Schriftsteller im Scheinwerferlicht

Berliner Lach- und Sachliteratur zwischen Pop, Arztroman und Philosofie

Ich möchte übrigens nochmal darauf hinweisen, dass das hier eine Tanzveranstaltung ist!" Der Endzwanziger mit dem kahlrasierten Schädel spricht mit ernstem Tonfall ins Mikrofon, doch das Publikum zeigt sich unbeeindruckt. Die einen bleiben auf ihren Stühlen oder Bänken sitzen, andere holen sich am Tresen noch ein Bier. Währenddessen schallt aus den Boxen saftiger Surfrock. Die Beachpartyklänge aus dem Kalifornien der 60er Jahre könnten einen schon aufspringen lassen, doch selbst wenn der Eine oder Andere tanzen wollte: Die zwei Quadratmeter zwischen den Zuschauerreihen und der kleinen Bühne laden höchstens zum Stehblues ein. Aber das macht nichts, denn trotz der regelmäßig wiederholten Beschwörungen geht es hier nicht um Musik oder Tanz. Es wird gelesen: Wie jeden Mittwoch Abend geben die Surfpoeten im Kellergewölbe des Bergwerks in Berlin Mitte ihr literarisches Schaffen zum besten.


- DJ Lt Surf, der zwischen den Vorträgen den Raum beschallt, ist dabei weit mehr als ein akustischer Lückenfüller. Er macht Party (und getanzt wird zu guter Letzt dann doch). Was hier passiert ist weit weg von Literarischem Quartett oder politischem Kabarett. Die Surfpoeten kreieren Pop - mit einer kräftigen Portion Trash versehen. Das Spektrum ihrer Texte spannt sich von Robert Webers expressionistischen Actionthrillern á la 007 über Tubes mit klassisch berlinischem Einschlag vorgetragene Hinterhoferzählungen bis zu den musikalischen Klampfen- und Gesangseinlagen von "Lolek und Bolek". Da wird die Evolution via Zahnputzbecher vorangetrieben, "daylightsaving" erläutert, krude Herbstlieder und das letzte Hossa gesungen. Die sich da auf der Bühne tummeln sind gänzlich unbefleckt vom Odium literaturwissenschaftlicher Seminare. Mit der Gründung der Surfpoeten haben sich vor rund anderthalb Jahren Informatiker und Sozialhilfeempfänger zusammen gefunden, auch ein Privatdetektiv ist dabei.


- Seit einigen Monaten steigt samstags abends im nahegelegenen Acud der Surfpoeten Partyclub. Dann bestreiten wechselnde Bands den musikalischen Part und es wird gerne auch schon in den Pausen der Lesung getanzt. Wer und wie viele sich zum Partyclub zusammenfinden, hängt vor allem vom Gefolge der Bands ab. Deren Fans mussten schon manches Mal beschwichtigt werden: Lesung contra Konzert. Bislang konnte aber beides noch immer unter einen Hut gebracht werden.


- Wortlastiger sind die Dienstagabende im Keller des Zosch. In veränderter Besetzung wird dort allwöchentlich LSD verabreicht (soll heißen: Liebe statt Drogen, Literatur und Systemkonforme Dichtkunst ...). Das geneigte Publikum kann Einblick in den (bislang nur fragmentarischen) Arztroman Spiders gewinnen, in dem Madeleine Chantale Schibrowski irgendwie abhanden kommt. Weitere Zutaten: ein erotisches Märchen und eine romantische Geschichte über Hartmut und Brigitte, deren Ende nicht nur überraschend ist, sondern auch einige Fragen offen lässt. Ach ja, den Eunuchen mit seiner Freundin nicht zu vergessen! Eine Moral hatte die Geschichte natürlich auch. Das kann von den gelegentlichen musikalischen Einlagen nicht unbedingt gesagt werden. Die leben vor allem vom schönen Gesang. Anders als die Surfpoeten fordert LSD sein Publikum: Beim "Bad story contest" gibt das Publikum eine Hand voll Begriffe vor. Alle Anwesenden sind nun gehalten, daraus eine Geschichte, ein Gedicht oder ähnliches zu machen. Gegen Ende des Programms dürfen Freiwillige sich auf die Bühne wagen. Für den Fall, dass es keine Freiwilligen gibt, legen sich auch die Herren Dichter während der Pause ins Zeug. Der am heftigsten ausgebuhte Vortrag gewinnt den Wettbewerb.


