Sehnsucht nach Weimar

Auch in der Linkspartei gibt es kluge Köpfe auf der Höhe des 21. Jahrhunderts. Doch in ihrem kollektiven Selbstverständnis und Stil steckt die Partei noch immer tief in der konfrontativen politischen Kultur der Zwischenkriegszeit fest

Gesine Lötzschs Artikel „Wege zum Kommunismus“ hat die Frage nach der historischen Verortung und dem programmatischen Selbstverständnis der Linkspartei neu aufgeworfen. Nach den Wahlerfolgen der vergangenen Jahre wurde die Partei in toto als bundesdeutsche Normalität wahrgenommen – sowohl Gregor Gysis eloquente Talkshowauftritte als auch Oskar Lafontaines polternder Populismus und die heterogenen Positionen einer gespaltenen Mitgliedschaft. Wie selbstverständlich begannen die Medien, über mögliche Konstellationen in einem neuen Parteiensystems zu spekulieren. Und immer wieder erschallte die Forderung, SPD und Grüne sollten die Linkspartei auch auf Bundesebene als Partner akzeptieren, als Grundlage progressiver Realpolitik.

Eine Auseinandersetzung mit der politischen Kultur der Linkspartei fand hingegen kaum statt. Im Gegenteil: Je erfolgreicher die „Linken“ agierten, desto stärker gerieten ihre Grundüberzeugungen in den Hintergrund. Dies hat sich nun geändert. Lötzsch hat uns einen tiefen Einblick in die emotionalen Befindlichkeiten und ideologischen Grundfesten ihrer Partei eröffnet. Zu Recht haben die kritische Öffentlichkeit und die demokratischen Parteien moniert, dass man nicht vom Kommunismus reden und zu seinen Verbrechen schweigen kann. Deshalb möchte ich die Frage stellen, warum Lötzsch so geringe Berührungsängste mit einer Terminologie hat, die durch die Verbrechen des 20. Jahrhunderts desavouiert wurde. Dabei wird sich zeigen, dass die „Linke“ in entscheidenden Punkten das Selbstverständnis der Bundesrepublik nicht teilt, das sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg parteiübergreifend gebildet hat. Die Linkspartei, so meine These, idealisiert Werte, Begriffe und eine politische Kultur, die an die Weimarer Republik erinnern.

In der Regel beurteilen die Medien und die demokratischen Parteien die Regierungsfähigkeit der Linkspartei anhand ihres Verhältnisses zur DDR. Die Anerkennung des Unrechts, das die SED in Ostdeutschland ausübte, ist für deren Nachfolgepartei ein demokratischer Lackmustest. Traditionell fällt es der Linkspartei schwer, Verantwortung für Willkür und Diktatur zu übernehmen. Über weite Strecken bestimmen Apologie und Verharmlosung ihren Blick auf die Gewaltherrschaft der SED. Das Führungspersonal wehrte sich auch gern vor Gerichten gegen die genaue Durchleuchtung der eigenen Rolle in der DDR. Weil sich die Öffentlichkeit auf die Haltung der Linkspartei zur DDR fixiert, ist bisher kaum versucht worden, sie im weiteren Kontext der deutschen Geschichte zu verstehen.

Bonn hieß: Ausgleich statt Bürgerkrieg


In seiner Analyse der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik gab der Schweizer Journalist Fritz René Allemann im Jahr 1956 die beruhigende Devise „Bonn ist nicht Weimar“ aus. Demnach hatte die parlamentarische Demokratie in Deutschland erfolgreich Fuß gefasst. Die Schwächen der Weimarer Republik waren überwunden: die mangelnde Legitimität und Stabilität demokratischer Institutionen, der konfrontative Politikstil, die ausgezehrte politische Mitte, die starken extremen Parteien und, daraus resultierend, das ständige Spiel mit Ausnahmezustand und Bürgerkrieg. Bei aller Härte in den Debatten hatten sich die Protagonisten des Bonner Staates von einem Carl Schmitt‘schen Politikstil des unversöhnlichen Kampfes verabschiedet. In wichtigen Fragen setzten sie zunehmend auf Ausgleich und Kompromiss; daraus entstand jene bundesdeutsche Stabilität, die heute sprichwörtlich ist.

In den Auseinandersetzungen der ersten Nachkriegsjahrzehnte formte sich jene Staatsräson, auf der die Stabilität Deutschlands und sein steigendes Ansehen in der Welt gründete: Westbindung, europäische Einigung und Versöhnung nach außen, sozial gebundene Marktwirtschaft nach innen, ein antitotalitärer Konsens sowie die Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus bildeten und bilden das Fundament bundesrepublikanischer Staatlichkeit. Nach anfänglichem Zögern akzeptierten auch die Grünen diesen Kanon. Sicher handelt es sich bei diesen Grundfesten des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses nur um ein Ideal, das in der politischen Wirklichkeit häufig verfehlt wird. Entscheidend bleibt jedoch, dass es als Selbstverpflichtung der demokratischen Akteure wirkungsmächtig war und ist.

