Schröders Bauch ist einmalig

Der Instinktkanzler hat seiner Partei die Wahl gerettet. Wiederholbar wird das so nicht mehr sein. Wenn die SPD gedanklich auf der Höhe des sozialen Wandels sein will, muss sie jetzt damit anfangen, ihre programmatischen Batterien aufzuladen

In den ersten Analysen des knappen Wahlsieges der SPD fand sich fast durchgehend ein Befund: Perfekte mediale Inszenierung und Imagepolitik, die Sozialdemokratie als bloße Macht- und Serviceagentur - das ist nicht genug. Entscheidend in der Schlussphase des Wahlkampfes war die echte Politik Schröders (Hartz, Flut), entscheidend waren die richtigen Themen (Vereinbarkeit von Familie und Beruf, soziale Gerechtigkeit, Nein zum Irakkrieg) und die rot-grüne Polarisierung. Mit Hilfe von Foren und Netzwerken der Mitgliederpartei (manches davon organisiert aus dem Arbeitsbereich Unterstützergruppen der "Kampa 02), gelang so die Mobilisierung der generationellen Neuen Mitte: der 68er-Generation, der damals linksradikalen Nach-68er-Generation, der Willy-Wähler der siebziger Jahre. Hinzu kamen die Kohorten der Neuen Sozialen Bewegungen der achtziger Jahre.


Was Franz Walter als deren "Kraftpotentiale und kulturelle Mentalitäten" bezeichnet, besitzt vor allem eine inhaltliche Dimension. Die Parolen der "Erneuerung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit" trafen die tiefsitzende politische Verortung von Mehrheiten dieser Alterskohorten. Die Abwehr der bayrischen kulturellen Reaktion trat hinzu: "Ihr werdet mich schon noch kennen lernen!", lautete ein Stoiber-Plakattext von Klaus Staeck. Das kam an. Aufgrund vorhandener politischer Sozialisation, Sinnressourcen und kultureller Werte entwickelte sich im Lagerwahlkampf der Endphase programmatische Orientierung gewissermaßen durch die Hintertür. Die kluge Mehrheit der Wähler wusste, wie begrenzt die wirtschaftliche Entwicklung heute durch nationale Politik steuerbar ist. Nicht die weltwirtschaftlich verhagelte ökonomische Leistungsbilanz, sondern die Differenz des kulturellen Programms hat - mit Schwankungen von nur drei Prozent bei der SPD über alle Altersgruppen verteilt - die Wahl entschieden.

Auf den Unterschied kommt es an

Doch sogleich erhob Peter Glotz warnend die Stimme: "Gewonnen hat der Bauch Schröders, nicht der Kopf der Partei. So etwas ist unwiederholbar." Das scheint in der Tat eine Lehre für die Zukunft zu sein: Gerade wo der Abstand der Lager minimal ist, wo die weltanschauliche Polarisierung der Vergangenheit angehört, wo sich die Parteienbindungen lockern und die Medialisierung zunimmt, wo Spielräume nationaler Politik angesichts von Globalisierung und Europäisierung geringer werden und wo politische Partizipation der jüngeren Generation fremd zu werden droht - gerade da muss die Politik der SPD im Wettbewerb programmatisch-konzeptionell unterscheidbar bleiben.


Ob Grundsatzprogramme, Aktionsprogramme, Wahlprogramme oder programmatische Koalitionsvereinbarungen - die Sozialdemokratie hat sich stets als Programmpartei verstanden. Über kurz- oder mittelfristig angelegte Zielbestimmungen hinaus vermittelten die historischen Programme oft ein Bild der Erfahrungen und Sorgen, Nöte und Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen der in der Sozialdemokratie zusammengeschlossenen Gemeinschaft von Menschen - gerichtet auf das grundsätzliche Ziel einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, ohne Erniedrigung, ohne Not. Die Absicht war, politische Ziele und politisches Handeln an gemeinsamen Wertmaßstäben, an sittlichen Grundwerten auszurichten. Es ging um jene Menschen, die ohne Sammlung ihrer politischen Kraft den Kürzeren ziehen würden. Gerade die großen Diskurse der Arbeiterbewegung (Verhältnis von kapitalistischer Ökonomie, Gesellschaft und Staat; Reform oder Revolution; Demokratie oder Diktatur; Verhältnis zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt et cetera) spiegelten sich in den Programmen.

