Rechtsstaat oder Kleptokratie
In Rumänien haben sich nach dem Sturz Ceausescus unter einer demokratischen Oberfläche anti-rechtsstaatliche Strukturen etabliert, die sich zu verfestigen drohen. Von Anfang an war der postkommunistische Staat in den Händen einer neuen politischen Elite, die sich nicht etwa aus einer gesellschaftlichen Klasse oder einer institutionellen Verankerung heraus ableitet, etwa dem „Bürgertum“ oder der Armee, und von dort ihren Politikauftrag bekommt. Vielmehr definierte sich diese neue Elite direkt durch den neuen Staat, also die Teilnahme an dessen Politikbetrieb. So kann sie die Staatsmacht weit gehend unkontrolliert für ihre eigenen Interessen einsetzen.
Mittels des direkten oder indirekten Zugriffs auf den Staat hat sich die postkommunistische politische Klasse als neue Bourgeoisie erschaffen. In der ersten Phase nach dem Umbruch von 1989 geschah dies durch die Aneignung früheren Staatsvermögens zu privilegierten Bedingungen. Allein dass es eine solche Gelegenheit überhaupt gab, mobilisierte immense politische Energien. Wer sollte diese Energien in rechtsstaatliche Bahnen lenken, wenn die potenziellen Regulierer – also die Politiker – gleichzeitig die Aspiranten auf die gigantische Beute waren? Später wurden demokratische Wahlen zu einem wichtigen Mechanismus, um staatliche Entscheidungen zum eigenen Vorteil zu beeinflussen. In postkommunistischen Ländern, deren Eliten sich dem demokra- tischen Imperativ der euro-atlantischen Welt entziehen konnten (Belarus, Kaukasus, Zentralasien), funktionieren diese Mechanismen direkter, weniger zivilisiert. Aber das Spiel um Macht und Reichtum funktioniert in Rumänien und anderen postkommunistischen Demokratien im Kern nicht viel anders.
Verklüngelung und Korruption
Inzwischen neigt sich die Phase der Privatisierungen mit ihren enormen Bereicherungsmöglichkeiten dem Ende entgegen. Doch die Politbourgeoisie zieht weiterhin beträchtliche Vorteile aus der „Verklüngelung“ mit dem Staat.1 Dabei geht es stets um staatliche Eingriffe in den Wettbewerb – sei es, dass der Staat überteuert kauft und dann unter Preis verkauft oder dass er Günstlingen die Konkurrenten vom Hals hält. Hinzu kommen Geschäftsmöglichkeiten, die sich Insider mit Hilfe der Staatsgewalt verschaffen – zum Beispiel für Immobiliengeschäfte mittels der Festlegung von Autobahntrassen. Nicht zu vergessen ist natürlich die klassische Korruption, also der Verkauf staatlich-administrativer Entscheidungen gegen Schmiergeld.
Diese mit der „Privatisierung“ des Staates verbundenen Bereicherungsmöglichkeiten sind die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Aussicht auf Straflosigkeit. Relativ machtlos stehen Korruptionsbekämpfer einem Netzwerk von Mitwissern und Mittätern gegenüber, das die ganze politische Klasse mitsamt der Staatsanwalt- und Richterschaft durchzieht. Für viele ist der Kampf gegen Korruption zu gefährlich, als dass sie ihn unterstützen würden. So bleibt der Schleier der Intransparenz bestehen und wird angesichts der Auflagen der EU immer feiner gewebt. Das alles hält einige Akteure jedoch nicht davon ab, die Aufdeckung von Korruption gezielt als Waffe gegen politische Gegner einzusetzen.
Die Aussicht auf Straflosigkeit bei Missbrauch der Staatsgewalt geht darauf zurück, dass hinreichende Kontrollmechanismen weder zwischen den politischen Instanzen noch zwischen Volk und Eliten existieren. Die Kontrollformen der repräsentativen Demokratie – freie Wahlen, Gewaltenteilung, parlamentarische Opposition – erweisen sich in Rumänien als vollkommen unzureichend, um dem Allgemeinwohl Priorität vor den Partikularinteressen der politischen Eliten zu verschaffen. Der „Agent“ Volksvertreter kann mit dem „Prinzipal“ Volk weit gehend machen, was er will.
Es fehlen gesellschaftlich geerdete Parteien
Auch andere gesellschaftliche Mechanismen, die in den westlichen Demokratien die Rückbindung der Eliten an die Interessen der Bevölkerung gewährleisten, sind in Rumänien kaum entwickelt. So fehlen große Interessenverbände, die in der politischen Arena aktiv werden. Und es fehlen politische Parteien, die gesellschaftliche Interessenlagen in aggregierter Form in politische Entscheidungskanäle einbringen. Dieses doppelte Defizit erklärt sich aus der amorphen inneren Verfassung der Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Wirtschaftssystems.