- Die Literaturbühnen in Berlin Mitte haben mittlerweile auch im Friedrichshain Ableger hervorgebracht. Die derzeit jüngste Veranstaltung dieser Art hat sich im Herbst 1999 unter dem Titel Chaussee der Enthusiasten im Keller der Tagung - dem Cube Club - etabliert (jeweils donnerstags). "Die schönsten Schriftsteller Berlins erzählen was" verkünden die Youngster, die ihre ersten Rampenerfahrungen zum Teil bei den Dichterkollegen in Mitte gemacht haben. Im Friedrichshain geht es deutlich kieziger zu als bei den großen Brüdern: Der Keller ist kleiner, in den Texten sind Anklänge an die heimatlichen Gefilde nicht selten (und da gehört der nördliche Friedrichshain schon nicht mehr zu!), die ganze Atmosphäre ist kuscheliger.
Wie ja überhaupt der Friedrichshain kuscheliger ist als Mitte oder Prenzlberg. So lauscht das Publikum im Cube Club herzerwärmenden Geschichten aus dem Karree, in denen auch der real existierende "Knutti′s Heimtiermarkt" nicht zu kurz kommt - vorgetragen von einem Menschen bayrischen Dialekts. Ansonsten wird bei den Enthusiasten jedoch akkurat berlinert.


- Weltläufiger gibt man sich dagegen beim Mittwochsfazit. Horst Evers, Bov Bjerg und Manfred Maurenbrecher stehen an besagtem Wochentag in der Knorre auf der Bühne (solange noch, bis das Schlot, voraussichtlich Mitte Februar, neu eröffnet): Kein Keller, kaum Trash und Dialekt nur dosiert eingesetzt. Selbst Bühnenboheme Evers wagt sich mit seinen regelmäßig vorgetragenen "Zukunftsfragmenten" an hochphilosofische Themenkomplexe: "Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Muss ich da mit? Dauert das lange?" Darüber hinaus hat der Mann auch Sinn fürs Gefühlige: "Schwitzen ist, wenn Muskeln weinen." Bov Bjerg, der aus seinem (noch unvollendeten) Postroman vorträgt, profiliert sich mit seiner Analyse der Westberliner Vorwendegesellschaft als Systemtheoretiker. So richtig knallen tut′s, wenn Manfred Maurenbrecher am Flügel loslegt. Da paaren sich treffsichere Texte mit kraftvollem Gesang. Nicht nur, dass Maurenbrecher eine Stimme hat, die sich mit der von Tom Waits messen lassen kann; er schwitzt zudem wie Konstantin Wecker in seinen besten Zeiten.


- Evers und Bjerg können auch schon vormittags bewundert werden, sonntags ab 12.00 Uhr lädt Dr. Seltsam zum Frühschoppen in die Kalkscheune. Dort sind neben Dr. Seltsam, der den Frühschoppen moderiert, auch Sarah Schmidt, Andreas Scheffler, Hinark Husen und Jürgen Witte anzutreffen. Bei Milchkaffee, Croissant (und anschließendem Bier) wird vor etwas älterem und gesetzterem Publikum über Gott, die Welt, den Alltag und auch Politisches parliert. Wem die nachtschlafene Zeit dieser Veranstaltung nicht behagt, der hat die Möglichkeit, sich der Reformbühne Heim und Welt zuzuwenden, die am gleichen Tag abends im Schokoladen tagt. Nicht nur die Besetzung auf der Bühne überschneidet sich mit dem Frühschoppen und dem Mittwochsfazit, auch inhaltlich ist das zum Teil der Fall. Eine kompakte Essenz dieser Veranstaltungen findet sich im Salbader Belehrung & Erbauung. In dem kleinen gelben Heft werden die Werke der Literaten um Dr. Seltsams Frühschoppen und die Reformbühne im Vierteljahresrhythmus gesammelt und publiziert. Damit können die wirklichen Fans sich dann in eine stille Ecke verziehen und sich alles noch mal in Ruhe auf dem Zwerchfell zergehen lassen. Nur mit der Tanzveranstaltung wird es dann nichts. /

Die Surfpoeten: Bergwerk, Bergstr. 68 (Mitte). Mi 21.30 Uhr.

Surfpoeten Partyclub: Acud, Veteranenstr. 21 (Mitte). Sa 23.00 Uhr.

LSD: Zosch, Tucholskystr. 30 (Mitte). Di 21.30 Uhr.

Chaussee der Enthusiasten: Cube-Club (unter der Tagung), Wühlischstr. 29 (Friedrichshain). Do 21.00 Uhr.

Mittwochsfazit: Knorre, Knorrpromenade 2 (Friedrichshain). Mi 21.00 Uhr.

Reformbühne Heim und Welt: Schoko-Laden, Ackerstraße 169-170 (Mitte). So 20.15 Uhr.

Dr. Seltsams Frühschoppen: Kalkscheune, Johannisstr. 2 (Mitte). So 12.00 Uhr.

Aktuelle Termine, viele Texte und einige Porträts stehen auch im Internet: salbader.prenzl.net oder www.lsdonline.de

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