Scharpfs folgenschwerer Trugschluss
Kaum ein Gesetzespaket der vergangenen Jahre hat die Gemüter so erregt wie die unter dem Namen Hartz IV bekannt gewordenen Arbeitsmarktreformen. Doch was haben die Änderungen bewirkt? Und: „Wie weiter nach Hartz IV?“ So fragte Fritz W. Scharpf jüngst in einem Artikel in der Berliner Republik (1/2006). In seinem Beitrag unterstützt der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln die mit den Hartz-Reformen eingeleitete Umorientierung zum „aktivierenden Sozialstaat“. Doch noch immer, so Scharpf, verhindere die Art der Finanzierung der deutschen Sozialsysteme die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Schuld daran sei vor allem die hohe Belastung der Arbeitskosten mit Sozialversicherungsbeiträgen. Als Lösung schlägt Scharpf vor, eine Ergänzungsabgabe auf die Einkommenssteuer einzuführen und mit einem Freibetrag bei den Sozialversicherungsbeiträgen zu verbinden. Dies solle die Arbeitskosten bei den unteren Lohngruppen senken und hohe Beschäftigungseffekte gerade bei den einfachen Arbeitsplätzen bewirken.
Dieser Vorschlag erscheint zunächst plausibel, kann aber bei Lichte betrachtet nur bedingt überzeugen. Die Belastung des Arbeitsmarktes durch die hohen Sozialversicherungsbeiträge interpretiert Scharpf zutreffend. Ökonomisch gesehen wirken die Sozialabgaben wie eine Steuer auf den Arbeitseinsatz. Deshalb wäre eine Senkung der Sozialabgaben bei gleichzeitiger Anhebung der Mehrwertsteuer an sich geeignet, den Faktor Arbeit zu entlasten. Dies lehnt Scharpf aber mit Blick auf zu befürchtende Bremswirkungen bei der Binnennachfrage und regressive Verteilungseffekte ab. Ebenso könne es keine Lösung sein, die nominalen Ertragssteuersätze zu erhöhen. Da dadurch auch die Steuern auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge stiegen, seien negative Folgen für die Investitionsentscheidungen der Kapitalanleger und die Standortentscheidungen der Unternehmen zu befürchten.
Einer Neutralisierung dieses Effektes steht jedoch das geltende Einkommenssteuerrecht entgegen, das nicht zwischen Arbeitseinkommen einerseits und Unternehmensgewinnen sowie Erträgen aus Kapitalvermögen anderseits differenziert, wie dies bei einer Dualen Einkommenssteuer der Fall wäre. Um die seines Erachtens noch nicht ausgeschöpfte potenzielle Ertragskraft der Einkommenssteuer zu nutzen, schlägt Scharpf als „zweitbeste Lösung“ eine Ergänzungsabgabe auf die Einkommenssteuer – unter ausdrücklicher Ausnahme der Körperschaftsteuer – vor.
Kapital wird in Deutschland zu hoch besteuert
Scharpf stellt zutreffend fest, dass die Unternehmensbesteuerung in Deutschland im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig ist. Vor einer höheren Besteuerung von Unternehmensgewinnen ist in der Tat mit allem Nachdruck zu warnen. Das gleiche gilt aber auch für eine zusätzliche steuerliche Belastung von Kapitalerträgen. Der mobile Faktor Kapital wird in Deutschland weitaus höher besteuert als in den anderen EU-Mitgliedsstaaten, die überwiegend bereits eine moderate Abgeltungssteuer eingeführt haben. Es ist daher schwer nachvollziehbar, dass Scharpf in seinen Überlegungen zur Ergänzungsabgabe lediglich die Körperschaftssteuer ausnimmt, die ja nur die Kapitalgesellschaften erfasst. Einkommenssteuerpflichtige Kapitalerträge und auch Personenunternehmen, die immerhin über 80 Prozent der Unternehmen in Deutschland ausmachen, wären jedoch von der Abgabe betroffen.
Am Beispiel der Gewerbetreibenden und Freiberufler wird deutlich, dass dies neben den bereits von Scharpf anerkannten negativen Auswirkungen im unternehmerischen Bereich weitere Probleme mit sich bringen würde. So stellt sich die Frage, warum der freiberufliche Anwalt zu der Abgabe herangezogen werden soll, während der Anwalt, der als Sozius einer der Körperschaftssteuer unterliegenden Anwalts-GmbH tätig ist, nicht betroffen wäre? Eine solch unterschiedliche Behandlung von Gewinnen von Personenunternehmen einerseits und Freiberuflern andererseits wäre nicht nur ökonomisch fragwürdig, sondern gewiss auch verfassungsrechtlich bedenklich.
Wenig überzeugend sind auch Scharpfs Ausführungen zu dem in Deutschland – im Vergleich zu anderen Industrieländern – vermeintlich niedrigen Steueraufkommen aus Einkommen und Gewinnen, aus denen er letztlich die These von der potenziellen, also nicht ausgeschöpften, Ertragskraft der Einkommenssteuer ableitet. Eine Analyse der Ursachen für die in Deutschland niedrigere gesamtwirtschaftliche Steuerquote liefert er nicht. Solch eine Analyse ist allerdings unverzichtbar, wenn eine fundierte Antwort auf die Frage gesucht wird, wie das Steueraufkommen erhöht werden könnte. Vor allem die folgenden Aspekte, die zu einem großen Teil das niedrige Aufkommen aus der Einkommens- und Gewinnbesteuerung in Deutschland erklären, dürfen dabei nicht übersehen werden:
So hat die Arbeitslosigkeit in Deutschland inzwischen ein Besorgnis erregendes Niveau erreicht. Da Arbeitslose in der Regel keine Einkommenssteuer zahlen, wird das Steueraufkommen hierdurch beträchtlich verringert. Nach Angaben der OECD lag die Arbeitslosenquote in Deutschland 2005 bei 9,3 Prozent. Damit war sie beinahe doppelt so hoch wie in den von Scharpf genannten Vergleichsländern Großbritannien (4,8 Prozent), Dänemark (4,9 Prozent), USA (5,1 Prozent) und Schweden (5,6 Prozent).
Unternehmensverlagerung ins Ausland
Zudem führt die Tatsache, dass die Unternehmensbesteuerung in Deutschland im internationalen Vergleich zu hoch und damit nicht wettbewerbsfähig ist, offenbar zu einer teilweisen Verlagerung von Unternehmensaktivitäten ins Ausland – mit entsprechend negativen Auswirkungen auf das inländische Steueraufkommen. Dieser Effekt wurde bereits im Rahmen der so genannten Job-Gipfel-Beschlüsse im Frühjahr 2005 vom Bundesfinanzministerium anerkannt. Seinerzeit ging man davon aus, dass die vorgeschlagene Absenkung des Körperschaftssteuersatzes von 25 Prozent auf 19 Prozent zu einer Rückverlagerung und damit einem Anstieg von zu versteuernden Gewinnen in Deutschland führen würde. Die mit dem niedrigeren Steuersatz verbundenen Steuerausfälle von etwa 6 Milliarden Euro, so das Finanzministerium, würden dadurch etwa zur Hälfte kompensiert. Hinzu komme, dass die Anreize für ausländische Investitionen am hiesigen Standort gestärkt würden.
Unter diesen Gesichtspunkten scheint die These gewagt, dass das Potenzial der Einkommens- und Gewinnbesteuerung in Deutschland stärker genutzt werden sollte. Mehr noch: Es ist zweifelhaft, ob eine Ergänzungsabgabe überhaupt zu nennenswert höheren Steuereinnahmen führen würde und somit als ausreichende Finanzierungsquelle für die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge geeignet ist. Eine andere Folge der Abgabe dürfte allerdings unstrittig sein: Die stärkere Besteuerung dämpft die Leistungsbereitschaft der Bürger und bremst letztlich auch das Wirtschaftswachstum. Außerdem sind verstärkte Ausweicheffekte zu befürchten, etwa in die Schattenwirtschaft oder – im Falle von Kapitaleinkünften – durch Kapitalverlagerung ins Ausland.
Scharpfs neue Abgabe treibt die Steuern
In diesem Zusammenhang sollte auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Bundesregierung beabsichtigt, ab 2007 eine „Reichensteuer“ einzuführen. Für Einkommen ab 250.000 Euro bei Ledigen und 500.000 Euro bei Verheirateten soll der Spitzensteuersatz von 42 Prozent auf 45 Prozent steigen. Die Gesamtsteuerbelastung inklusive Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer würde für diese Personengruppe dann aber bereits annähernd 52 Prozent betragen. Scharpfs Ergänzungsabgabe würde diesen Steuersatz noch weiter in die Höhe treiben. Aber auch ohne „Reichensteuer“ drohte für viele Einkommensbezieher durch die vorgeschlagene Abgabe ein in hohem Maße leistungsfeindlicher Spitzensteuersatz von über 50 Prozent. Das gilt umso mehr, als die Einkommensgrenze, von der ab der Spitzensteuersatz greift, in den letzten Jahren gesenkt wurde – ganz zu schweigen von der „kalten Progression“, die ebenfalls eine steigende Anzahl von Steuerpflichtigen mit mittleren Einkommen in die Nähe des Spitzensteuersatzes treibt: Während im Jahr 1988 Ledige den Spitzensteuersatz erst bei einem Einkommen von umgerechnet 66.484 Euro zahlten, fiel diese Grenze im Jahr 2004 auf 52.152 Euro. Die Zahl der Betroffenen steigt also stetig, wodurch sich letztlich auch die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft ständig verschärfen.
