Sicherheit und Chancen: Für eine Politik der linken Mitte
Um ihren inhaltlichen Kurs zu bestimmen, braucht die Partei den richtigen Kompass und eine klare Haltung. Der wöchentliche Blick auf die aktuellen Umfragewerte ist dabei wenig hilfreich. Wir plädieren für eine Politik der linken Mitte. Denn erfolgreich ist die SPD bei Wahlen immer dann, wenn ihren Spitzenköpfen zugetraut wird, das Land gut zu regieren – es wirtschaftlich stark zu machen und dafür zu sorgen, dass es gerecht zugeht.
Die SPD ist der Motor der Großen Koalition im Bund. Sie regiert erfolgreich in der Mehrzahl der deutschen Bundesländer und verantwortet die Politik in vielen Kommunen und in den meisten großen Städten. Es ist das selbstverständliche Ziel der SPD, im Jahr 2017 auch im Bund wieder die führende politische Kraft zu werden und das Kanzleramt zu erobern.
Aber was muss dafür getan werden? Es reicht nicht, nur Politik für einen kleinen Teil der Bevölkerung zu machen und sich auf das Thema der sozialen Gerechtigkeit zu verengen. Vielmehr muss die Vision einer gerechten Gesellschaft sichtbar werden, die alle Bürgerinnen und Bürger mit ihren Interessen berücksichtigt. Die Summe von Partikularinteressen führt nicht zu politischen Mehrheiten. Wenn die SPD wieder die führende politische Kraft in Deutschland werden soll, muss sie erneut das gesellschaftliche Bündnis zwischen der leistungsbereiten Arbeitnehmerschaft und dem aufgeklärten Bürgertum schmieden. Als Volkspartei der linken Mitte muss sie den gesellschaftlichen Bedürfnissen unserer Zeit glaubwürdig Rechnung tragen. Wie keine andere Partei steht die SPD für den Wert der Gerechtigkeit. Wichtig ist jedoch, dass sie stärker als bisher als Kraft der wirtschaftlichen Erneuerung und als Garantin der Freiheit und Selbstbestimmung jedes Einzelnen wahrgenommen wird.
Zurzeit überlagert die Flüchtlingsthematik nahezu die gesamte politische Diskussion. Wir Sozialdemokraten gehen diese Herausforderung mit Tatkraft und Realismus an: Wir schaffen das, wir machen das! Die Zuwanderung bietet große Chancen für unsere Gesellschaft. Schließlich werden wir in den kommenden Jahren weniger und vor allem älter. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge ist jünger als 25 Jahre. Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist es, diese Chancen stärker ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen dies genauso. Andere helfen aus tiefer Menschlichkeit. Dies ist nicht nur aller Ehren wert, sondern verdient unsere ganze Unterstützung. Gleichzeitig gibt es aber auch große Herausforderungen, die in den kommenden Monaten zu meistern sind und die wir nicht schönreden dürfen.
Der vorsorgende Sozialstaat bleibt aktuell
Denn mit der Erstunterbringung ist es bei Weitem nicht getan. Die Integration der Flüchtlinge mit Bleibeperspektive ist eine Herkulesaufgabe – für diejenigen, die zu uns kommen, noch mehr als für die deutsche Gesellschaft. Die Einwanderer brauchen Wohnungen, Sprachkurse, Kinderbetreuung, Bildung und Arbeit. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, dass nicht die Schwachen gegen die Schwächeren ausgespielt werden. Es geht um den sozialen Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft. Wir sollten deshalb nicht nur mehr bezahlbaren Wohnraum für Flüchtlinge schaffen, sondern für alle, die darauf angewiesen sind. Dasselbe gilt in der Bildungspolitik: Wir sollten nicht mehr Lehrerinnen und Lehrer für Flüchtlinge einstellen, sondern die Schulen für alle Kinder verbessern. Und wir dürfen nicht nur und besonders die jungen Flüchtlinge fördern, damit aus ihnen die Fachkräfte werden können, die wir so dringend brauchen. Zugleich müssen wir weiterhin in die Potenziale von benachteiligten Jugendlichen, Alleinerziehenden, Geringqua lifizierten und Langzeitarbeitslosen investieren.
