Sport, Ehre und Heldentod
Es ist eine gute Tradition des deutschen Sports, am Volkstrauertag der ermordeten und im Krieg getöteten Olympiateilnehmer zu gedenken. Dabei "trauert" das "Volk" am Volkstrauertag schon lange nicht mehr. Trotzdem ist es wichtig, sich zu erinnern, wachzurütteln, die Erinnerung an Geschehenes erfahrbar zu machen. Das muß weit über diejenigen hinausgehen, die sich heute versammeln, meist an Orten, die zur Erinnerung geschaffen worden sind. Dort können wir, ebenso wie auf anderen Kriegsgräberstätten Europas, lesen: "Die Toten mahnen die Lebenden".
Lassen Sie uns den Volkstrauertag zum Sprachrohr für den Frieden machen!
Dafür ist es wichtig, dass wir Orten wie auch Symbolen neuen Sinn geben, wie zum Beispiel der Olympiaglocke. Diese Olympiaglocke ist heute dem "Gedenken an die Olympiakämpfer der Welt" gewidmet, "die durch Krieg und Gewalt ihr Leben verloren haben": eine wichtige Umwidmung, wenn wir uns erinnern, dass die Glocke 1936 die Sportler der Welt zu Olympischen Spielen des Friedens und der Ehre begrüßte.
"Ehre sei dem Völkerfeste, Friede soll der Kampfspruch sein" hieß es im ersten Entwurf der Olympiahymne, die den Sport als friedlichen Kampf ehren sollte. Schon die vom Propagandaministerium veranlaßte Umstellung in der Endfassung der Hymne, "Friede sei dem Völkerfeste, Ehre soll der Kampfspruch sein" rührte dann an die Substanz der olympischen Idee. Mit dem Losungswort Ehre wurde ein Kardinalwert der NS-Weltanschauung in den Vordergrund gerückt, was von vielen Zeitgenossen sicherlich unbemerkt blieb. Hierin steckte bereits der Mißbrauch des völkerverbindenden Sports für eine menschenverachtende Ideologie.
Letztlich hat keine Generation von Olympiateilnehmern Krieg, Gewalt und rassistischer Verfolgung einen höheren Tribut zollen müssen, als die der Sportlerinnen und Sportler der Olympischen Spiele von 1936.
Getötet, ermordet, verhungert. Eine fürchterliche Bilanz! Von den 22 Teilnehmern des Handballendspiels 1936 zwischen Deutschland und Österreich kehrten 13 nicht aus dem Krieg zurück. Allein von den Teilnehmern der polnischen Olympiamannschaft von 1936 verloren 21 ihr Leben im Krieg, im Widerstand, im Konzentrationslager.
Wir erinnern und gedenken der Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Rassenwahn.
Stellvertretend nenne ich: Alfred Flatow, dreifacher Goldmedaillengewinner im Turnen in Athen 1896, Jude, 1933 zum Austritt aus der Deutschen Turnerschaft genötigt, im Dezember 1942 im KZ Theresienstadt 72-jährig verhungert.
Gustav-Felix Flatow, sein Vetter, zweifacher Goldmedaillengewinner im Turnen 1896 in Athen, Jude, nach Holland geflüchtet, 1943 verhaftet, deportiert, knapp 70-jährig im Januar 1945 im KZ Theresienstadt verhungert.
Rudi Cranz, einer der erfolgreichsten deutschen Skiläufer, 1936 in Garmisch-Partenkirchen Olympia-Sechster in der erstmals ausgetragenen Alpinen Kombination, stirbt 29-jährig als Gebirgsjäger am 22.6.1941 beim Angriff auf die Sowjetunion.
Lutz Long, promovierter Jurist aus Leipzig, Weitspringer, wurde Silbermedaillengewinner 1936 in Berlin mit 7,87m hinter Jesse Owens, wird in Sizilien schwer verwundet und stirbt 30-jährig 1943 in einem britischen Lazarett.
Werner Seelenbinder, einer der erfolgreichsten deutschen Ringer, Olympia-Vierter 1936 in Berlin, wird Widerstandskämpfer, verhaftet, 40-jährig im Oktober 1944 in Brandenburg durch das Fallbeil hingerichtet.