Kein Primat der Politik ohne Programmatik

Vom viel beschworenen "Primat der Politik" kann ohne Programmatik keine Rede sein, denn wer die Welt verändern will, muss zunächst fähig sein, sie zu interpretieren, muss die Ziele seines politischen Handelns beschreiben können. Nur wenn Theorie und Praxis im Einklang stehen, kann sozialer Wandel adäquat aufgenommen und aktiv gestaltet werden. Man hat das nach dem Ende des ideologischen Zeitalters auch als Notwendigkeit einer zeitgemäßen sozialdemokratischen "Erzählung" bezeichnet. Bei fehlender (oder realitätsferner) Programmatik droht das Handeln richtungslos "praktizistisch" zu werden - im schlimmsten Fall bleibt allein die Auswahl politischer Eliten übrig.


Gute Programme haben immer mit beidem zu tun: mit Theorie (Grundüberzeugungen, Gesellschaftsanalyse) und mit Praxis (Macht, Einfluss, Gestaltungswillen). Eine auf das Handeln zielende Programmatik kann Orientierung geben, den Zusammenhalt fördern und Macht legitimieren helfen. Denn in einem Gemeinwesen bestimmt derjenige die Zukunft, der die Erinnerung ausfüllt, Konzepte definiert und die Vergangenheit interpretiert. Ohne in dessen ideologischen Kontext zurückzufallen, kann man dies nach einem Begriff von Antonio Gramsci "kulturelle Hegemonie" nennen. Es geht also auch um die Voraussetzungen von Mehrheitsfähigkeit und politischer Macht. Oder in den Worten Gerhard Schröders: "Wir wissen, dass nur die Partei dauerhaft überzeugend Regierungsverantwortung zu tragen im Stande ist, die bereit ist, sich auch programmatisch immer wieder zu erneuern und die Zukunft immer wieder neu zu denken. Orientierung kann aber nur die Partei bieten, die in ihren Grundüberzeugungen fest bleibt."


Das ist der Sinn jeder Programmdebatte: Nur eine Programmpartei verliert die Zielrichtung der eigenen Politik auch in den Tagesgeschäften und im Ringen um Kompromisse und Entscheidungsmöglichkeiten nicht aus dem Auge. In einer demokratischen politischen Kultur ist das rot-grüne Spannungsverhältnis zwischen großen Zielen, kleinen Schritten, Kompromissen und dem "Schneckentempo des Fortschritts" (Günter Grass) nicht einseitig auflösbar. Was die anderen boten: opportunistische Preisgabe der eigenen Identität, inhaltsleere Machtorientierung, neoliberal begründeter Politikabbau, fatale Mischungen aus Spaßpartei und rechtem Populismus - das blieb zu Recht erfolglos.

Die Chance auf ein Leben in Würde

In über 140 Jahren SPD-Geschichte waren die Programme der Partei immer Kinder ihrer Zeit: von der frühsozialistischen Trias Lassalles - Assoziationen, Bildung, Produktivgenossenschaft - über die proletarische Klassenpartei mit revolutionärem Anstrich bis hin zur reformorientierten linken Volkspartei und schließlich hin zur aktuellen Suche nach programmatischen Erneuerungsformeln ("Neue Mitte", "Dritter Weg", "modernes Regieren", "Zivilgesellschaft"). Gleichzeitig drückt sich in den Programmen Kontinuität aus, nämlich das Wissen, dass soziale Rechte und demokratische Freiheiten einander bedingen. Wer wäre hier ein besserer Kronzeuge als der vor zehn Jahren gestorbene Willy Brandt: "Wen immer man zu den Ahnherren der SPD zählt - Ferdinand Lassalle, Bebel und Liebknecht, Marx und Engels -, sie alle wussten, dass der Kampf der Entrechteten, der breiten Schichten um soziale Emanzipation nur im Verbund mit dem Kampf um Demokratie Erfolg haben konnte ... Es ist der Kampf gegen die Vergewaltigung des Menschen und seiner Freiheiten, das Ringen um Gerechtigkeit und Solidarität in den zwischenmenschlichen Beziehungen, der sich durch alle Programme hindurch zieht. Im freiheitlichen, im demokratischen Sozialismus lebt über alle Zeitläufe hinweg die Zuversicht in die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung, die jedem Menschen die gleiche Chance gibt, sein Leben in Würde frei zu gestalten. Nein, einen Bruch in den Wert- und Zielvorstellungen der Sozialdemokratie gibt es nicht."