Noch ein weiterer Punkt kommt hinzu: Während Scharpf bei der Gewinnbesteuerung völlig zu Recht auf die erforderliche internationale Wettbewerbsfähigkeit hinweist, ignoriert er diesen Aspekt bei der Besteuerung von Lohneinkommen. Doch Arbeitskräfte, insbesondere gut ausgebildete und hoch qualifizierte Arbeitnehmer, sind in der globalisierten Welt inzwischen mobiler als noch vor Jahren. Deswegen muss auch bei der Besteuerung von Löhnen sehr sorgfältig auf die internationale Konkurrenzfähigkeit geachtet werden. Deutschland als rohstoffarmes Land, das zudem vor großen demografischen Umbrüchen steht, muss auch hoch qualifizierten Arbeitnehmern mit überdurchschnittlichen Einkommen eine akzeptable Besteuerung bieten.
Umverteilung gehört ins Steuersystem
Nimmt man alle diese Argumente zusammen, so steht zu befürchten, dass das zusätzliche Steueraufkommen durch eine Ergänzungsabgabe à la Scharpf eher gering ausfallen wird. Der Versuch, die Ertragskraft der Einkommenssteuer in Deutschland auf diese Weise besser auszuschöpfen, könnte sich daher in der Praxis sehr schnell als folgenschwerer Trugschluss erweisen.
Ebenfalls nicht überzeugen kann der Vorschlag, einen Freibetrag bei den Sozialversicherungen einzuführen. Mit diesem Schritt würden – bei einem unveränderten Leistungsniveau – zusätzliche Elemente der Einkommensumverteilung in die Sozialversicherungen eingeführt, denn ein Freibetrag hat eine indirekte Progression des Sozialversicherungstarifs zur Folge. Das heißt, zwischen Freibetrag und Beitragsbemessungsgrenze nimmt der durchschnittliche Beitragssatz mit steigenden Einkommen zu. Die gezielte Einkommensumverteilung ist aber eine gesamtstaatliche Aufgabe und sollte deshalb im allgemeinen Steuersystem erfolgen, dem alle Steuerpflichtigen und nicht nur die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unterliegen.
Die Einführung eines Freibetrags würde außerdem zu erheblichen Einnahmeausfällen in den Sozialversicherungen führen. Die von Scharpf vorgeschlagene aufkommensneutrale Gegenfinanzierung durch die Ergänzungsabgabe würde somit ein beachtliches Aufkommen der Ergänzungsabgabe erforderlich machen. Ein Freibetrag von nur 300 Euro monatlich für alle 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hätte jährliche Ein- nahmeausfälle in den Sozialversicherungen von rund 40 Milliarden Euro zur Folge. Dies entspricht etwa einem Viertel des Einkommenssteueraufkommens im Jahre 2004. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass schon aus fiskalischen Erwägungen der Freibetrag lediglich Beziehern niedriger Einkommen gewährt wird. Ein solches Konzept würde sich in seiner Wirkung aber kaum noch von den derzeit diskutierten Kombilohnmodellen unterscheiden. Es bestünde die Gefahr umfangreicher „Drehtüreffekte“, wenn Unternehmen Mitarbeiter, die nicht in den Genuss des Freibetrags kommen, durch staatlich bezuschusste Arbeitskräfte ersetzen.
Bessere Bedingungen für private Vorsorge
Die Hartz-IV-Reformen waren ein Schritt in die richtige Richtung. Sie erfordern von den Bürgern, besonders von denen mit mittleren und höheren Einkommen, mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge. Der Staat sollte die Bürger dabei unterstützen, indem er günstigere Rahmenbedingungen für die private Vorsorge schafft, vor allem die Chancen auf langfristig sichere Einkommen erhöht. Das erfordert flexiblere Arbeitsmärkte, denn inzwischen bestreitet kaum mehr ein Experte, dass in Ländern mit hohem Kündigungsschutz und geringen Anreizen zur Aufnahme einer Beschäftigung seitens Arbeitsloser auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen überdurchschnittlich hoch ist. Ein weniger stark reglementierter Kündigungsschutz trägt letztlich dazu bei, die Dauer der Arbeitslosigkeit zu senken.
