörung verlorener Größe, Versprechungen an verschiedenste Lobby-Gruppen, mit auftrumpfender Großmachts-Rhetorik und diffusen Bedrohungsszenarien. Analytische Schärfe, Konsistenz, Programmatik und Eindeutigkeit waren zweifelsohne nicht die Hauptanliegen der Autoren der Putin-Doktrin. Die Funktion dieses Dokumentes ist eine andere: Es soll Signale senden, soll verschiedene Adressaten mit den jeweilig auf deren Bedürfnisse zugeschnittenen Botschaften versorgen. Was in diesem Text als Widersprüchlichkeit gelesen werden könnte, ist in Wirklichkeit eine Mehrfachkodierung, welche es ermöglicht, die unterschiedlichen Erwartungshaltungen verschiedener Zielgruppen zu befriedigen.

Zwei Kernaussagen werden in der Putin-Doktrin allerdings so oft variiert, dass sie hängen bleiben, dass man in ihnen gar die Eckpfeiler von Putins Denken vermutet: Das ist erstens der feste Glaube an die Notwendigkeit eines starken Staates, der das Land zusammenhält, alle Politik-Bereiche reguliert und der gegen innere und äußere Bedrohungen mit Entschlossenheit und Härte vorgehen kann. Und zweitens die Überzeugung, dass die Erholung der russischen Wirtschaft nur gelingen kann, wenn sich Rußland in die internationale Gemeinschaft und die internationalen Märkte integriert.

Wie diese beiden Ziele zu verbinden und zu verwirklichen wären, darüber erfährt man nichts. Immerhin werden deutliche Reminiszenzen an Andropows Politik der frühen Perestrojka wach, welche ebenfalls in der Mischung aus starkem Staat und selektiver, regulierter Integration in die Weltwirtschaft die Medizin für den ökonomisch stagnierenden Sozialismus sah.

Biographie und Programm geben aber wenig Anhaltspunkte zu Putins Politik, und es ist verständlich, dass die Novoe Vremya noch am 7. Februar eine Präsidenten-Geschichte titelte: "Putin - verzweifelt gesucht".

Welche Rückschlüsse lassen nun die konkreten Handlungen des Übergangspräsidenten auf eine mögliche Ära Putin zu? Bislang war Putin vor allem mit zwei Dingen beschäftigt: Seine Macht zu konsolidieren (das heißt, seinen Wahlsieg vorzubereiten), und den Krieg in Tschetschenien zu führen. Beide Tätigkeiten sind untrennbar miteinander verbunden. Ohne Krieg kein Putin.


Im August 1999 hatten tschetschenische Freischärler die Nachbarrepublik Dagestan überfallen, um einen islamischen Staat auszurufen. Dieser Überfall stieß bei der lokalen Bevölkerung auf großen Widerstand, und die russische Armee eilte den Dagestanern zu Hilfe - sie führte zum ersten Mal seit 1945 eine legitime und erfolgreiche Befreiungsaktion durch. Vom Momentum des Siegs fortgetragen, so macht es den Anschein, dehnte die russische Armee ihren Krieg allmählich auf das Territorium der abtrünnigen, in Kriminalität und Bandenwesen versunkenen Republik Tschetschenien aus. Die endgültige Legitimation für diese Eskalation lieferte im Oktober eine Serie von Bombenattentaten auf Wohnhäuser in Dagestan, Südrußland und Moskau, welche mehr als 300 Menschenleben forderte. Bis heute gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine tschetschenische Täterschaft. Die Bomben lösten in Rußland und besonders in Moskau aber eine Mischung aus Hysterie und Kriegsgeilheit aus, die von den Medien und den Politikern nach Kräften geschürt wurde.

Seit Oktober sind etwa 100 000 russische Soldaten mit der Rückeroberung Tschetscheniens beschäftigt. Rußland kann realistischerweise in diesem Krieg nichts gewinnen. Dennoch geht der Krieg weiter, und die Opferzahlen wachsen, im Gleichschritt mit der Popularität Putins. Nach offiziellen russischen Angaben sind bislang 1000 russische Soldaten gefallen, 3000 verletzt worden. Erfahrungen aus dem letzen Krieg haben gezeigt, dass man diese Zahlen mindestens verdreifachen muss, um realistische Daten zu erhalten. Verlässliche Angaben über Opfer unter der Zivilbevölkerung gibt es nicht, ebenso wenig wie über die Verluste der Rebellen. Flüchtlingszahlen jedoch kennt man: 180 000 Zivilisten sind nach Inguschetien geflohen, 3000 nach Georgien, und in Tschetschenien gibt es etwa 100 000 interne Flüchtlinge.