Darüber hinaus sind drei Themenfelder für die Programmdebatte besonders wichtig: eine vorsorgende Sozialpolitik, die Sicherheit im Wandel schafft; eine Außen- und Sicherheitspolitik, die Deutschlands Verantwortung für den Frieden gerecht wird; und eine Stärkung unserer Demokratie, die mehr Beteiligung ermöglicht.
Das Netzwerk Berlin hat das Konzept des „vorsorgenden Sozialstaats“, das zu einem zentralen Baustein des Hamburger Programms von 2007 wurde, wesentlich entwickelt. Dieses Konzept kann – in weiterentwickelter Form – die zentrale Antwort auf die Herausforderungen durch Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 sein. Dies gilt auch im Kontext weiterer gesellschaftlicher Veränderungen wie des demografischen Wandels und der Zuwanderung. Dabei sollte die Teilhabe am Arbeitsleben und am sozialen wie kulturellen Leben im Mittelpunkt stehen.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben sich Beschäftigungsformen stärker ausdifferenziert, haben Selbständigkeit sowie der Wechsel zwischen abhängiger und selbständiger Tätigkeit zugenommen. Durch die Digitalisierung der Arbeitswelt könnte sich hier eine neue Dynamik ergeben. So dürfte das so genannte Crowdworking zunehmen.
Viele Menschen sehen die damit verbundene Flexibilität positiv – angesichts dessen müssen viele in der SPD umdenken. Gleichzeitig ist aber auch in veränderten Beschäftigungsverhältnissen soziale Absicherung und Sicherheit notwendig, sonst schlägt Flexibilität leicht in Unsicherheit oder gar Prekarisierung um. Auch haben die Beschäftigten einen zunehmenden Bedarf an Zeitsouveränität. Sie wollen Beruf und Privatleben besser miteinander vereinbaren und dabei vor allem mehr Zeit mit ihren Familien verbringen können. Dafür brauchen wir einen neuen Konsens über das Verhältnis von Flexibilität und Sicherheit. Flexibilität muss allen nutzen – den Unternehmen ebenso wie den Beschäftigten und den Selbständigen.
Kriege in unserer Nachbarschaft
Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, in welcher Form und wie viel sie arbeiten. Ziel sozialdemokratischer Politik muss es stattdessen sein, individuelle Lebensentwürfe zu ermöglichen. Dazu bedarf es einer entsprechenden sozialstaatlichen Flankierung. Wir werden daher eine Debatte darüber führen, wie wir die Systeme der sozialen Sicherung weiterentwickeln müssen, um die unterschiedlichen Lebens- und Erwerbsverläufe zu ermöglichen und besser abzusichern. Hierzu gehört auch die Frage, ob und wie wir Selbständige in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen sollten, um Altersarmut zu verhindern. Außerdem müssen wir in der Arbeitswelt immer wieder neue Chancen für die Einzelnen eröffnen, um am Arbeitsmarkt teilhaben zu können.
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind auch in der internationalen Politik die leitenden Prinzipien der Sozialdemokratie. Die anwachsenden Flüchtlingsströme nach Europa verlangen eine vorausschauende Außen- und Sicherheitspolitik, die umfassende und nachhaltige Lösungen verfolgt. Deutschland setzt prioritär auf Instrumente wie friedliche Diplomatie, Krisenprävention, Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe. Das Ziel ist: Sicherheit durch Stärke. Es geht um ein starkes Deutschland in einem starken Europa – und um ein Europa als Friedensmacht.