Rudolf Harbig, einer der größten deutschen Mittelstreckler, 5-facher Weltrekordler und Europameister über 800 m, Bronzemedaillengewinner 1936 in Berlin in der 4x400m Staffel; als Feldwebel der Luftwaffe 31-jährig seit März 1944 in Novo Archangelsk vermisst.
Diese kleine Auswahl von Namen und Schicksalen ließe sich - leider - beliebig erweitern um polnische, finnische und andere ausländische sowie jüdische Olympiateilnehmer von 1936, die in Auschwitz oder an den vielen Fronten des Krieges den Tod fanden.
Die Geschichte lehrt uns und mahnt zugleich, dass oft leichtfertig und ohne viel Nachdenken Begriffe benutzt werden, die zu fürchterlichen Mißdeutungen führen können und als Legitimation für verbrecherisches Handeln dienen. Aus aktuellem Anlaß hat Bundespräsident Johannes Rau diese Problematik treffend mit dem Hinweis charakterisiert: "Unworten können Untaten folgen."
Dabei ist es letztlich egal, ob eine bestimmte Wirkung von Worten gewollt war oder nichtgewollt Mißbrauch zugelassen hat. Ich brauche Carl Diem, dem Chef des Olympischen Organisationskomitees von 1936, keine böse Absicht zu unterstellen, wenn er die Kernsentenz des Olympischen Festspiels "Allen Spiels heil′ger Sinn/Vaterlandes Hochgewinn/Vaterlandes höchst Gebot/in der Not Opfertod!" mit dem persönlichen Herbeischaffen von Erde aus Langemarck verquickte. Es geht hier nicht um die historische Aufarbeitung der Rolle Carl Diems; aber in den Gräbern von Langemarck lagen seine gefallenen Sport- und Kriegskameraden, die, wie wir längst wissen, sinnlos in den Tod geschickt worden waren. Der um Langemarck entfachte Mythos verdeckte in Wahrheit eine militärische Katastrophe, die im Ersten Weltkrieg Tausenden unzureichend ausgebildeten jungen Soldaten das Leben kostete. Schlecht bewaffnet mußten sie im flandrischen Langemarck gegen Artillerie- und Maschinengewehrstellungen anrennen.
Der Langemarck-Mythos wurde gepflegt, um der Jugend Opfersinn zu vermitteln: "Vaterlandes höchst Gebot/in der Not Opfertod". Dass diese Propagandalüge ihren steinernen Ausdruck ausgerechnet in einem Olympiastadion gefunden hat, muss Anstoß zu Erinnerung sein, zur Erinnerung daran, dass parallel zu den Olympischen Spielen von 1936, die in vorbildlich sportlicher Atmosphäre stattfanden, bereits der Krieg vorbereitet wurde, dem dann so viele Olympioniken zum Opfer fielen.
Sport und Olympische Spiele dürfen nie wieder zur Propagierung von Opfergängen und sinnloser Heldenverehrung mißbraucht werden, wie es 1936 durch die Organisatoren geschah.
Unser Gedenken an die Sportler, die Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Rassenwahn wurden, macht es uns zur Pflicht, die Friedens- und die Toleranzidee des Sports, die Idee des Respekts vor dem sportlichen Gegner, zu schützen. "Kein Sportler darf wegen seiner Hautfarbe, seiner Konfession oder Staatsangehörigkeit diskriminiert werden". So steht es in der Olympischen Charta. So hat es auch für den sportlichen Alltag zu gelten!
Ein in diesem Sinn betriebener Sport hat großen kulturellen Wert: Er vermag durch seine Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten, die nicht nur auf Sprache angewiesen sind, Isolation und Fremdheit zu überwinden. Vor dem Hintergrund aktueller Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz sind diese unbestrittenen Leistungen des Sports mehr denn je gefragt. Lassen Sie uns den Internationalismus des Sports hoch halten und pflegen, dagegen den Sportnationalismus bekämpfen. Ich beende meine Ansprache mit einem Zitat Pierre de Coubertins aus seiner Rundfunkrede im Jahre 1935: "Von den Völkern verlangen, sich gegenseitig zu lieben, ist eine Art Kinderei; sie aufzufordern, sich zu achten, ist keine Utopie; aber um sich zu achten, muß man sich zunächst kennen!"