Das Hauptproblem sozialdemokratischer Programme war zumeist deren Zweiteilung, in eine grundsätzliche theoretische Analyse und in einen praxisbezogenen Katalog von Forderungen. Der Widerspruch zwischen beiden Teilen, zwischen Revolutionserwartung und Reformpraxis, blieb fast immer unaufgehoben. Es war einer der Irrwege des "Roten Jahrzehnts 1967-77" (Gerd Koenen), welches bei manchem Juso bis Ende der achtziger Jahre andauerte, dass der Kern dieses von Engels und Kautsky popularisierten marxistischen Weltbildes in dieser Zeit eine Renaissance erlebte: der Staat als Klassenstaat, das Politische als Geschichte von Klassenkämpfen, der notwendige Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie, die Verwirklichung einer ausbeutungsfreien Gesellschaft der Gleichen durch Enteignung der Bourgeoisie, das ökonomistisch verkürzte Sozialismuskonzept: "Sozialismus = Sozialisierung plus Planwirtschaft".

Anti-Sozialdemokraten führen das Wort

Die Dialektik der Geschichte besteht darin, dass derartige Endmoränen der 68er-Sackgassen bei Jüngeren zur Abwendung von der Theorie überhaupt führten. Wer setzt sich schon noch mit Klassikern des Sozialismus auseinander? Wo heute überhaupt polit-ökonomisch Bezug genommen wird, von Altvater bis zum Empire von Hardt und Negri, da geht es meist ziemlich antisozialdemokratisch zu. Dabei gäbe es lesenswerte Schriften - etwa die von Bernstein, der programmatische Grundannahmen der modernen Sozialdemokratie vorwegnimmt. Wie Bernsteins Haltung der permanenten "revisionistischen" Überprüfung jeder Theorie anhand der Wirklichkeit, wie seine empirische Kritik an Zusammenbruchs-, Klassen- und Verelendungstheorie, seine Haltung praktischer Gesellschaftsreform (statt Total-Umschwung), seine theoretische Klärung des Verhältnisses von Sozialismus und Demokratie: "Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel zur Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus".

Erst Godesberg vereinte Theorie und Praxis

Das Godesberger Programm von 1959 symbolisiert den Wendepunkt der SPD-Programmgeschichte: Erstmals sind Theorie und Praxis im Einklang, was aus Gründen der Wahrhaftigkeit und der Rationalität des Handelns überfällig war. An die Stelle einer Gewissheit stiftenden Weltanschauung rückten die nüchternen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. An die Stelle des abgeleiteten besonderen Wahrheitsanspruches rückte weltanschauliche Offenheit und das Eintreten für praktische Schritte zur besseren Gestaltung der Lebensverhältnisse. Sozialismus wurde nicht mehr als Endziel verstanden, sondern als Kompass eines Weges ("dauernde Aufgabe"). Man verzichtete auf letzte Fragen, näherte sich stattdessen den Voraussetzungen für geglücktes Leben. Sozialismus bedeutete nun die Demokratisierung aller Lebensbereiche. In der Wirtschaftspolitik debattierte man über Instrumente pragmatisch: Auch der Markt, der Wettbewerb, die freie Unternehmerentscheidung haben, wie die Kontrolle wirtschaftlicher Macht, ihren Stellenwert. Aus der Klassenpartei wurde eine linke Volkspartei, offen für alle Schichten.