Unstrittig ist auch, dass die brutale und unverhältnismäßige Kriegsführung Rußlands zahlreiche internationale und bilaterale Normen, Konventionen und Verträge eklatant verletzt.

Dieser Krieg hat vor allem eine innenpolitische Funktion: Er überbrückt die sonst tiefen Gräben zwischen Politik und Bevölkerung; er bekämpft die imperialen Entzugserscheinungen; er kompensiert die eingebildete Niederlage gegen die NATO im Kosovo-Konflikt; er simuliert erfolgreiches und entschlossenes Handeln. Und er kompensiert die enttäuschte Liebe zum Westen und seinen Werten.

Der Schatten des Kosovo liegt über dem zweiten Tschetschenienkrieg. Jede verbale Einmischung des Westens wird mit einem Hinweis auf das westliche Vorgehen gegen Jugoslawien vehement zurückgewiesen und als Doppelmoral und Heuchelei gebrandmarkt. Gleichzeitig ist unverkennbar, dass die russische Armee bemüht ist, die NATO zu kopieren. Viel ist die Rede von Präzisionsschlägen und von überlegener Waffentechnologie - ein Hohn angesichts der zahlreichen zivilen Opfer und der Zerstörung der zivilen Infrastruktur.

In den Medien werden die eingesetzten Waffensysteme derart detailliert besprochen und deren Leistungsfähigkeit mit derjenigen der NATO-Waffen verglichen, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, hier werde jener Krieg gegen die NATO, den Rußland im März 1999 androhte, virtuell doch noch geführt.

Im Vergleich zu seinem Auftreten als Kriegspremier sind die zivilen politischen Verdienste Putins bislang gering. Als erste Amtshandlung nach Jelzins Rücktritt unterschrieb er einen Erlass, der Jelzin einige materielle Privilegien und Immunität auf Lebenszeit zusicherte. Im Kabinett hat Putin bislang wenige personelle Veränderungen vorgenommen - ein Indiz dafür, dass er an dem Politikinhalt seines Vorgängers wenig ändern will.

Wer möchte, kann Putins Wahl auch positive Seiten abgewinnen: Mit Putin zieht ein junger Politiker in den Kreml, der als dynamischer, entscheidungsfreudiger, durchsetzungsfähiger und effizienter Administrator gilt. Die Rahmenbedingungen für seine Präsidentschaft sind außerordentlich günstig: Die hohen Preise für Öl auf dem Weltmarkt verschaffen der russischen Wirtschaft für den Moment wieder Luft; und noch profitieren die russischen Produzenten vom Einbruch des Rubels, der die westlichen Konkurrenzprodukte verteuert, die eigenen Produkte verbilligt hat.

Innenpolitisch genießt der Mann im Kreml Rückenwind: In der neuen Duma kann sich Putin auf eine starke eigene Fraktion sowie viel Zustimmung aus anderen Fraktionen verlassen. Die eigenmächtigen Oligarchen sind immer noch durch die Krisen vom August 1998 geschwächt und suchen in Putin Stabilität und Schutz vor möglicher Umverteilung, die im Falle eines Wahlsieges der Kommunisten oder der rechten Kräfte anstehen würde.

Der Aufstieg Putins ist eine systemimmanente Notwendigkeit, die Materialisierung einer Stabilitätsstrategie, die das korrupte, ineffiziente und stagnierende System, zu dem Rußland nach zehn Jahren Transformation geworden ist, vor dem Kollaps bewahren soll. Dies ist möglicherweise sogar eine verdienstvolle Aufgabe, denn ein Kollaps wäre vielleicht teurer und riskanter als ein reibungsloser Übergang in die Post-Jelzin-Ära. Dennoch: Putin ist nicht Aufbruch. Putin ist die Perpetuierung eines Systemfehlers.

Im Sommer 1999 waren die Krisen-Symptome des Jelzin-Systems unübersehbar: Stagnation überall, ein gigantischer Reformstau, die Nachwirkungen der schweren Wirtschaftskrise vom August 1998 - und dazu noch Affären, die in Rußland wie im Westen für großes Aufsehen sorgten: Da war vor allem der sogenannte Mabetex-Skandal, in den die engere Umgebung des Präsidenten verwickelt war. Hinweise häuften sich, dass die "Familie" im Zusammenhang mit Bauaufträgen des Kreml materielle Vergünstigungen erhalten hatte. Gleichzeitig war durch den sogenannten Bank-of-New-York-Skandal die gesamte politische Klasse Rußlands in Verruf geraten. Wie sich herausstellte, waren über die Bank of New York jahrelang mehrere Milliarden Dollar ins Ausland geschafft worden, Geld, dessen Herkunft bisher nicht eindeutig geklärt ist. Obwohl der Verdacht, dass es sich bei Teilen dieser Gelder um veruntreute IWF-Kredite handelte, nicht erhärtet wurde, häuften sich im Westen die Stimmen, die eine strikte Überprüfung westlicher Finanzhilfen an Rußland forderten.

