SPD reloaded
Das schlechte Bild der SPD resultiert auch aus der Verbindung zweier Stereotypen, die heute als eher unangenehm wahrgenommen werden und starke Ressentiments hervorrufen. Da ist zum einen der Traditionssozi mit der imaginären Ballonmütze, der die Belange der Arbeiterbewegung wahrnimmt. Ihn umgibt der berüchtigte Stallgeruch, den man verströmen sollte, wenn man in der SPD etwas werden möchte. Aufgrund seiner Verwurzelung in den klassischen Industrien hat der Traditionssozi einen leichten Ruch von Subventionsempfänger: Kohle und Stahl sind nicht mehr die Säulen der Wirtschaft, sondern bedürfen selbst immer mehr der Stützung.
Da ist zum anderen der Post-Achtundsechziger. Sein Bild changiert: Wer ihn nicht mag, meint, dass er einen ziemlich bürokratischen Muff verströmt. Trotz seiner Staatsferne hat er es sich in den Amtsstuben der Republik bequem gemacht und lebt dort sein BAT IIa-Dasein, das er mit einem leicht larmoyanten Postmaterialismus verbindet. Die S-Berufe gelten gemeinhin als typisch für diese Klientel: Studienräte, Sozialpädagogen, Sachbearbeiter. Im Gegensatz zum Traditionsarbeiter, dem man schlichte materielle Interessen unterstellt, führt der Post-Achtundsechziger immer noch heimliche Systemveränderungspläne im Schilde, deren Radikalität sich für konservative Gemüter in Projekten wie dem Dosenpfand oder schlimmer noch der Ausbildungsplatzabgabe äußert. Er ist es auch, der die Nähe zum grünen Koalitionspartner herstellt und das "rot-grüne Projekt" am Leben erhält. Und wie so oft: Was gestern noch dominierender Lebensstil, weit verbreitete Weltsicht war, wirkt heute - vielleicht gerade deswegen - umso antiquierter.
Wie eine ältere Frau mit mürrischer Miene
Obwohl es auf der Hand liegt, dass die Partei ebenso wie ihre etablierten Wettbewerber nicht auf der Basis so schlichter Weltbilder agieren, sind diese Stereotypen immer noch wirkungsmächtig. Manch grundsätzlich sinnvolle Reform stößt deshalb auf emotionale Widerstände, die in der Sache nicht begründet sind. In der Karikatur wird diese SPD gern weiblich dargestellt, was aber nicht sympathischer überkommt als der Ballonmützen- oder Sozialarbeiter-Sozi: Eine etwas ältere, dickliche Frau mit mürrischer Miene, anspruchsvoll, dominant, wenig beweglich. Und nicht gerade trendy.
Der Umstand, dass die SPD immer noch so perzipiert wird, liegt daran, dass sie die Kulturrevolution der letzten zwanzig Jahre wenn nicht ignoriert, so doch zumindest auf Randerscheinungen zu reduzieren versucht. Sie hat diese Veränderung gefühlsmäßig zu verdrängen versucht. Es ist aber ein Unterschied, ob man etwas erlebt oder nur versteht. Ein Spaziergang bei zehn Grad unter Null ist es etwas anderes als die Betrachtung der Wetterkarte.
Diese Kulturrevolution fußt auf derjenigen, die die heute viel gescholtenen Achtundsechziger ins Werk gesetzt haben - führt aber paradoxerweise teilweise in die Gegenrichtung. Die Individualisierung der Lebensläufe, die Distanzierung von bestimmenden Herkunftsmilieus, das Auftreten neuer Lebensweisen und gebrochener Biografien - diese Merkmale sind bereits tausendfach beschrieben worden. Die damit verbundenen Wertorientierungen widersprechen nicht direkt sozialdemokratischem Geist - eine enge Verbindung mit ihm sind sie aber auch nicht eingegangen. Denn die letzten zwei Jahrzehnte - wir feierten gerade den Geburtstag des Privatfernsehens - waren geprägt von einer Kommerzialisierung, die sich 1984 zum Start des Kabelpilotprojektes Ludwigshafen wohl keiner vorstellen konnte. Die Wärmehallen des öffentlichen Dienstes waren für die meisten damals bereits verschlossen. So entstand eine Generation, die erkennen musste: "Ohne Moos nix los." Im Vergleich mit früheren Generationen ergab sich daraus, dass die Fleischtöpfe, an denen man teilhaben konnte, nicht mehr beim Staat, sondern in der Privatwirtschaft zu finden waren. Logisch, dass unter diesen Umständen eine neue, dem Ökonomischen und dem Unternehmerischen gegenüber gelassen, wenn nicht positiv eingestellte Haltung entstehen musste.
Als Barbourjacken schicker wurden als Jusos
Gleichzeitig wurden viele gesellschaftliche Errungenschaften seit den achtziger Jahren sehr viel illusionsloser betrachtet. Aus Planungsoptimismus wurde dabei Bürokratie, aus den neuen Freiheiten wurden so zumindest teilweise Scheidungsraten und Patchworkfamilien, aus der Demokratisierung der Bildung wurde die unterfinanzierte Massenuniversität. Je größer die zeitliche und emotionale Distanz zu den reformfreudigen Siebzigern, desto geringer die Neigung, die Nebeneffekte schönzureden. Aus Gerechtigkeitsvisionen wurden unter der Hand Gerechtigkeitsillusionen. Dialektik der Abklärung war 1987 nicht zufällig die Zeitdiagnose des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie untertitelt. Irgendwann war es so weit, dass der Zeitgeist aus progressiver Sicht eine unheilbare Schrägneigung nach rechts bekam, als Jusos nicht mehr schick waren, dafür Barbourjacken und Junge Union. Einen fernen Abglanz dieser Jahre beschrieb Florian Illies in seinem Memoirenbändchen Generation Golf.
Die kulturelle Hegemonie bleibt möglich
Dass der SPD noch immer das Image wahlweise des Traditionssozis oder des Post-Achtundsechzigers anhaftet, liegt daran, dass sie diese Entwicklungen mental noch nicht verinnerlicht hat. Das ist schade, das ist sogar ein Fall von öffentlicher Verschwendung. Denn auch diese neuen Generationen, nennen wir sie, in Anlehnung an Zygmunt Baumanns Verwendung dieses Begriffs, "postmodern", haben viele Andockstellen für sozialdemokratische Anliegen.
Die bestehen dort, wo es um eine grundsätzliche Weltoffenheit geht, die Distanz zum Denken in den Kategorien von Nationalstaat und einer traditionellen, ausschließlich machtgestützten Außenpolitik. Sie bestehen dort, wo es um die Möglichkeit geht, postmaterielle Werthaltungen auszuleben. Ebenso in der Akzeptanz einer pluralistischen und faktisch schon jetzt multikulturellen Gesellschaft. Wenn von der kulturellen Hegemonie die Rede war, die der SPD den überraschenden Wahlsieg 2002 eingebracht hat, dann ist genau von diesen weiterhin mehrheitsfähigen Werten die Rede, die sich in der klaren Majorität gegen den Irak-Krieg ausdrückten. Klare sozialdemokratische Orientierungen wie das Nein zum Irak-Krieg, die Haltung zur Einwanderung oder die klarere Frontstellung gegen rechte Politikausläufer schaffen Identifikationspotenzial. Das scheint aber heute bei weitem nicht auszureichen, um Sympathien für die SPD als Partei zu generieren.
Gräbt man tiefer, dann stellt man fest, dass die postmodernen Einstellungen gerade bei denen weit verbreitet sind, die als Kinder von der Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahre stark profitiert haben. Sie haben sich aber von möglichen sozialdemokratischen Wurzeln weit entfernt. Die Ostpolitik der Regierung Brandt gehört zu den Beständen, die aus dem Geschichtsunterricht bekannt sind, nicht mehr aber aus dem eigenen Erleben. Ebenso fehlt den nachwachsenden Generationen die Erfahrung, zu den speziellen Gewinnern einer Reform zu gehören, wie sie die klassischen Arbeiter und die akademische SPD der Siebziger noch machten. Lebenswelten, Erfahrungen und Einstellungen haben sich deshalb von diesen alten konstituierenden Kulturen weit entfernt. Solange die SPD unterstellt, dass diese Traditionsbestände zur Allgemeinbildung gehören, solange wird sie keinen besseren Draht zu diesen neuen Wählerschichten herstellen können. Unnötig zu sagen, dass das weit verbreitete Wort vom Stallgeruch hier abschreckend wirkt wie eine Gesichtskontrolle vor dem Nachtclub: Wo ich fürchten muss, unerwünscht zu sein, halte ich von vornherein Distanz.
Was auch Jüngeren gefallen könnte
Das ist verständlich, aber schade. Denn was die jüngeren Wählerschichten bewegt, kommt sozialdemokratischer Politik durchaus nahe. Auch mit dem nüchternen, auf Effizienz gerichteten Blick der Jüngeren kann man ja interessante Ergebnisse finden:
So schneidet das klassische dreigliedrige Schulsystem Deutschlands unter Effizienzgesichtspunkten im internationalen Vergleich schlecht ab. Systeme, die nicht so früh so scharf differenzieren wie das deutsche erbringen bessere Ergebnisse. Das ist vielleicht kein Plädoyer für die Gesamtschule nach Siebziger-Jahre-Muster. Aber eine Bestätigung für deren Grundgedanken. Ein klarer Punkt für sozialdemokratische Politik.
So ergeben internationale Vergleiche auch, dass eine Politik, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördert, sich positiv auf die Geburtenrate, die Beschäftigungsquote, mithin wirtschaftliche Stärke und Dynamik auswirkt. Deutschland, mental oft noch tief in der Adenauer-Ära steckend, hat diesen Schritt noch nicht gemacht. Ein klarer Punkt für sozialdemokratische Politik.
So ist heute klar, dass die Bundesrepublik ihre multiethnische Herausforderung nur bestehen kann, wenn sie Realitäten akzeptiert, Integration fördert und das Potenzial der Zuwanderer hebt, statt durch Tatenlosigkeit soziale Brennpunkte wachsen zu lassen. Auch diesen Punkt hat die Politik mehrheitlich noch nicht erreicht. Noch ein klarer Punkt für sozialdemokratische Politik.
Mehr Gerechtigkeit durch mehr Effizienz
Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass wirtschaftliche Modernisierung und gesellschaftliche Modernisierung zusammengehören - eine Aufgabe, die konservative Politik bisher kaum gelöst hat. Vielmehr liegen jenseits der eng definierten Wirtschaftsthemen zahlreiche Politikfelder, in denen die SPD originär sozialdemokratische Politik betreiben und gleichzeitig moderne Effizienzziele anstreben kann. Vielleicht kommt man wirklich nicht um das Thema Elite herum; der Unterschied sollte sein, dass dieses Wort bei Sozialdemokraten nicht jenen charakteristischen Speichelfluss auslöst, der bei alten Konservativen sowie neuen "Leistungsträgern" und "Besserverdienern" dabei einsetzt. Die Wende zurück zu verstaubten Klassenkampf-Attitüden oder zu sozialarbeiterischer Larmoyanz sind nicht die einzigen Optionen der SPD. Sie hat vielmehr die Chance, zu zeigen, dass mehr Effizienz auf mittlere Sicht auch zu mehr Gerechtigkeit führen kann. Und dass umgekehrt ineffiziente Systeme niemals wirklich gerecht sein können.
Der alte Schichtensalat SPD könnte hier eine neue Lage, quasi eine neue geschmackliche Komponente bekommen. Wenn er die Kulturrevolution der vergangenen 20 Jahre zur Kenntnis nimmt und den Knall einer platzenden Illusion nicht jedes Mal gewohnheitsmäßig als Kanonenschuss des konservativen Rollback interpretiert. Muss die SPD deshalb jetzt erst einmal bei Trendguru Matthias Horx nachsitzen, um zu lernen, wie man den Stallgeruch gegen ein modernes Aftershave eintauscht? Wohl kaum. Ebenso wenig, wie sie Begriffen wie cool, trendy, hip oder hype hinterher jagen muss.
Eher geht es darum, dass der Gerechtigkeitsanspruch der SPD unter den jetzigen, schweren Bedingungen neu dekliniert werden muss. Dass die intellektuelle Freiheit, die die Linke auszeichnet, mit der ökonomischen Vorurteilslosigkeit verbunden wird, die man heute nicht gerade bei der SPD vermutet. Und vielleicht geht es auch darum, dass die Partei alte Irrtümer revidiert, die meist auch die Irrtümer der Republik waren etwa im Hinblick auf Wachstum, Generationenvertrag oder Verteilungsgerechtigkeit. Und dass sie dennoch beim Thema Gerechtigkeit dranbleibt. Mag sein, dass diese Ankunft in der Realität vielerorts schon stattgefunden hat. Der SPD insgesamt wird sie aber noch nicht geglaubt. Genau deshalb wirkt sie heute wie die verdrießliche Frau mittleren Alters, die sich die alten Zeiten zurück wünscht, als sie noch die schönste im ganzen Land war.