Nach der Wiedervereinigung musste Deutschland neue Aufgaben schultern. Dazu zählen die Lasten der Einheit und der Anpassungsdruck einer globalen Ökonomie wie eine gestiegene außenpolitische Verantwortung des nun souveränen Deutschland in Europa und der Welt, die mehrfach in militärischem Engagement mündete. Auch vor dem Hintergrund dieser neuen Herausforderungen bewährte sich der bundesdeutsche Wertehimmel. Die Erweiterung der Europäischen Union und die Reform des Sozialstaates waren ebenso Ausdruck bundesdeutscher raison d’état wie die Solidarität im westlichen Bündnis und das globale Engagement für Menschenrechte. Auf diese Weise zeigte sich nach 1989, dass die bundesdeutsche Staatsräson zugleich gefestigt blieb und doch flexibel genug war, um auf neue Situationen zu reagieren, ohne bewährte Prinzipien aufzugeben. Zuletzt bewies dies die Große Koalition, der es mit entschlossenem Handeln gelang, die Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf die deutsche Wirtschaft zu begrenzen. Nicht nur Bonn, sondern auch Berlin ist nicht Weimar.

Umso erstaunlicher, wie wenig in den Medien und in den politischen Debatten der vergangenen Jahre hervorgehoben wird, dass sich hierzulande eine politische Kraft etabliert hat, die diese Fundamente bundesdeutscher Staatlichkeit mehrheitlich ablehnt: die soziale Marktwirtschaft, die Westbindung, die europäische und globale Verantwortung Deutschlands ebenso wie den antitotalitären Konsens und die besondere Beziehung zu Israel. Das politische Ideal der Linkspartei wird nicht von den Prinzipien der Bundesrepublik bestimmt, sondern von einer naiven Romantisierung der Weimarer Verhältnisse. Diese Selbstpositionierung in der deutschen Geschichte unterscheidet die Partei fundamental von den anderen Kräften des politischen Spektrums. Ihr Blick ist rückwärts gerichtet, und ihre politische Kultur verklärt die Kämpfe des frühen 20. Jahrhunderts – der Artikel von Gesine Lötzsch ist das beste Beispiel.

Dass die Linkspartei aufgrund ihres sozialistischen Selbstverständnisses die bestehende Wirtschaftsordnung ablehnt, ist verständlich. Bezeichnend ist jedoch, mit welcher Gedankenlosigkeit Parteimitglieder Forderungen nach Verstaatlichung und staatlicher Steuerung vortragen – Maßnahmen, die schon im 20. Jahrhundert nicht zu mehr Wohlstand geführt haben, sondern zu Armut und Unfreiheit. Der Linkspartei geht es nicht um alternative Wirtschaftsmodelle, sondern reflexhaft um die Rückkehr zu den wirtschaftspolitischen Losungen der zwanziger und dreißiger Jahre. Gern fordert man „politische Streiks“ oder erwärmt sich an der Vorstellung eines „Generalstreiks“. Über die Kosten solcher Konflikte – zumal für die sozial Schwächeren – schweigt die Partei.

Zivilität gilt als Schwäche


Solche ökonomischen Ideen sind nur ein Beispiel für die Idealisierung der Weimarer Verhältnisse im innen- und ordnungspolitischen Denken der Linkspartei. Hinzu kommt beispielsweise die ostentative Distanz zum Parlamentarismus, die sich in wiederholten Verstößen gegen die Dignität des Parlaments manifestierte. Offenbar stehen hierfür die nicht selten tumultartigen Sitzungen des Reichstages in der Weimarer Zeit Pate. Teile der Fraktion ziehen Spektakel und Krawall der geregelten Auseinandersetzung vor. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist dieses Verhalten befremdlich und verdeutlicht Unreife wie Verantwortungslosigkeit der Linkspartei. Hier kommt ein Politikverständnis zum Ausdruck, das sich an den Vorstellungen von Kritikern des Parlamentarismus wie Clara Zetkin oder Carl Schmitt orientiert: Politik als Kampf, der stets auch die Regelüberschreitung rechtfertigt.