Vor diesem Hintergrund aus Wirtschaftskrise und Skandalen hob sich die Schwäche des kranken, kaum mehr in Erscheinung tretenden Präsidenten um so deutlicher ab. Das politische System der Jelzin-Ära war gefährdet. Um den Erhalt des Systems und die Positionen jener, die von diesem System profitierten, zu gewährleisten, mussten einige Probleme dringend gelöst werden. Es galt, den Bank-of-New-York-Skandal zu entschärfen, um die lebensnotwendigen westlichen Kredite nicht zu gefährden; in den bevorstehenden Parlamentswahlen musste eine Mehrheit gegen mögliche Umverteiler aus dem linken oder rechten Lager besorgt werden; die Präsidentschaftswahlen sollten von einem Kandidaten gewonnen werden, der "dem Kreml", gegenüber loyal war; und für Jelzin und die "Familie" ging es darum, Privilegien und Wohlstand über das Ende von Jelzins Präsidentschaft hinaus abzusichern.

Putin ist für all diese Problem die Lösung. Putin, der Homunculus, wurde erschaffen, um genau diese Funktionen zu erfüllen.

Drei Faktoren haben den "legalen Staatsstreich" möglich gemacht. Erstens der Krieg in Dagestan und in Tschetschenien und die Bombenattentate in Moskau, die den Hintergrund der Profilierung Putins als harter, kompromissloser, patriotischer Politiker abgaben. Zweitens die Macht der Medien: Staatliche und von kremlnahen Oligarchen kontrollierte private Medien entfachten eine ungeheuer erfolgreiche Kampagne, die Putins Image aufbaute, während die Reputation seiner schärfsten Rivalen, Moskaus Bürgermeister Luschkow und Ex-Premier Primakow, gründlich zerstört wurde. Und drittens das für das postsowjetische Rußlands typische System der politischen Alternativlosigkeit, das die Entstehung einer echten politischen Auswahl nicht zulässt.

Wie funktioniert dieses System? Ironischerweise sind es die Kommunisten, die die Aufgabe für den Kandidaten des Kreml erheblich erleichtern. Die Kommunisten haben eine überalterte, aber treue Wählerschaft. 25 Prozent wählen Kommunisten. Die anderen 75 Prozent jedoch würden in einer Stichwahl in jedem Fall für den nichtkommunistischen Kandidaten stimmen, ganz egal, wofür er sonst steht.


Dieses Wahlverhalten garantiert, dass ein kommunistischer Kandidat nie Präsident wird. Es garantiert auch, dass derjenige nicht-kommunistische Kandidat Präsident wird, der in der ersten Runde das beste Resultat aller nicht-kommunistischen Bewerber erreicht.

Hinzu kommt, dass die sogenannten demokratischen, rechten Kräfte heillos zerstritten sind und sich in der Regel nicht auf einem gemeinsamen Kandidaten einigen können. Ihr Flaggschiff, Grigori Jawlinski, ist im Westen gerne gesehen, trägt aber in Rußland das Stigma des ewigen Verlierers. Die Rechte bindet in der ersten Runde einige Stimmen, womit automatisch auch der Anteil der Stimmen herabgesetzt wird, die der Kandidat des Kreml erringen muss, um in die zweite Runde zu kommen, die er mit Sicherheit gewinnt, wenn sein Kontrahent Kommunist ist.

Der Kreml-Kandidat verfügt über ungleich mehr Ressourcen als seine Konkurrenten. Der Staat hat mehr finanzielle Mittel, kontrolliert die zentralen Medien und vermag über staatliche Institutionen (Armee, Ministerien, Staatsbetriebe) erheblichen Druck auf weite Teile des Elektorats auszuüben.

Und zu guter Letzt ist der Sog der Macht in Rußland stärker als anderswo - Regionalfürsten oder einflussreiche Politiker, die kaum durch Wahlversprechen, Programme oder Parteidisziplin gebunden sind, wechseln oft und rasch in das Lager des Kandidaten mit den größten Chancen. Dieser Kandidat ist Putin.

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