Unsere Verfassung braucht keinen "Rat der Weisen"
Aber der Reihe nach: Heiko Holstes Feststellung, dass die Verfassung in den Jahren der Großen Koalition häufig geändert wurde, trifft zu. Seit Beginn dieser Legislaturperiode wurden auf Vorschlag der Föderalismuskommission I von 146 Artikeln der Verfassung 19 geändert, 4 neu hinzugefügt und 2 gestrichen. Mit den Ergebnissen der Föderalismuskommission II, die derzeit im parlamentarischen Verfahren beraten werden, stehen weitere Änderungen an. Formal stellen sie die größte Verfassungsreform seit Bestehen des Grundgesetzes dar.
Worum geht es bei den Änderungen? Auch wenn es in Zeiten der Großen Koalition aus dem politischen Gedächtnis etwas schwindet, weil die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat so groß sind: Die Föderalismuskommissionen wurden eingerichtet, weil die politischen "Spielregeln" zwischen Bundestag und Bundesrat von allen Seiten als lähmend empfunden wurden und die Zeiten einer Blockadepolitik des Bundesrats beendet werden sollten. Es wurden also keine politischen Ergebnisse in die Verfassung geschrieben, wie der Autor postuliert, sondern lediglich die Regeln neu justiert, nach denen politische Ergebnisse bestimmt werden.
Ob es richtig war, die bildungspolitischen Kompetenzen vollständig in die Hände der Länder zu geben, wie der Autor beklagt, ist eine Frage der politischen Bewertung, aber kein Beweis dafür, dass die Verfassung zu häufig geändert wurde oder mit politischen Ergebnissen überlastet werde. Eine Verfassung muss offen sein für Veränderungen. Sie zu konservieren, so wie es Heiko Holste vorschlägt, widerstrebt ihrem Naturell. Eine Verfassung will gar nicht, wie Konrad Hesse es ausdrückt, "von vornherein ... den Anspruch der Lückenlosigkeit oder gar systematischen Geschlossenheit" erheben, denn sie muss "unvollkommen und unvollständig bleiben, weil das Leben, das sie ordnen will, geschichtliches Leben ist und darum geschichtlichen Veränderungen unterliegt".
Zweifelhaftes Verfassungsverständnis
Als nächstes knöpft sich Heiko Holste die Parlamente und Parlamentarier vor, die für die Aufnahme von Staatszielbestimmungen plädieren. Die Verfassung solle sich darauf konzentrieren, politische Spielregeln zu formulieren; nur dann sei die Verfassung für alle verständlich und könne so etwas wie Verfassungspatriotismus entfachen. Ob tatsächlich patriotische Gefühle entstehen, wenn in der Verfassung zu lesen ist, nach welchem Verfahren der Vermittlungsausschuss anzurufen ist, darf wohl bezweifelt werden.
Ebenso zweifelhaft ist Holstes Verfassungsverständnis. Natürlich ist die Verfassung die "Ordnung des Politischen", wie Ulrich K. Preuß es ausdrückt. Allerdings besteht diese Ordnung doch nicht nur aus formalen Regeln. Die Verfassung auf ein technisches Regelwerk zum politischen System zu degradieren, negiert die gesamte Verfassungsgeschichte seit der französischen Revolution. Die Verfassung ist das Gründungsdokument eines politischen Gemeinwesens. Sie beschreibt, auf welcher Grundlage sich Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammenschließen wollen. Menschen schließen sich aber nicht nur wegen gemeinsamer Spielregeln zusammen, sondern auch auf Grund gemeinsamer Wert- und Zielvorstellungen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit lautet die Parole, die schließlich in der französischen Verfassung ihren Ausdruck fand. Und der "pursuit of happiness" in der amerikanischen Verfassung ist kein technisches Verfahren, sondern Ausdruck eines Lebensgefühls. Nicht nur in der Präambel, sondern auch in den Grundrechten und Staatszielbestimmungen bringt die Verfassung den politischen Konsens zum Ausdruck, und gerade deshalb gibt es Verfassungspatrioten.
Staatszielbestimmungen müssen sein
Staatszielbestimmungen sind Teil aller modernen Verfassungen und auch dem deutschen Grundgesetz alles andere als fremd. Eine wurde sogar schon wieder aus dem Grundgesetz entfernt, weil sie sich vor genau 20 Jahren erfüllt hat: die deutsche Wiedervereinigung. Der Vorwurf, Staatszielbefürworter seien bloße Lobbyisten von Partikularinteressen, lässt sich leicht mit den vorgeschlagenen Staatszielen entkräften: Kultur, Kinderrechte oder Generationengerechtigkeit sind doch keine politischen Themen, die nur eine Minderheit betreffen!
Die Skepsis gegenüber Staatszielbestimmungen ist nicht inhaltlich, sondern historisch begründet. Der Parlamentarische Rat wollte sich von der Verfassung von Weimar und ihren so genannten Programmsätzen distanzieren, von jenen Passagen also, die Normen gewähren, deren Verletzung gerichtlich nicht feststellbar ist. Dass die Weimarer Verfassung nicht an den Programmsätzen scheiterte, ist historisch gesehen mittlerweile unstrittig. Unstrittig ist auch, dass Staatszielbestimmungen verbindlich sind und damit keine Programmsätze darstellen. Dennoch halten sich die Vorbehalte dagegen in der konservativen Jurisprudenz bis heute. Dabei haben sich die Zeiten geändert. Es ist wichtig, gewisse Staatszielbestimmungen endlich in das Grundgesetz aufzunehmen, damit sich die gesellschaftliche Relevanz der jeweiligen Themen in der Verfassung widerspiegelt. Nur so bleibt diese auf der Höhe der Zeit und behält damit ihre Legitimität.
Demokratietheoretisch höchst fragwürdig ist Heiko Holstes letzter Kritikpunkt. Er möchte dem Bundestag und dem Bundesrat die Kompetenz entziehen, über Verfassungsänderungen zu entscheiden. Stattdessen soll ein Rat der Weisen aus Juristen und Elder Statesmen über die Verfassung bestimmen. Bei allem Verständnis für fachlichen Sachverstand " dieser Vorschlag ist grotesk. In einer Demokratie entscheidet das Volk beziehungsweise dessen gewählte Repräsentanten über die Verfassung, keine Verfassungsaristokraten. Dass das Parlament mit seiner Kompetenz in der Regel verantwortungsvoll umgegangen ist, hat zu der 60-jährigen Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes maßgeblich beigetragen. In diesem Sinne habe ich nur einen Geburtstagswunsch für das Grundgesetz: eine starke Demokratie!