Sicherheit nach Kassenlage
Hinter der neuerlichen Reduzierung der Bundeswehr steckt eine fundamentale Kehrtwende: Sicherheit wird nach Budget definiert, nicht nach Interessen und Herausforderungen. Das gefährdet deutsche Interessen, schadet unserer sicheren Zukunft und ignoriert historische Erfahrung. Unser Land ist wie kaum ein zweites international verflochten. Das ist amerikanischer Klugheit geschuldet und dem historisch einzigartigen Lernen der Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg. Die europäische Integration ist ein beispielloses Werk der Friedenssicherung. Krieg zwischen europäischen Nationen ist unmöglich geworden. Aber Europa muss sich heute weltweiten Herausforderungen stellen. Das kann nur gemeinsam gelingen. Dazu muss die noch schmale Basis einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehütet und entwickelt werden. Das Gegenteil geschieht.
Dabei wären alle Voraussetzungen gegeben für Weitblick und Wirklichkeitssinn: Die Bundeswehr ist international und europäisch eng verflochten. Das „stand by agreement“ mit den Vereinten Nationen zeigt das ebenso wie die militärische Integration in der Nato und in Europa. Das belegen gemeinsame Hauptquartiere wie mit den Niederlanden, mit Polen und Dänemark, mit den Vereinigten Staaten sowie gemeinsame Verbände wie das Eurokorps und vor allem die deutsch-französische Brigade. Die Elemente für europäische Lösungen sind also vorhanden; aber es mangelt an Führung, sie zu den notwendigen europäischen Fähigkeiten zusammenzufügen. Hier sollten Deutschland und Frankreich vorangehen, gemeinsam mit Polen und den Ländern des Eurokorps. Das würde die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stärken, ihre Wirksamkeit erhöhen und sie auch dank militärischer Fähigkeiten glaubwürdig untermauern. Stattdessen diktiert der Rotstift die Sicherheitspolitik.
Schlimmer noch: Die isolierte deutsche Debatte wirft Europa zurück und schwächt unser Land. Deutschland muss einen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leisten, der seinen Interessen angemessen ist, auch bei der militärischen Hardware. Unsere Lage in der Mitte des Kontinents, die Größe der Bevölkerung und die Kraft der Wirtschaft erlauben keinen Sonderweg. Genau der aber wird eingeschlagen. Bis 2014 sollen rund 8,9 Milliarden Euro aus der Verteidigung „weggeschnitten“ werden. Die Mittel werden Jahr für Jahr stärker reduziert, von 838 Millionen Euro im Jahr 2011 auf 4,334 Milliarden Euro 2014. Wird die Bundeswehr im gleichen Zeitraum tatsächlich um 40.000 Berufs- und Zeitsoldaten reduziert, dann gehen ihre Fähigkeiten zu Regeneration, zum Aufwuchs und zum Durchhalten verloren. Überdies werden die Pensionslasten steigen – und damit die Mittel für Ausrüstung, Personal und Betrieb weiter schrumpfen.
Wir setzen Standards – auch negative
Dabei hatten gerade die Streitkräfte eine überproportionale Friedensdividende erbracht. Zwischen 1985 und 1989 wurden im europäischen Durchschnitt 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgegeben – in Deutschland 2,9 Prozent. Dieser Anteil am BIP sank stetig auf 1,7 Prozent (im europäischen Nato-Durchschnitt) beziehungsweise 1,4 Prozent (in Deutschland) im Jahr 2009. Die Streitkräfte der europäischen Staaten auf dem Kontinent wurden um 45 bis 55 Prozent verringert. Hier war Deutschland Vorreiter, aber das ist kein Ehrenplatz, denn seit 1990 wird die Bundeswehr nicht mehr angemessen finanziert und ausgerüstet. Dieser Kurs soll nun verschärft werden.
Mit unseren Partnern wird darüber wenig gesprochen. Das wird in deren Hauptstädten beklagt, meistens hinter vorgehaltener Hand. Denn ob man die Eckpfeiler des Jahres 2000 zur Reform der Bundeswehr, das Weißbuch 2006, den Beschluss des Europäischen Parlaments von 2009 oder die Beschlüsse der Nato-Gipfel seit dem Strategischen Konzept aus dem Jahr 1999 heranzieht – immer hat Deutschland Antworten auf gemeinsame Herausforderungen geprägt und ist Verpflichtungen eingegangen. Das soll Transparenz, Vertrauen und Verlässlichkeit unter den Partnern erhalten und ausbauen.
Doch scheinbar zählt dies nicht mehr viel. Die Bundesregierung lässt nämlich die zentrale Frage unbeantwortet: Was ist denn in den vergangenen Jahren sicherheitspolitisch besser geworden – bei Massenvernichtungswaffen und dem Nichtverbreitungsvertrag, mit dem Iran und seiner atomaren Ambition, im Nahen Osten und am Persischen Golf, angesichts von Terror und Piraterie, in Afghanistan oder anderenorts? Wo also hat sich, sagen wir: seit dem Weißbuch 2006 die sicherheitspolitische Lage so verbessert, dass daraus eine derart massive Verringerung der Sicherheitsvorsorge abgeleitet werden könnte? Das darzulegen wäre die Verpflichtung des Sicherheitskabinetts, danach der ganzen Regierung. Dies entspräche dem Primat der Politik und würde einlösen, was unterbleibt: eine klare sicherheitspolitische Ableitung der Vorgaben, die man den Streitkräften macht. Konkret und logisch ableitbar ist einzig und allein die Finanzvorgabe.