Das Berliner Programm von 1989 schließt hier an und nimmt neue Fragen wie die Ökologie, die Gestaltung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die Gleichstellung der Frauen oder die strukturelle Arbeitslosigkeit auf. "Das Kapital hat dem Menschen, nicht der Mensch dem Kapital zu dienen", fordert das Berliner Programm. Will die SPD diesem Ideal unter den neuen Bedingungen der Globalisierung treu bleiben, muss die in den letzten Jahren neuerlich begonnene Grundsatzprogrammdebatte fortgesetzt werden. Die veränderten praktischen Verhältnisse müssen theoretisch und programmatisch neu durchdrungen werden. Es geht um Lernprozesse, um Überzeugungsarbeit, um mehrheitsfähige Gestaltungskonzepte, aber auch um "lange Linien", die begründen können, warum es nicht vermessen ist, wenn die linke Mitte heute selbstbewusst den Anspruch formuliert, eine ganze Epoche gestalten zu wollen.

Steht das postdemokratische Modell bevor?

Die SPD als Mitglieder- und Volkspartei mit einem Pluralismus von Wählerschichten, Zielgruppen, sozialen Milieus und Generationen, sowie als Programmpartei - gerade erst wieder mit dem 88-seitigen Programm der Koalitionsvereinbarung 2002 bis 2006 - hat heute nicht nur mit dem ewigen Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis zu tun. Hinzu tritt die Frage, wie sich dieser Parteientypus damit verträgt, auch Medienpartei sein zu müssen. Was bedeutet es, hochzentralistisch und schnell mit PR-Experten, Consultants, Werbefachleuten, Politikprofis Medienkommunikation zu betreiben? Die aktuelle Demoskopie nicht aus dem Auge zu verlieren? Medienevents zu inszenieren und auf Personalisierung im Medienzirkus von Prominenten zu setzen? Zugespitzt gefragt: Wird das klassische Demokratiemodell des programmatischen Angebots nicht ersetzt durch ein postdemokratisches Nachfragemodell? Das Modell der demokratischen Mitgliederpartei wirbt für die grundwerteorientierte kulturelle Gemeinwohlalternative - beim Nachfragemodell formulieren Profis der medialen Kommunikation ad hoc politische Angebote zum Zweck der Optimierung von Stimmen auf dem Wählermarkt, und Leitmedien blähen Momentaufnahmen der Stimmungsdemokratie auf. Ist beides gleichzeitig möglich?


Natürlich können wir uns nicht für ein Modell entscheiden, das Fernsehen abschaffen und die Bildzeitung verbieten. Vielmehr muss es darum gehen, mit intelligenten Verbindungen unter neuen Bedingungen das Programmatische zu bewahren. Das hat eine Chance, solange der postmoderne Gestus nicht alles ist: "Für ihn war Geschichte schon lange nur noch Geschehen, Chaos, strukturiert von einem Zufallsgenerator", heißt es in dem Roman Desaster von Bruno Richard. Demgegenüber wächst in manchen Milieus heute wieder das Bedürfnis nach Selbstverständigung, nach gesellschaftspolitischer und philosophischer Grundsatzdebatte, nach Erörterung von Werte- und Wahrheitsfragen. Von "neuer Ernsthaftigkeit" als Suche nach geistiger und moralischer Orientierung ist die Rede. Das Kulturelle als Ort phantasievoller Kritik, mit neuen Fragen des Woher-wir-kommen und Wohin-wir-gehen hat allen kulturpolitischen Finanzkrisen zum Trotz Konjunktur.

Dann doch lieber die erweiterte Netzwerkpartei

Eine mögliche Verbindung sei zum Schluss angedeutet: Die täglichen Entscheidungen der Regierung sind das eine. Doch erst ein erweitertes Verständnis des Reformprojektes "Netzwerkpartei" würde die kulturelle Suche nach Orientierung und Sinn ermöglichen. Diese "Netzwerkpartei" wäre weniger virtuell und medienfixiert als im Wahlkampf, nicht als Zerstreuung und Unterhaltung angelegt, sondern partizipatorisch und programmatisch. Sie wäre eine demokratische Kommunikationspartei als Teil der diskursiven Bürgergesellschaft und des prozessualen Selbstgesprächs der Gesellschaft. In ihr ginge es um phantasievolle Kritik und handlungsorientierte Programmatik. Die SPD in solch einem Sinne - dezentral, teilhabeorientiert, vielstimmig, aber auch Folgerungen ziehend - wäre wirklich auf dem Weg zu einer "neuen Kultur des Zusammenlebens und Zusammenwirkens", wie sie das Berliner Programm fordert.

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