Diese amorphe Verfassung wurde durch die Transformationsideologie zusätzlich befördert: Im Sozialismus stand die Masse der Werktätigen der Nomenklatur des Herrschaftsapparates gegenüber. Der Umsturz von 1989/90 reproduzierte nun dieses Klassensystem unter veränderten Vorzeichen. Weil die neue Staatsbourgeoisie, die sich im Zuge der Privatisierungen herausbildete, ihre Interessen nur in enger Symbiose mit der Staatsgewalt wahrnehmen kann, entfällt die Gegenkraft zur Elitenwillkür, die im Westen lange Zeit der Protagonist der Rechtsstaatlichkeit war: das bürgerliche Unternehmertum, die merchant class, die ihre Rechtsansprüche aristokratischen Privilegien entgegensetzte. Anders gesagt: Die dominierende Fraktion der Unternehmerschaft hat überhaupt kein Interesse daran, die Staatsgewalt aus dem Markt heraus zu halten, sie will vielmehr den Markt mit Hilfe des Staates manipulieren.
Dagegen hat die Arbeitnehmerschaft ihre Interessenvertretung aus dem Kommunismus gleichsam geerbt, wenn auch in veränderter Form. In den postkommunistischen Gewerkschaften spiegelt sich weit gehend jene Interessendiskrepanz zwischen Vertretenen und Vertretern wider, die die postkommunistische Demokratie insgesamt kennzeichnet. Die gewerkschaftliche Elite ist vielfach in die Selbstprivilegierungsnetzwerke der politischen Eliten eingebunden – und hat das Arbeitnehmerinteresse „gekidnappt“. Deshalb können die Arbeitnehmer bislang keine kraftvolle Kontrollgewalt von unten bilden. Zudem lebt etwa ein Drittel der rumänischen Bevölkerung von der Landwirtschaft, überwiegend von einer Subsistenzlandwirtschaft, die kaum Geld abwirft. Dieses Bevölkerungssegment hat keine eigene Interessenorganisation, es steht den neuen Politunternehmern gleichsam als klientelistische Wählerstimmenbasis zur freien Verfügung.
Der Volksvertreter macht, was er will
Die Demokratietheorie schreibt politischen Parteien eine zentrale Vermittlerrolle zwischen gesellschaftlichen Interessen und politischen Entscheidungsprozessen zu. Diese Rolle nehmen sie im postkommunistischen Rumänien nicht wahr. Dort sind Parteien Zusammenschlüsse von Politunternehmern zu dem Zweck, staatliche Entscheidungen zum eigenen Vorteil zu beeinflussen. Zumeist haben diese Parteien keine nennenswerte Basis mit besonderen Interessen oder einer bestimmten Gesinnung. Eine Ausnahme bilden die Sozialdemokraten, die bislang allerdings keinerlei Rechenschaft von ihrer Führung verlangen, sondern eher als deren „Hilfstruppe“ dienen und ein Sprungbrett für die nächste Generation von Politunternehmern sind.
Die Konstituierung der neuen kapitalistischen Klasse als Staatsbourgeoisie gehorchte einer machtvollen inneren Logik und hat wenig mit kulturell bedingten Verhaltensmustern zu tun. Aus drei Quellen könnten sich Kräfte speisen, die den privatisierten Staat wieder „vergesellschaften“ wollen: Erstens aus der „idealistischen“ Unzufriedenheit der Intellektuellen, besonders in der jungen Generation. Zweitens aus der materiellen Unzufriedenheit der bislang nicht mobilisierten Transformationsverlierer sowie der Arbeitnehmer in den wachsenden modernen Wirtschaftssektoren. Drittens aus einem neuen Leistungsunternehmertum, das die künftige Wirtschaftsentwicklung hervorbringt und das sich in einer gewissen Frontstellung zum Staat definiert.
Was fehlt, ist Legitimität. Die postkommunistische Staatsbourgeoisie hat bislang kein ideologisches Konstrukt gefunden, das die Wahrnehmung ihrer Interessen gerechtfertigt erscheinen lassen könnte. Die Diskrepanz zwischen ihrem Verhalten und dem Anspruch des demokratischen Rechtsstaats ist sozusagen ein permanenter Skandal. Die Bevölkerung nimmt ihn einstweilen mit zynischer Apathie hin. Aber die fortdauernde Verhöhnung der Prinzipien, auf denen das Selbstverständnis des postkommunistischen Rumäniens beruht, ruft auch starken Protest hervor. Kulminiert dieser Protest irgendwann in einem Widerstandsprojekt mit einer charismatischen Führung und einem alternativen politischen Angebot, könnte er der Staatsbourgeoisie gefährlich werden. Ansätze dafür sind auf lokaler Ebene bereits ersichtlich, am deutlichsten im zentralrumänischen Sibiu (Hermannstadt), wo der „antipolitische Macher“ Klaus Johannes mit über achtzig Prozent der Stimmen zum Bürgermeister wiedergewählt wurde. Auch innerhalb der politischen Parteien gibt es Personen und Gruppierungen, deren politische Energie sich aus rechtsstaatlichen Überzeugungen nährt. Ein prominentes Beispiel ist die gegenwärtige Justizministerin Monica Macovei.