Deutschland hat Gewicht und Stimme in Europa; auch mit seinen Versäumnissen setzt es Standards. Was aber wäre, wenn sich jedes Land verhielte wie Deutschland? Schon heute liegt unser Land (bezogen auf Bevölkerung und Wirtschaftskraft) sicherheitspolitisch weit zurück. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 163.500 Mann entspräche 0,2 Prozent der Bevölkerung. Würde jeder Partner in Europa so verfahren, dann müsste zum Beispiel Frankreich von 243.000 auf 135.000 reduzieren, die Niederlande von 51.000 auf 33.000, Polen von 100.000 auf 76.000, Großbritannien von 197.000 auf 122.000, Italien von 197.000 auf 120.000 und Spanien von 143.000 auf 93.000. Keines dieser Länder plant jedoch ein sicherheitspolitisches Harakiri; stattdessen suchen etwa Frankreich und Großbritannien nach gemeinsamen Wegen für ihre Seestreitkräfte, die zugleich finanziell effizienter sind.
Was von der Marine übrig bleibt
Wenn Deutschland aber die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen der Sicherheit an unsere Partner delegieren wollte, dann kostet uns dies Gewicht und Handlungsmöglichkeiten. Das schadet unseren wirtschaftlichen, außenpolitischen, entwicklungspolitischen und sicherheitspolitischen Interessen. Ein Beispiel: Deutschlands Wohlstand gründet erheblich auf freiem Welthandel. Rund 90 Prozent der Rohstoffe erreichen unsere Wirtschaft über die See. Deutschlands Export nach Asien wächst rasch. Die asiatischen Seehandelswege werden immer wichtiger. Zugleich aber nimmt die Piraterie zu und ist eine bedeutende Finanzierungsquelle für Terrorismus. Die Reichweite unserer Interessen (und Ideale) ist größer als die Reichweite unserer Mittel – schon gar der militärischen. Das ist aber kein Grund, die eigenen Möglichkeiten zur Gewährleistung von und zur Vorsorge für Sicherheit zu vernachlässigen. Dennoch wird Deutschland seine Marine reduzieren. Aber um unseren Interessen wirkungsvoll zu dienen, brauchen wir Partner. Die erwarten einen angemessenen Beitrag. Unsere Marine wird es schwer haben, diesen Beitrag in Zukunft noch zu erbringen. Überdies verlieren wir industrielle Kernfähigkeiten – etwa im Schiffbau und Marine-Schiffbau; das Beispiel steht stellvertretend für Informationstechnik, Aufklärung, Präzisionsbewaffnung und vieles andere.
Hält Deutschland seine Zusagen ein?
Zukunftsweisend wäre also die Europäisierung von wehrtechnischen Kernfähigkeiten und von Beschaffungen. Hier (wie auch bei militärischen Verbänden und Hauptquartieren) sollten einige Länder vorangehen. Geld sparen würde dies auch. Stattdessen hört man aus dem derzeitigen deutschen Verteidigungsministerium so perspektivisch schwache und euroskeptische Stimmen wie noch nie. Das fällt freilich nicht weiter auf. Denn die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland hat ihren sehr eigenen Bezugsrahmen: Geld, Standorte, Wehrpflicht. Sie ist also innenpolitisch, nicht etwa außen- oder sicherheitspolitisch bestimmt. Am Geld lässt sich aber gut ablesen, welchen Stellenwert langfristige Zukunftsvorsorge hat – auch in der Sicherheit.
Die Herausforderungen sind komplexer, schwerer einzuschätzen, asymmetrisch und stark geprägt von nicht-staatlichen Akteuren. Oft genug schlagen nichtmilitärische Ursachen – wie ethnischer Hass, religiöser Fanatismus, Kampf um Wasser oder andere – um in militärische Konflikte. Solche Konflikte können unsere vitalen Interessen berühren, auch wenn sie sich geografisch weit entfernt ereignen mögen. Ihnen zu begegnen setzt umfassende Sicherheitspolitik voraus, die sich nicht militärisch definiert, aber auch nicht auf militärische Fähigkeiten verzichtet. Das alles erfordert sehr flexible, über große Distanzen einsetzbare Streitkräfte und rückt vieles in neue Prioritäten, darunter Bewaffnung und Aufklärung, Kommunikation, Führungs- und Durchhaltefähigkeit.
Ohne Investitionen sind diese Fähigkeiten nicht zu erwerben; ohne Investitionen in Soldaten und ihre Fähigkeiten erst recht nicht. Mit dem Wegfall der Wehrpflicht wird jedenfalls viel mehr Geld in attraktive Laufbahnen, in Nachwuchswerbung und die verlässliche Regeneration der Bundeswehr investiert werden müssen, um sie auf hohem Niveau zu halten und vor Überalterung zu schützen. Dies ist ein jahrelanger Prozess, der zudem Geld kostet, das bisher nicht eingeplant ist. Man kann das übrigens erkennen an dem Tarifvertrag zum Abbau von Stellen in der Verwaltung der Bundeswehr; er wurde vor fast zehn Jahren geschlossen, läuft sozial verträglich und wird hoffentlich verlängert. Es ist also richtig, der Bundeswehr und den Soldaten mindestens die gleiche Fürsorge und Zeit einzuräumen.
Deutschland sollte nicht von dem abrücken, was alle Regierungen in Europa und in der Nato unabhängig von ihrer Zusammensetzung zugesagt hatten. Auch wenn ich es aus gesellschaftspolitischen und sicherheitspolitischen Erwägungen für falsch halte – die Wehrpflicht ist faktisch abgeschafft. Nun kommt es darauf an, dass die Bundeswehr dennoch bleibt, was sie bisher war: gesellschaftlich fest verankert, dem Primat der Politik und dem Prinzip des Staatsbürgers in Uniform gehorchend und ein international wie zu Hause geachteter leistungsfähiger Garant unserer gemeinsamen Sicherheit. «