Sie nähen Polen zusammen
"In Wiesbaden sind Sie aufgewachsen - Ja, kennen wir, dort waren wir auch schon. Dort habe ich im Casino gespielt." Wenn man Parteichef ist oder, seit 1995, sogar Staatspräsident, kommt man schon herum in der Welt. Was hatten wohl seine Eltern gedacht, worauf hatten sie gehofft für ihren Sohn, als der kleine Aleksander am 15. November 1954, gut ein Jahr nach Stalins Tod, im Städtchen Bialogard (Belgard) in Pommern das Licht der Welt erblickte? Aleksanders Mutter hatte es nach dem Krieg dorthin verschlagen; sie stammte aus Wilna, dem heute litauischen Vilnius. Von dort wurde ihre Familie wie viele andere 1945 nach Westen vertrieben. So kam sie nach Pommern, wo bereits die Vertreibung der Deutschen begonnen hatte. Aleksanders Vater kam aus dem zerstörten Warschau in diese Gegend.
Viel später, bereits als Staatsoberhaupt, ist Kwasniewski wieder in der Heimatstadt seiner Mutter gewesen. Sein litauischer Kollege Algirdas Brazauskas übergab ihm sowjetische Archivdokumente über die Vertreibung der Familie. "Fünf Namen, daneben eine Klammer und die russischen Worte odin tschemodan, ein Koffer", erzählt Kwasniewski. Und er ordnet diesen Koffer ein in den Kontext der polnischen Geschichte, in der Vertreibung ein vergleichsweise mildes Schicksal war. "Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Das war ein Koffer des Glücks. Wenn es anders gekommen wäre, wären sie dort geblieben, mit allen Konsequenzen." Dort, in der Sowjetunion, in noch größerer Armut und Unfreiheit als im kommunistischen Polen. Brazauskas zeigte ihm in Wilna auch das Haus seiner Mutter und fragte, ob er es zurück haben wolle. "Ich habe abgelehnt. Es ist geschehen, es ist abgeschlossen."
Architekt wollte er werden
Pommern, das grüne Land am Meer, war und ist eine arme, dünn besiedelte Provinz. Hier ging Aleksander zur Schule, war Vorsitzender der Schülerselbstverwaltung, machte 1973 das Abitur. Lange Jahre hatte die Familie, die er als sozial engagiert, aber unpolitisch beschreibt ("keiner Partei angehörend"), in dem Krankenhaus gewohnt, in dem sein Vater als Arzt tätig war. Die unangenehmen Gerüche und manches andere ließen in dem Schüler die Entschlossenheit reifen, auf keinen Fall in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Architekt wollte er werden, doch die zeichnerische Begabung ließ zu wünschen übrig. Augenärztin wurde seine Schwester, die heute in Bern arbeitet.
Aleksander wollte studieren und fuhr zum Studium des Außenhandels nach Danzig. Dort lernte er die Studentin Jolanta kennen, die er 1979 heiratete. Seit Beginn des Studiums engagierte sich Kwasniewski immer stärker im regimetreuen Sozialistischen Studentenverband, ein ziemlich sicherer Weg, um nach oben zu kommen. Er gehörte nicht zu denen, die schon damals, gerade in Danzig, auf umwälzende Veränderungen hinarbeiteten. Ende der siebziger Jahre, als Lech Walesa erstmals versuchte, eine freie Gewerkschaft zu gründen, fuhr Kwasniewski zu einem Praktikum in die mittelständische Firma Stocko nach Wuppertal.
Seine Aktivitäten hinderten ihn zwar daran, sein Magisterstudium abzuschließen, doch sie brachten ihn voran. Und sie brachten ihn nach Warschau, wo er zeitweise mit Frau und Töchterchen in einer Einzimmerwohnung hauste. 1984 wurde er Chefredakteur der offiziellen Jugendzeitung Sztandar mlodych ("Standarte der Jungen"). Auch gründete er mit Freunden den bajtek, die erste Computerzeitschrift Polens, die ihren Namen von der Verkleinerungsform für Byte erhielt. Eine unpolitische Angelegenheit? Immerhin: Es war die Zeit, da manche Polen dachten, die Hightech-Revolution werde den hoffnungslos rückständigen Kommunismus über kurz oder lang in sich zusammenstürzen lassen.