Ein flexiblerer Arbeitsmarkt allein reicht allerdings noch nicht aus, um die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Für nennenswerte Erfolge ist hier ein Zusammenspiel mehrerer Lösungsansätze erforderlich. Zunächst sind weitere Einsparpotenziale innerhalb der Sozialversicherungen zu nutzen. So sollte zum Beispiel die Hinterbliebenenversorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung stärker an der Bedürftigkeit der Leistungsempfänger orientiert werden. Analog zu den jüngeren Reformen in der Rentenversicherung müssten aber auch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf eine Basissicherung konzentriert werden. Leistungen, die darüber hinausgehen, wären dann eigenverantwortlich durch private Absicherungen zu decken. Nur so kann es gelingen, mehr Wettbewerb und mehr marktwirtschaftliche Steuerungsmechanismen im Gesundheitswesen zu etablieren und die enormen Effizienzreserven im Gesundheitssystem zu erschließen.
Die Finanzierung von den Löhnen abkoppeln
In einem weiteren Schritt müsste die Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung soweit wie möglich von den Löhnen abgekoppelt werden. Denn hier ist das Äquivalenzprinzip zwischen Beiträgen und Leistungen – anders als in der Renten- und Arbeitslosenversicherung – noch nicht einmal ansatzweise eingehalten.* Wo einkommensunabhängige Beiträge die individuelle Leistungsfähigkeit überfordern, müsste der Staat durch allgemeine Steuermittel aushelfen. Diese Maßnahmen – ergänzt um eine Steuerfinanzierung der in den Sozialversicherungen noch enthaltenen versicherungsfremden Leistungen wie beispielsweise arbeitsmarktpolitische Maßnahmen – sollten die Sozialsysteme auf dem Weg zur Trag- und Zukunftsfähigkeit einen großen Schritt voranbringen.
Die konsumtiven Staatsausgaben senken
Um die öffentlichen Haushalte nicht weiter zu belasten, sind entschlossene und konsequente Einsparungen bei den übrigen Staatsausgaben erforderlich. Das gilt erst recht, da die lange Zeit zur Finanzierung von Sozialversicherungsreformen ins Auge gefasste Mehrwertsteuererhöhung im Jahr 2007 zum größten Teil zur Verbesserung der Staatseinnahmen verwendet werden soll. Umso mehr kommt es nun darauf an, vor allem die konsumtiven Staatsausgaben zu senken und die Subventionen zu kürzen. Der aktuelle Subventionsbericht der Bundesregierung, und mehr noch der Subventionsbericht des Kieler Instituts für Weltwirtschaft dokumentieren weiterhin umfangreichen Handlungsbedarf beim Abbau von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen. Aber auch die verstärkte Priva- tisierung von staatlichem Besitz sowie von bislang in öffentlicher Hand ausgeführten Tätigkeiten stellen Konsolidierungspotenziale dar. Immerhin belaufen sich die gesamten Ausgaben des Staates in Deutschland immer noch auf 47 Prozent – also auf fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts.
Zusammengefasst bestehen zahlreiche Ansatzpunkte zur besseren Ausrichtung unserer Arbeitsmärkte, der Sozialsicherungssysteme und der öffentlichen Haushalte auf die vor uns liegenden Herausforderungen. Eine zusätzliche Umverteilung, ein tieferer Griff in die Tasche der Steuerzahler und die damit verbundene Beeinträchtigung der Leistungsbereitschaft der Bürger gehören allerdings nicht dazu.
* Bei der Einführung des Krankenversicherungsschutzes unter Bismarck erstreckte sich die Versicherungsleistung lediglich auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Diese Leistung stellte eine enge Beziehung zwischen Beiträgen und Leistungen dar und rechtfertigte somit auch die Beitragsfinanzierung. Im Laufe der Zeit wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall jedoch zu einem großen Teil auf die Unternehmen verlagert. Inzwischen müssen die Unternehmen in den ersten sechs Krankheitswochen die Lohnkosten voll übernehmen. Damit wurde die Beitragsäquivalenz in der gesetzlichen Krankenversicherung fast vollständig aufgegeben.