Es ist jedoch fraglich, ob die rechtsstaatliche Gesinnung allein ein ausreichendes Gegengewicht zu den realen Interessen der Staatsbourgeoisie bilden kann. Wahrscheinlicher ist, dass sich diese Interessen mit dem rechtsstaatlichen Imperativ arrangieren werden. Tatsächlich versucht die politische Elite, ihre legitimatorische Schwäche zu überspielen, indem sie ein Korruptionsbekämpfungstheater inszeniert, das die öffentliche Auf- merksamkeit auf vermeintliche „schwarze Schafe“ lenkt – und so die Systemimmanenz der Korruption verschleiert. Mit diesem Theater instrumentalisieren sie auch den rechtsstaatlichen Eifer in den eigenen Reihen. Die tatsächlichen Zugeständnisse bei der Korruptionsbekämpfung, die oft auf europäischen Druck zurückgehen, können die vielfältigen Rentenquellen der neuen Bourgeoisie nicht ernsthaft gefährden.
Wie Venelin Ganev darlegt, profitiert die postkommunistische Kleptokratie davon, dass sich vorerst niemand von ihr bestohlen fühlt.2 Das könnte sich ändern, wenn gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen artikulieren und einen eigenen Zugriff auf die Staatsgewalt verlangen. Das könnten zum einen die „Unterschichten“ sein, die Lebenschancen und daher einen einigermaßen effizienten Steuerstaat brauchen; es könnten zum anderen leistungsfähige moderne Unternehmerschichten sein, deren Entfaltungschancen durch Klüngel- und Vetternwirtschaft behindert werden und die außerdem von einer marktorientierten „Industriepolitik“ profitieren würden. Sie sind allerdings nicht unbedingt an einem „Steuerstaat“ interessiert.
Das nationale Ziel muss Entwicklung heißen
Diese beiden potenziellen Gegenkräfte zur postkommunistischen Staatsbourgeoisie könnten mittels des politischen Projekts eines „aufgeklärten Patriotismus“ zusammengekittet werden, das die Entwicklung des Landes zum nationalen Ziel erhebt und sich so auch die Unterstützung der unzufriedenen Idealisten sichert. Die Chancen dafür, dass die Entwicklung der rumänischen Wirtschaft solchen neuen Klasseninteressen Vorschub leistet, stehen gut. Das Bruttosozialprodukt wächst seit sechs Jahren um über fünf Prozent jährlich. Die von der EU maßgeblich mit vorangetriebene politische „Zivilisierung“ hat den Standort Rumänien mit seinen billigen und relativ gut ausgebildeten Arbeitskräften attraktiv für wettbewerbsstarke ausländische Investoren gemacht. Die Modernisierung der Wirtschaft selbst lässt wiederum neue Chancen für das einheimische Unternehmertum entstehen – unabhängig von politischen Beziehungen. Gleichzeitig entlasten Subsistenzlandwirtschaft und Arbeitsmigration in den Westen – ein Fünftel der rumänischen Arbeitskraft! – den Arbeitsmarkt und entschärfen soziale Probleme.
Setzt sich das europäische Modell durch?
Entscheidend wird dabei sein, ob es zu einer neuen politischen Mobilisierung kommt – sei es nach dem „Modell Sibiu“ mit einer alternativen politischen Elite, sei es über etablierte Parteien. Natürlich könnte die wachsende Unzufriedenheit über die Selbstbedienungselite auch populistische Pseudoalternativen begünstigen, die stark nationalistisch eingefärbt wären. Solche Tendenzen deuten sich nicht nur in der alten Großrumänienpartei und in der aufkommenden Partei Neue Generation an, sondern auch in dem „antipolitischen“ Saubermann-Diskurs, auf den Staatspräsident Basescu seine anhaltende Popularität stützt.
Wenn Rumänien Anfang 2007 Mitglied der EU ist, dürfte sich die bisherige Faszination für Europa schnell legen. Aber die Union wird die wirtschaftliche Entwicklung des Landes begünstigen. Von der Wirtschaft dürfte es abhängen, ob das „europäische Gesellschaftsmodell“ in Rumänien Fuß fassen kann oder ob das Land langfristig in politische Abenteuer abdriftet. Schon in seinem eigenen Interesse hat Europas Westen jeden Grund, die Entwicklung im neuen Südosten der Union aufmerksam zu begleiten.
Anmerkungen
1 Siehe hierzu auch Michael Ehrke, Postkommunistischer Kapitalismus: Ökonomie, Politik und Gesellschaft im neuen Europa, in: Internationale Politik und Gesellschaft 1/ 2005.
2 Venelin I. Ganev, Post-communism as a episode of state building: A reversed Tillyan perspective, in: Communist and Post-Communist Studies 33 (2005).