Am Ende mochten sie sich selbst nicht mehr
Noch glaubte zumindest Kwasniewski nicht an den Untergang des Systems. Der Jungpolitiker, der seit Studentenzeiten Ski fuhr und Tennis spielte, der später auch Vorsitzender des Polnischen Olympischen Komitees werden sollte, wurde 1985 in Warschau Jugendminister. Kein unbedeutendes Jahr: Zugleich kam in Moskau der bis dahin weitgehend unbekannte Michail Gorbatschow an die Macht.
Danach überstürzten sich die Ereignisse. Der "runde Tisch", die ersten halbfreien Wahlen, was für die Solidarnos′c′-Kräfte ein rauschender Sieg war, war für die Kommunisten bestenfalls ein geordneter Rückzug. Anfang 1990 dann der Auflösungsparteitag. Mieczyslaw Rakowski, der letzte Regierungschef, wie Gorbatschow ein Held des Rückzugs, gab in seiner Abschiedsrede die tiefe Depression seiner Genossen treffend wieder: "Wir mögen uns selbst nicht mehr."
Kwasniewski saß als Vertreter des alten Regimes am "runden Tisch", worauf er heute stolz ist. Und da ein junger Hoffnungsträger in hoffnungsloser Lage den Parteikarren aus dem Dreck ziehen musste, wählten die sich nunmehr als Sozialdemokraten bezeichnenden Genossen Kwasniewski zu ihrem Vorsitzenden. Es dauerte, was sie selbst nicht erwartet hatten, nur vier Jahre, da waren sie, von den Fehltritten ihrer organisatorisch unerfahrenen Gegner beflügelt, wieder an der Regierung. Diesmal jedoch demokratisch gewählt. Als 1995 Präsidentenwahlen anstanden, schickten sie keinen anderen als Kwasniewski ins Rennen. Noch einmal kämpfte ein Anti- gegen einen Postkommunisten: Der als Präsident etwas ungehobelt wirkende Amtsinhaber Lech Walesa stritt gegen den elf Jahre jüngeren, welt- und sprachgewandten, smarten Herausforderer. Ein äußerst knapper Sieg. Danach gab Kwasniewski sein Parteibuch zurück, um ganz "Präsident aller Polen" sein zu können.
Er ist es geworden. Ein Mann von der anderen Seite des "runden Tisches", Adam Michnik, mit dem den Präsidenten gegenseitiger Respekt verbindet, vielleicht sogar Freundschaft, sagte über ihn: "Kwasniewski näht Polen zusammen." In der Tat: Dieser populärste Politiker hat wie kein anderer im Land die Gräben der Vergangenheit zugeschüttet. Das kommt offenbar gut an; sonst würde er nicht in den Umfragen seit Jahren um die siebzig Prozent Zustimmung ernten. Dass Kwasniewski auch bei vielen einstigen Antikommunisten Respekt genießt, hat etwas mit dem Wörtchen przepraszam (Entschuldigung) zu tun. Oft hat er es ausgesprochen, nach Meinung mancher Kritiker sogar allzu oft. Er hat die Repressalien der Volksrepublik Polen gegen Andersdenkende bedauert und auch die Lügen über das Massaker an polnischen Offizieren in Katyn, das seine Genossen, um die Sowjets zu schonen, stets den Deutschen angelastet hatten. Für den Judenpogrom von Jedwabne (1941) und die "Aktion Weichsel", die Vertreibung der Ukrainer innerhalb Polens (1947), hat der Präsident viel beachtete Worte der Entschuldigung und des Bedauerns gefunden. Auch über die Vertreibung der Deutschen, die vor dem Deutschen Bundestag zuvor schon Außenminister Bartoszewski bedauert hatte, hat er laut nachgedacht und gefragt, ob Polen diesen Opfern nicht eine "Geste" schuldig sei. Dieses Wort verhallte ungehört.
In Erinnerung bleiben dagegen die Meilensteine, die in seiner Amtszeit gesetzt wurden. Das Land hat sich 1997 - spät, doch gut Ding will Weile haben - per Referendum eine neue Verfassung gegeben. Darin heißt es, dass der Präsident, eine stärkere Figur als die britische Queen oder der deutsche Bundespräsident, die Außenpolitik "mitgestaltet". Die Innenpolitik ohnehin: Immer wieder hat Kwasniewski durch sein Veto wichtige Gesetzentwürfe, selbst eine Steuerreform zu Fall gebracht. In solchen Fällen tritt das Staatsoberhaupt, das keinen Pressesprecher hat, selbst vor die Kameras und begründet seine Entscheidung. Die blauen Augen blitzen, oft von einem hellblauen Hemd oder einer blauen Krawatte unterstrichen. In solchen Momenten hat seine Stimme, die sonst gelegentlich in einen hellen, plaudernden Singsang verfällt, einen sonoren, beruhigenden Ton. Der Landesvater wird′s schon richten, denken dann die Bürger, er wird schon wissen, warum.