Die Kriege in unserer Nachbarschaft, die hohe Zahl von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten und bitterer Armut weltweit, der internationale Dschihadismus und Bedrohungen im Netz sind Herausforderungen, die eine starke sozialdemokratische Außenpolitik erfordern. Die Ukraine-Krise und der Aufstieg von Daesh (der selbsternannte „Islamische Staat“) im Irak und in Syrien erschüttern das Sicherheitsgefühl der Menschen auch in unserem Land. Die lange Zeit rein theoretische Frage nach der Landesverteidigung ist wieder konkret geworden.
Die Legitimation demokratischer Politik
Seit dem Zweiten Weltkrieg waren weltweit noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Klar ist: Wir müssen die Fluchtursachen und nicht die Flüchtlinge bekämpfen. Notwendig ist ein umfassender Ansatz, wobei auch militärische Mittel als Ultima Ratio nicht vorab ausgeschlossen werden dürfen. Wir müssen gleichzeitig Prävention, Intervention und „Postvention“ stärken. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssen die Frage beantworten, was wir bereit sind zu tun, um dieser Verantwortung gerecht zu werden und welche außenpolitischen Werte, Interessen und Ziele wir haben.
Immer weniger Menschen sind bereit, in politischen Parteien und Organisationen mitzuarbeiten. Die Beteiligung an Wahlen und politischen Prozessen nimmt kontinuierlich ab. Die Wählerschaft, auf die sich Politikerinnen und Politiker stützen, wird immer schmaler. Und immer mehr Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck, dass ihre Interessen in der Politik nicht berücksichtigt werden. Politik empfinden sie als etwas, das über ihre Köpfe hinweg geschieht. Die Folgen sind Rückzug und Verweigerung auf der einen sowie Empörung und Protest auf der anderen Seite. Konstruktive Kritik und tatkräftige Einmischung werden seltener.
Die deutsche Sozialdemokratie muss sich daher der Frage stellen, wie wir unsere demokratischen Instrumente und Institutionen ertüchtigen können, damit sie auch in Zukunft über eine solide und legitime Basis verfügen. Dies gilt über alle Ebenen unseres föderalen Staates hinweg und auch für die Europäische Union. Die zentrale Frage lautet dabei: Welche Entscheidungen können wir wieder näher an die Bürgerinnen und Bürger heranholen? Wir müssen darüber diskutieren, ob eine stabile Demokratie im 21. Jahrhundert neue Instrumente, Beteiligungsformen und Institutionen braucht, um attraktiv und lebensnah zu sein. Dafür bietet die Digitalisierung neue Möglichkeiten. Klar muss aber auch sein, dass politische Entscheidungen nicht auf der Grundlage von Facebook und Twitter getroffen werden können.
Neue Vorschläge auf den Tisch!
Wir wollen soziale Sicherheit garantieren, wirtschaftliche Stärke ermöglichen und jeden Einzelnen zu einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung ertüchtigen. Wir sind uns sicher, dass unsere Werte die richtige Basis sind, um Antworten auf die drängenden Zukunftsfragen zu finden. Dazu müssen wir ohne Scheuklappen miteinander diskutieren und die innerparteiliche Diskussionskultur weiterentwickeln. Die verschiedenen Flügel und Strömungen in der SPD können einen wertvollen Beitrag dazu leisten, indem sie die Lebensrealitäten und Sichtweisen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen einbringen. Nur so werden wir uns breit aufstellen und erfolgreich sein. Schädlich wäre es hingegen, wenn einzelne Strömungen einen Alleinvertretungsanspruch für sozialdemokratische Politik reklamieren.
Wir müssen die Wirklichkeit annehmen, ohne uns mit ihr abzufinden. Wir müssen neue Vorschläge auf den Tisch legen, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Dann wird die Sozialdemokratie auch wieder zur führenden politischen Kraft in Deutschland. Wir wollen regieren. Sollen andere abseits stehen und lamentieren. Die Debatte ist eröffnet.