Zugleich gelten Zivilität, Legalität und Affektkontrolle als Schwäche – eine Tendenz, die sich beispielsweise in der Unterstützung der Linkspartei für gewaltbereite Gruppen des linksradikalen Spektrums zeigt. Der Partei fällt es notorisch schwer, sich von gewalttätigen Desperados der linken Szene zu distanzieren. Der Tumult, den die Fraktion im Parlament veranstaltet, ist das strukturelle Äquivalent zum Krawall auf der Straße. Auch wenn die heutige Linkspartei nicht die Radikalität und Gewaltbereitschaft der KPD der zwanziger Jahre an den Tag legt, manifestiert sich in ihren Aktionen doch eine Leidenschaft dafür, den politischen Konflikt im Stil der Weimarer Zeit auszutragen.

Ohne das Feinbild SPD kommt die Linkspartei bis heute nicht aus


Auch die obsessive Auseinandersetzung „linker“ Politiker mit der Sozialdemokratie kennt ihre Weimarer Entsprechung. Es ist frappierend, dass kein anderes Thema die Rhetorik der Linkspartei so sehr prägt wie die Kritik an der SPD. Dabei kann es sich natürlich um legitime Einwände gegen einen politischen Gegner handeln. Zugleich aber kommt der Dauerkritik an der SPD eine andere Funktion zu: Sie ist das Gerüst des sich in immer neuen Maximalforderungen erschöpfenden „linken“ Sozialpopulismus, der schon in der Weimarer Republik nicht ohne das Feindbild Sozialdemokratie auskam. Und sie verdeckt die gähnende Leere der eigenen Programmatik.

Schließlich finden sich auch in den außenpolitischen Vorstellungen einige Anklänge an Weimar. Dies betrifft vor allem die Stellung Deutschlands zum Westen. Während es in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten zum demokratischen Konsens gehört, Deutschland – in deutlicher Abgrenzung zur politischen Kultur des Kaiserreichs oder der Weimarer Republik – als integralen Bestandteil des Westens zu sehen, steht die Linkspartei der Westbindung, die in der Nato und der Europäischen Union ihren institutionellen Ausdruck findet, skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Das unausgesprochene Ziel ist ein souveränes Deutschland zwischen den Blöcken. Im politischen Tagesgeschäft präsentiert sich die Linkspartei aber bevorzugt als Sachwalter eines „Nationalpazifismus“ (Wolf Biermann), der außenpolitische Verantwortung und militärische Interventionen unter Verweis auf die deutsche Geschichte kategorisch ablehnt. Die Linkspartei begreift Deutschland nicht als Teil einer westlichen Wertegemeinschaft, die im Konfliktfall auch bereit ist, universale Werte zu verteidigen. An die Stelle dieser Verantwortungsgemeinschaft tritt eine selbst gewählte Sonderrolle, die darin aufgeht, aus einer isolationistischen Position heraus andere Auffassungen zu verurteilen. Internationale Verpflichtungen werden unhinterfragt unter Imperialismusverdacht gestellt. Dass jede außenpolitische Autorität Deutschlands im Handumdrehen verspielt wäre, würde diese Position in die Tat umgesetzt, muss hier nicht ausgeführt werden. Hingegen steht die Linkspartei der Gewaltanwendung nicht-westlicher Staaten – Kuba, Venezuela, Russland, Iran – deutlich weniger kritisch gegenüber. Nicht Ablehnung von Gewalt ist ihr Kennzeichen, sondern eine Distanz zum Westen, die schon in Weimar zur deutschen politischen Kultur gehörte.

Anachronistischer Märtyrerkult


Es wären noch andere Beispiele für die Sehnsucht nach Weimar zu nennen. Man denke nur an den anachronistischen Märtyrerkult um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, den die Partei aus dem Arsenal des SED-Politkitsches in die Bundesrepublik hinübergerettet hat. Oder an die „antizionistischen“ Reflexe, die sich zuletzt in der Reaktion auf die Rede des israelischen Präsidenten zum Holocaustgedenken im Bundestag zeigten. Ein ähnliches Verhalten gegenüber hohen Repräsentanten einer befreundeten Demokratie wäre in keiner anderen Fraktion denkbar.

Was folgt aus dieser Leidenschaft für Weimar? Nicht nur der Populismus der Linkspartei, nicht nur die Abwesenheit eines Programms und das ständige Spiel mit dem Ressentiment sollten irritieren. Auch die Position der Linkspartei zu der einen oder anderen Sachfrage entscheidet nicht über ihre Politikfähigkeit. Nein, in historischer Perspektive ist die Frage zentral, ob ihre Führung sich dazu durchringen kann, für die Grundwerte der Bundesrepublik zu streiten, statt diese zu bekämpfen. An die Stelle der alten Kampfbegriffe müssten bürgerliche und zivile Werte rücken. Ein solcher Fortschritt käme bei der gegenwärtigen Parteielite allerdings einer mentalen Revolution gleich.

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