Mit diesem Mann ist gut Pizza essen
Als nächste Meilensteine sind die Beitritte zur Nato im Jahr 1999 und, planmäßig am 1. Mai 2004, zur EU zu sehen. Gewiss, Kwasniewski hat bei der Sisyphusarbeit, die Polen leistet, nicht den schwersten Part abbekommen. Er muss sich nicht Tag für Tag mit Brüsseler Unterhändlern und Warschauer Abgeordneten herumschlagen. Doch er hat sich im nervösen innerpolnischen Auf und Ab als ruhender Pol etabliert. Auch als Ansprechpartner für das Ausland: Mit seinen Partnern Bush, Putin und dem Ukrainer Kutschma telefoniert er fließend in ihrer jeweiligen Muttersprache. Deutsch kann er auch recht gut; vor allem kann er mit den Deutschen. "Kwasniewski, ach, das ist ein Mann, mit dem man gerne mal eine Pizza essen geht." (Gerhard Schröder). Kwasniewski, das ist der Politiker, den Johannes Paul II. bei seiner Abschiedsrunde auf dem Flughafen zu sich ins Papamobil holte.
So lebt er nun mit seiner Frau im goldenen Käfig, dem Präsidentenpalast. Dieses Bauwerk am belebten Warschauer Königsweg, zwischen dem Hotel Bristol und der frühklassizistischen Karmeliterkirche gelegen, zeichnet sich dadurch aus, dass es in jedem Stadtführer einen anderen Namen trägt. Koniecpolski-Radziwill-Palais heißt es in einem von ihnen, da es Mitte des 17. Jahrhunderts für den Heerführer Koniecpolski erbaut wurde. Palais Radziwill ist als Name gebräuchlicher, da es lange im Besitz dieser Familie war, eines der bedeutendsten Adelsgeschlechter. Als Namiestnikowski-(Statthalter-) Palast ist es ebenfalls bekannt: Zur Teilungszeit diente es als Sitz des russischen Statthalters, doch diesen Namen hört man heute nicht gern. Im Zweiten Weltkrieg war der zuletzt im Stil der Neorenaissance umgestaltete Bau nur wenig beschädigt worden. Er wurde Sitz des Ministerrats und immer wieder Schauplatz historischer Ereignisse. Im Säulensaal im ersten Stock wurde 1955 der Warschauer Pakt geschlossen, 1970 der deutsch-polnische Vertrag unterzeichnet, 1989 der "runde Tisch" aufgebaut, das größte, glücklicherweise zusammenklappbare Möbelstück der Republik.
Die einprägsamste Bezeichnung dieses Bauwerks lautet heute: Präsidentenpalast. Bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit, bis zum Herbst 2005 wird der Hausherr Aleksander Kwasniewski heißen. Bis dahin hat er Zeit, das rote und das weiße Polen zu einem einzigen Stück Tuch zusammenzunähen. Dann muss er laut Verfassung, ob das Volk es will oder nicht, ausscheiden. Was dann? "Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss", sagt Kwasniewski dazu. Ein internationales Amt könne er sich besser vorstellen als noch einmal Minister, selbst Premier zu werden. 2003 wurde er schon als neuer Nato-Generalsekretär gehandelt. Schröder und Blair, sagt er, hätten ihm zugeraten, doch mit Verweis auf seine laufende Amtszeit habe er abgelehnt. So dürfen wir weiter rätseln, was Aleksander Kwasniewski mit 51 Jahren machen wird, wenn er aus dem Palast ausziehen muss.
Die große Unbekannte heißt Jolanta
Doch halt! Eine große Unbekannte haben wir bei dieser Rechnung übersehen! Eine Person, die die Macht hätte, ihm ohne Verstoß gegen die Verfassung (Olek) für weitere zehn Jahre Wohnrecht im Palast zu verschaffen, vielleicht sogar in der informellen Rolle eines Statthalters, wenn sie selbst außer Haus sein sollte - Jolanta Kwasniewska! Noch ist sie nur pani prezydentowa, die Frau Präsidentengattin. Morgen könnte sie pani prezydent sein. Die elegante Jolanta ist in Mittel- und Osteuropa sicher die Erste, die die Anrede "First Lady" verdient hat. Sie hatte den Berufsweg von der Studentin, die sich ihren Lebensunterhalt durch Putzen verdiente, bis zur Immobilienmaklerin schon zurückgelegt, ehe ihr Mann Präsident wurde. Dann gab sie die Rolle der ersten Dame und zog ihre Landsleute nicht weniger in ihren Bann als ihr Ehemann. Gepflegt, gut gekleidet, im Rampenlicht der Weltpolitik, doch zugleich betont unpolitisch, Arm in Arm mit anderen First Ladys und doch eine von uns. Alles andere als ein Aschenputtel (gelegentlich wurde sie inkognito auf Shoppingtour mit Freunden in Berlin gesehen) - und doch zugleich die barmherzige Samariterin, die mit ihrer Stiftung Kindern aus armen Familien hilft, Krankenhäuser besucht und auf Straßenkundgebungen gegen den Brustkrebs kämpft. Das hat schon etwas Aristokratisches. Kein Wunder, dass Jolanta schon als Bürgermeisterkandidatin für Warschau im Gespräch war. Kein Wunder, dass sich Illustrierte mit Jolanta auf dem Titel am besten verkaufen.
Mit weitem Abstand vor dem Bauernführer
Das Magazin Polityka wollte es nun genau wissen und gab Ende 2003 eine Umfrage in Auftrag, wen die Polen als Nachfolger Kwasniewskis wählen würden. Ein Ergebnis wie ein Erdrutsch: 34 Prozent stimmten für pani prezydentowa (unter den Befragten mit klaren Parteipräferenzen sogar 44 Prozent). Danach kam lange, lange nichts. Es folgte mit acht Prozent der radikale Bauernführer Andrzej Lepper. Weit abgeschlagen die Politiker der regierenden Allianz der Demokratischen Linken. Was soll man dazu sagen? Jolanta hat die ganze politische Klasse deklassiert. Und was sagt ihr Ehemann dazu?
Vor allem ist der Präsident besorgt über die Politikverdrossenheit in Polen. Doch was die First Lady angeht: "Sie steht unter großem Druck zu kandidieren und hat Talent zur Politik. Meine Frau kann ich mir in jedem Amt vorstellen. Nur eines nicht: mich selbst in der Rolle der First Lady." Die Polityka nahm Herrn Kwasniewski diese Aufgabe ab und präsentierte ein Foto des Präsidentenpaares - er im Anzug, sie im kurzen Rock - mit vertauschten Köpfen.
Vor einer demokratischen Dynastie?
Sollte es also dazu kommen, hätte Polen eine demokratisch gewählte Dynastie. Das Wahlkönigtum ist ja schon immer eine polnische Besonderheit gewesen. Manch einer scherzt bereits, ob nicht das einzige Kind des Präsidentenpaares, Aleksandra Kwasniewska, Kosename Ola, eines Tages von ihrer Mutter die Amtsgeschäfte übernehmen könne. Nach sechs Jahren im Amt der prezydentówna, der Präsidententochter, hatte die Psychologiestudentin den ersten und bisher einzigen Schritt in die Weltöffentlichkeit getan: Nach mehreren Absagen nahm sie die Einladung zum jährlichen Pariser "Debütantenball" an. Begleitet von ihrer Mutter, zeigte sie im neben Barbara Berlusconi, dass Tanzen für sie kein Fremdwort ist. Doch Witz und Wehmut beiseite: Selbst wenn Jolanta Präsidentin werden sollte, würde die Dynastie bald wieder erlöschen. Denn Aleksandra Kwaszniewska ist Jahrgang 1981 und damit laut Verfassung etwas zu jung, um nach zwei Amtszeiten ihrer Mutter das Zepter übernehmen zu können. So wird wenigstens ihr der herrschaftliche Rummel erspart bleiben. Das dürfte ganz in ihrem Sinne sein und ganz nach bisherigem Brauch.
Von Gerhard Gnauck erscheint in diesen Tagen im Wiener Verlag Picus das Buch Syrena auf dem Königsweg: Warschauer Wandlungen, aus dem das hier abgedruckte Porträt stammt. 132 Seiten kosten 13,90 Euro