Trump und die transatlantische Revolution
Vergesst den „amerikanischen Exzeptionalismus“! Die Wahl Donald Trumps sowie andere herausragende Entwicklungen in der Politik der Vereinigten Staaten sind ganz einfach amerikanische Ausprägungen von Prozessen, die sich in den liberalen Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks vollziehen. Der politische Großtrend ist bekannt. In einem westlichen Land nach dem anderen erleben wir, wie die neoliberale Mitte der neunziger und nuller Jahre zusammenbricht und an ihrer Stelle radikale Außenseiterbewegungen vor allem nationalpopulistischer Prägung am Horizont aufsteigen.
Die sterbenden Parteien der Mitte machen für ihre Misere das vermeintliche Wiederaufleben eines Faschismus nach dem Vorbild der dreißiger Jahre verantwortlich. Extremere Verschwörungstheoretiker dieser Mitte vermuten hinter dem Aufruhr im euro-amerikanischen Westen vor allem Moskauer Machenschaften. So wird behauptet, Donald Trump, Nigel Farage, Marine Le Pen und andere populistische Politiker seien – bewusste oder naive – Einflussagenten Russlands. Aber Waldimir Putins postsowjetisches Russland ist in Wirklichkeit schwach und verarmt. Der heutige „McCarthyismus der Mitte“ ist deshalb ebenso lächerlich wie der McCarthyismus der amerikanischen Rechten in den fünfziger Jahren, ungeachtet der tatsächlichen russischen Spionage und Propaganda in beiden Epochen.
Wo tektonische Kräfte am Werk sind
Ebenso wie geologische Erdbeben lassen sich politische Erdbeben nur anhand von tiefen tektonischen Kräften erklären. Nationalpopulistische Parteien profitieren von der Rebellion der Wähler überall im Westen – sie sind aber nicht deren Ursache. Diese Ursache muss zum einen darin gesucht werden, dass der Sozialvertrag aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts innerhalb der westlichen Nationalstaaten erodiert ist; zum anderen darin, dass sich zugleich die Pax Americana aufgelöst hat, welche die Außenbeziehungen dieser Staaten ordnete und garantierte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg genossen die Vereinigten Staaten und ihre westeuropäischen Verbündeten ein Goldenes Zeitalter des Wachstums und des gesellschaftlich breit geteilten Wohlstands. Innerhalb jedes Landes stellten von der Regierung vermittelte „korporatistische“ Vereinbarungen zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften sicher, dass die Arbeitnehmer an den Unternehmensgewinnen beteiligt wurden. Gleichzeitig sorgten die Vereinigten Staaten für militärische Sicherheit. Ihre Verbündeten und Protektorate brauchten wenig eigene Sicherheitsanstrengungen zu unternehmen und konnten ihre Ressourcen darauf konzentrieren, ihr Wirtschaftswachstum sowie ihre großzügigen Wohlfahrtsstaaten zu entwickeln.
Offshoring und Einwanderung
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist diese Architektur zerbröselt. Die erfolgreichsten nationalen Konzerne haben sich zu erfolgreichen globalen Konzernen entwickelt. Die neuen globalen Oligopole haben die alte Übereinkunft mit den eigenen Beschäftigten in ihren Heimatländern einseitig und brutal aufgekündigt. Das Offshoring von Industrien und die Masseneinwanderung haben Arbeitnehmer in den westlichen Ländern gezwungen, mit Niedriglohn-Arbeitern im Ausland oder mit Einwanderern im Inland zu konkurrieren. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften ist weggebrochen.
Während sich das Machtgleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit in Richtung Kapital verschoben hat, untergräbt zugleich der Aufstieg neuer Großmächte – allen voran der von China – die von den Vereinigten Staaten angeführte globale Ordnung. Nach dem Ende des Kalten Krieges unterstützten sowohl Republikaner wie George W. Bush als auch Demokraten wie Barack Obama das amerikanische Elite-Projekt, die vorübergehende Hegemonie Amerikas im Allianzsystem der Blockkonfrontation in eine permanente US-Militärhegemonie über die „unipolare Welt“ zu verwandeln. Aber dieser Griff der Vereinigten Staaten nach der globalen Vorherrschaft ist gescheitert. China und Russland sind entschlossen, sich in ihren jeweiligen Regionen der militärischen Hegemonie Amerikas zu widersetzen. Gleichzeitig sind die amerikanischen Wähler nicht mehr bereit, den Preis für gescheiterte Kriege im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien und im Jemen mit Geld, mit Menschenleben und mit den verkrüppelten Körpern amerikanischer Soldaten zu bezahlen.
Der intellektuelle Bankrott der diskreditierten neoliberalen Mitte mit ihren falschen Globalisierungsversprechen und ihrer Unterstützung für das gescheiterte Projekt amerikanischer Weltherrschaft hat auf beiden Seiten des Atlantiks ein Vakuum hinterlassen, das nun von außenpolitischen Außenseitern besetzt wird. Einige von ihnen wie Bernie Sanders entstammen der sozialistischen Linken. Andere wie Donald Trump sind Nationalpopulisten, die dazu neigen, Forderungen nach Einwanderungsbeschränkungen, Wirtschaftsnationalismus und großzügigen Wohlfahrtsstaaten für die einheimischen Bürger miteinander zu verbinden. Statt ehrlich zu analysieren, warum der Neoliberalismus versagt hat und weshalb das Projekt der amerikanischen Hegemonie neue Kalte Kriege mit China und Russland hervorgebracht hat, ziehen es die Politiker und Denker der todgeweihten Mitte vor, die Aufständischen von links und rechts als irrationale Eiferer oder gefährliche Faschisten zu denunzieren.
Irgendwann – vielleicht nach Jahren oder Jahrzehnten der politischen Unruhe – wird sich innerhalb der atlantischen Demokratien und zwischen ihnen ein neues System entwickeln. Innerhalb der westlichen Staaten wird es wahrscheinlich zu einer Wiederbelebung der nationalstaatlichen Gesetzgebungssouveränität sowie zur Begrenzung der hohen Einwanderung kommen, die auf beiden Seiten des Atlantiks öffentlichen Widerstand ausgelöst hat. In manchen Ländern werden diese Reformen womöglich von einer post-neoliberalen linken Mitte statt von Nationalpopulisten oder Konservativen in die Tat umgesetzt.
Die Verantwortung der Unternehmen
Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa werden die Beziehungen zwischen Unternehmen, Nationalstaat und einheimischen Arbeitskräften neu überdacht. Dafür bestehen drei wesentliche Optionen, die sich als Neoliberalismus 2.0, als Neokorporatismus und als Neodevelopmentalismus beschreiben lassen.
Der Neoliberalismus 2.0 würde den geringsten Wandel gegenüber der Politik der vergangenen drei Jahrzehnte bedeuten. Die westlichen Regierungen würden weiterhin eine liberale Handels- und Finanzpolitik betreiben. Aber sie könnten zugleich versuchen, mehr zu tun, um einheimische Arbeitnehmer vor allzu großer Ungleichheit zu beschützen, indem sie den Wettbewerb durch Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt begrenzen sowie verstärkt auf sozialstaatliche Umverteilung setzen.
Neokorporatismus hingegen wäre der Versuch, so etwas wie die Sozialpartnerschaft zwischen Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften aus der Mitte des 20. Jahrhunderts neu zu erschaffen. Dazu müssten Unternehmen davon überzeugt oder dazu gezwungen werden, sich selbst als „nationale Champions“ mit sozialer Verantwortung für ihre jeweiligen einheimischen Arbeitnehmer wahrzunehmen und nicht als wirklich globale Unternehmen. Der Druck, den Donald Trump auf US-basierte multinationale Unternehmen ausübt, Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten zu erhalten oder auszubauen, deutet darauf hin, dass ihm eben dieses Modell vorschwebt.
Eine dritte Option wäre der Neodevelopmentalismus. Hierbei wären die Entwicklungsstaaten Ostasiens das Vorbild. Ihnen ist es gelungen, den Zugang von Unternehmen zu ihren Arbeitskräften und Konsumenten davon abhängig zu machen, ob diese Unternehmen Arbeitsplätze schaffen, Technologie ins Land transferieren, Investitionen tätigen oder andere Ziele durchzusetzen helfen, die dem jeweiligen Staat wichtig sind. Wie der amerikanische Ökonom Robert D. Atkinson gezeigt hat, ist diese Art der Entwicklungsstrategie auch auf der Ebene einzelner Teilstaaten innerhalb der USA wie etwa in Kalifornien, Texas oder New York üblich.
Hysterische Ängste sind unbegründet
Auch auf der Ebene der Weltpolitik bestehen nach dem Ende der globalen Hegemonie Amerikas nur wenige realistische Optionen. Weil Europa höchstwahrscheinlich niemals als außenpolitische Einheit funktionieren wird, dürfte die Weltordnung des 21. Jahrhunderts von wenigen immensen Kontinentalmächten außerhalb Europas geprägt werden. Diese Welt könnte bipolar (USA und China) oder mit der Zeit vielleicht auch tripolar (USA, China und Indien) organisiert sein, wobei zugleich geringere Mächte wie Russland, die Türkei oder der Iran in ihren jeweiligen Einflusszonen größere Handlungsfreiheit genießen würden.
Alle diese nationalen und internationalen Szenarien werfen Gefahren auf. Aber die hysterischen Ängste, die heute die sterbende liberale Mitte des Westens heimsuchen, sind unbegründet. Nationalpopulisten wie Trump mögen an die Macht kommen, aber die westliche politische Kultur sowie verfassungsmäßige checks and balances werden dafür sorgen, dass weder in den Vereinigten Staaten noch in einer anderen großen Demokratie wirklicher Faschismus entstehen kann. Und auch wenn sich die Supermächte des 21. Jahrhunderts im Wettrüsten und in Stellvertreterkriegen ergehen mögen, bleiben direkte Konfrontationen zwischen Großmächten weiterhin unwahrscheinlich.
Die sozialen und geopolitischen Herausforderungen, vor denen die westliche Welt heute steht, sind groß genug. Ihnen noch zusätzliche ausgedachte oder eingebildete Bedrohungen hinzuzufügen, ist wenig sinnvoll. Erforderlich sind eine langfristige Vision und klares Denken – beides ist bedauerlicherweise auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans gegenwärtig nicht gerade verbreitet.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr