Unter geschlossenen Dächern

Erfahrungen deutscher und niederländischer Sozialdemokratie

"Parteien sind die krisenanfälligsten Organisationen überhaupt. An der Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft balancieren sie ständig zwischen Verstaatlichung oder Vergesellschaftlichung. Sie müssen den Spagat aushalten und deshalb sind sie immer im Fokus der öffentlichen Meinung"
Ulrich von Alemann, Christoph Strünck, Ulrich Wehrhöfer


Als wir im letzten Jahr unsere deutschen Verwandten an der Mosel besuchten, beschlossen wir, auch nach Koblenz zu fahren. Wir wollten uns die Altstadt ansehen, das Museum und natürlich den Ort, wo die Mosel in den Rhein mündet: das Deutsche Eck mit dem monumentalen Standbild von Wilhelm I. Auf der Suche nach einem Ort, an dem wir zu Mittag essen konnten, näherten wir uns einem kleinen Park, in dem ein großes Fest im Gange war. Eine Hochzeit? Ein Jahrmarkt? Wir wussten es nicht. Bis uns klar wurde, dass natürlich der 1. Mai war.

Wir hatten uns auf die Maifeier der Sozialdemokraten in Koblenz verirrt. Überall waren Stände von allerlei Klubs aus Gewerkschaft und Partei aufgebaut. Ein kleines Orchester spielte, es wurde gegessen und getrunken: Es war ein echtes Familienfest - ein Fest der roten Familie.


Der 1. Mai wurde gefeiert, nicht viel weiter als ein paar Stunden Fahrt von der niederländischen Grenze entfernt, aber auf eine Art, die bei uns in den Niederlanden völlig undenkbar wäre. Viel mehr als ein paar Reden von Sozialdemokraten hier und dort im Land - und dann meistens in einem Altenheim - stellt unsere Maifeier nicht mehr dar. Uns wurde klar, wie groß die kulturellen Unterschiede zwischen der deutschen und der niederländischen Sozialdemokratie sind - trotz großer Ähnlichkeiten in der politisch-programmatischen Orientierung.


Die Kulturunterschiede beziehen sich auf verschiedene Aspekte: auf die interne Organisation und die Umgangsformen; auf die gesellschaftliche Position und Bedeutung der Parteien und auf deren jeweilige soziologische Basis. Stellt man die SPD aus dem Koblenz vom 1. Mai und die niederländische Partij van de Arbeid (PvdA) als Idealtypen einander gegenüber, dann ist die SPD noch eine Partei mit bindender Kraft und sozialer Bedeutung für ihre Mitglieder; dann hat sie noch Wurzeln in ihrer klassischen Wählerschaft und vertritt diese Wählerschaft noch in der politischen Arena. Die PvdA hingegen ist bereits eine auf ein Minimum reduzierte Partei geworden, mit nicht mehr als 60.000 Mitgliedern, einer außerordentlich schwachen Infrastruktur - vor allem auf lokalem und regionalem Niveau - und nur noch wenig Kontakt zu den wichtigen Teilen der Wählerschaft, die die Franzosen so schön als die classes populaires bezeichnen.


Pim Fortuyn und seiner Partei ist es gelungen, einen wichtigen Teil dieser Wählerschaft zu mobilisieren. Dagegen scheint die sozialdemokratische Partij van de Arbeid im Zuge der gewachsenen Professionalisierung der Politik immer mehr eine Partei von politischen Eliten aus dem Mittelstand geworden zu sein, die sich nicht so gut mit den Ärgernissen und Wünschen der alten und neuen Arbeiterklasse - um es einfach auszudrücken - auseinandersetzen können. Die Parteiorganisation ist mehr zu einem Wählerverein geworden, der sich vor allem auf Wahlkampagnen und die Auswahl von politischen Vertretern verlegt hat. Ihre gesellschaftliche Verankerung hat sie größtenteils preisgegeben.


Wenn dieses vergleichende Bild in etwa stimmt - entspricht dann der Zustand, in dem sich die PvdA befindet, in etwa einer vorweggenommenen Zukunftsposition, in der sich in Kürze auch die anderen sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa befinden werden? Wenn ja, ist das schlimm? Oder müssen wir mit Kraft, Kreativität und Einsicht ein anderes Zukunftsbild anstreben, in dem Parteien weiterhin (oder aufs Neue) breite gesellschaftliche Verankerung, programmatische Diskussionskultur und demokratische Verantwortung kennen? Kann womöglich nur diese Art von Parteien eine ausreichende Basis für eine repräsentative Demokratie bieten? Oder gerät gerade diese Art von Demokratie allmählich außer Sichtweite - und damit die klassischen Parteien, welche die Masse der Wählerschaft politisch integrierten?


Die niederländischen Sozialdemokrate haben unter Führung des charismatischen Wouter Bos im Januar 2003 einen großen Wahlerfolg erzielt. Wie auch die französischen Sozialdemokraten erlitten sie jedoch in den Jahren zuvor katastrophale Wahlniederlagen. Soweit dafür ein gemeinsamer Nenner zu finden ist, liegt das höchstwahrscheinlich am technokratischen politischen Stil und dem verlorenen Kontakt mit der klassischen Anhängerschaft. François Hollande, Leiter der französischen Sozialisten, nannte seinen verwaisten Parteigenossen den deutschen Erfolg als Vorbild: die SPD als stabile Volkspartei mit starker Bindung zur Arbeiterschaft. Das hätte er auch gern. Aber liegt dort wirklich der Schlüssel zum Erfolg?


Der Positionsunterschied zwischen SPD und PvdA kann als eine Frage der politischen Kultur und der Anhängerschaft gedeutet werden. Man kann die Dinge aber auch politisch-inhaltlich oder programmatisch analysieren. Ein großer Unterschied zwischen PvdA und SPD ist, dass die PvdA als Post-Reformpartei bezeichnet werden muss, die für die Modernisierung des Versorgungsstaates einen hohen Tribut zahlen musste. Demgegenüber ist die SPD eine Partei, die diese Phase noch vor sich hat, wie wir hoffen - und zugleich fürchten müssen. Sie steht am Beginn dringender Reformen des deutschen Versorgungsstaates.


Man kann zu Recht behaupten, dass die PvdA ihre Stammwähler vor allem durch die Sanierung und Reform des niederländischen Versorgungsstaates verloren hat; besonders durch die Einschränkung der Ausgaben für die soziale Sicherheit, was in der existentiellen Krise von 1990 in Sachen niederländische Erwerbsunfähigkeitsversicherung (WAO-Krise) kulminierte. Die Folgen: Große interne Konflikte innerhalb der PvdA; Dispute zwischen PvdA und Gewerkschaften; mehr als 15.000 Mitglieder abgesprungen (fast ein Fünftel der gesamten Partei), darunter Parlamentsmitglieder; mangelnde soziale Erkennbarkeit als bleibendes Problem und ein struktureller Vertrauensbruch im Verhältnis zur eigenen Anhängerschaft mit geringem Ausbildungsstand und geringem Einkommen. Diesen Vertrauensbruch konnte Pim Fortuyn später nutzen.

Warum hat Gerhard Schröder so schlechte Laune?

Begreiflich ist, dass die SPD vor diesem Gang nach Canossa, dem großen Konflikt mit der Gewerkschaften und der eigenen Anhängerschaft (vor allem den abhängig beschäftigten Arbeitnehmern im Tarifbereich) lange zurückgeschreckt ist. Deutsche Reformen wären gut für das Land, für Europa, für das Zukunftspotential und die Konkurrenzposition des europäischen Versorgungsstaatsmodells gegenüber dem angelsächsischen Modell. Sehr wahrscheinlich wären sie jedoch für die deutsche Sozialdemokratie und die SPD schlecht. Ist das der Grund für Gerhard Schröders die schlechte Laune?


Eine andere Bemerkung betrifft die paradoxen Folgen der Entstehung des Rechtspopulismus in den Niederlanden. Vor Jahren schon stellten wir eine Ausgabe der Zeitschrift Socialisme & Democratie unter den Titel "Politieke partijen op drift" - "Politische Parteien in der Drift". Unsere Absicht war, die sehr unterschiedlichen Meinungen vor allem innerhalb der niederländischen Politikwissenschaft über die Zukunft der politischen Parteien - von alarmiert bis entspannt, von Kampagnenpartei-Hassern und Verteidigern der demokratischen Mitgliederpartei bis zu Hassern von oligarchischen Eliteparteien, von Optimisten bis Pessimisten - Revue passieren zu lassen und einander gegenüberzustellen.


Damals konnten wir die rechtspopulistische Revolte noch kaum vorhersehen, die den Niederlanden bevorstand. Sie erwies sich als Revolte gegen das politische Establishment, gegen die sozial-liberale große Koalition, gegen die technokratischen Führungseliten, gegen die Fiktion einer multikulturellen Gesellschaft ohne Reibereien, gegen die Entpolitisierung des Poldermodells usw. Die Folgen dieses rechtspopulistischen Aufstands der Bürgers sind paradox, wenn es um die Position der politischen Parteien geht. In erster Linie erlebte man in den Niederlanden ein enormes Aufleben des Vehikels der politischen Partei: Woche für Woche wurden in den Niederlanden neue Parteien von Unzufriedenen, Weltverbesserern, Frustrierten, Rechtspopulisten gegründet (wir haben im niederländischen Wahlsystem schließlich nicht die Fünfprozentklausel). Gerade durch den Rechtspopulismus - die allgemeine politische Verwirrung, die driftende Wählerschaft, das unter Beschuss geratene Establishment, das Versprechen einfacher Lösungen für komplexe Probleme - ist die Politik wieder aufgewacht. Bei Geburtstagsfeiern wurde sie erstmalig wieder zu einem Gesprächsthema.


Politiker sind mehr denn je Medienstars geworden - und Medienstars ziehen mehr denn je eine eigene politische Karriere in Erwägung. Politiker haben eigene beliebte Internet-Tagebücher. Selbst die primaries innerhalb der PvdA wurden von der Presse intensiv verfolgt. Es geht hier um ein eigenartiges, scheinbares Aufleben der Politik und der politischen Parteien. Was ist tatsächlich der Fall? Gleichzeitig mit aller Medienaufmerksamkeit für Politiker (vergleiche die Möllemann-Hysterie in Deutschland) und politische Parteien sieht man, dass Politiker und politische Parteien in der wirklichen politischen und gesetzgeberischen Praxis und beim Management von Staat und Gesellschaft immer weniger von Belang und manchmal sogar irrelevant geworden sind. Wir nennen dieses Phänomen (nach einem Buch der Wiardi Beckman-Stiftung) die "Verlagerung der Politik". Die politische Macht verlagert sich immer mehr auf andere Gremien und lässt Parteien und Politiker als Kolosse auf tönernen Füßen zurück.


Diese Verlagerung der Politik in der echten "Führungswirklichkeit" betrifft im einzelnen Verlagerungen auf Richter und Gerichte, auf Regionen, auf amtliche und diplomatische Vorhallen, auf die Wandelgänge in Brüssel und beim IWF. Es geht hauptsächlich um den Ersatz der repräsentativen Parteiendemokratie durch politics of expertise und die Politik der gut organisierten Interessen.


Und so tut sich eine Kluft auf zwischen der echten Führungswirklichkeit einerseits und der täglichen Medienwirklichkeit andererseits. Hier sind jene Orte, wo europäische Gesetzgebung, Richter, Beamte, corporate interests und Diplomaten die Politik de facto übernommen haben und politische Parteien sowie Politiker mehr oder weniger Randphänomene geworden sind; dort ist die Ebene der Politikdarstellung, auf der nicht so sehr die politischen Parteien, sondern eher ihre leitenden Politiker das Fernsehen und die Printmedien als Medienstars überproportional bevölkern. Es ist diese Kollision von zwei Wirklichkeiten - mit immer mehr Aufmerksamkeit für immer marginalere Phänomene -, über die wir uns beim Nachdenken über die Zukunft der Politik und der politischen Parteien im Klaren sein sollten.

Deutsche Erfahrungen, niederländische Erfahrungen

Vor einem Jahr, im Juni 2002 wurde in Paris eine neue französische Expertengruppe gegründet, die sich an der "reformistischen Linken" orientiert: La Republique des Idées. Aus diesem Anlass wurde ein Seminar zum Thema Europe - United States: Continents drifting apart? organisiert. Der französische Soziologe Pierre Rosanvallon bemerkte eine strukturelle Entfernung zwischen dem amerikanischen und europäischen Modell der demokratischen Modernität. Er befand, dass die amerikanische Demokratie sich in eine ungünstige Richtung hin entwickle. Dies geschehe aufgrund antidemokratischer Tendenzen, die sich hinter dem Status einer hyperpower verbergen, sowie wegen neuer innenpolitischer Verbindungen zwischen Religion und Politik, welche den liberalen Rechtsstaat unterminierten. Amerikaner wie Mark Lilla von der University of Chicago und Suzanne Berger vom MIT widersprachen dieser Analyse. Ihnen fiel etwas ganz anderes auf: der Zerfall der klassischen, demokratischen Institutionen Europas, unter ihnen die politischen Parteien. Ihre These lautete: Die europäischen Demokratien unterliegen denselben gesellschaftlichen Entwicklungen wie die Vereinigten Staaten, aber die jeweiligen institutionellen Antworten unterscheiden sich voneinander. Die Entstehung einer "Zuschauer- und Mediendemokratie" scheint besonders in Europa mit politischen und institutionellen Krisenerscheinungen und Instabilität einher zu gehen.


Verlieren unsere Parteien als zentrale Institutionen demokratischer Politik tatsächlich an Boden? Haben unsere amerikanischen Freunde Recht? Kämpfen Europas Parteien tatsächlich mit institutioneller Sklerose? Schauen wir auf unser Selbstbild und fassen wir die Fakten ins Auge, dann ist ganz bestimmt etwas im Gange. Nicht von ungefähr wurde der Begriff "Politikverdrossenheit" bereits 1992 zum "Wort des Jahres" gewählt. Nicht ohne Grund wird seit Jahren über "die Krise" oder "das Ende" der politischen Parteien diskutiert und finden infolgedessen in fast allen Parteien Europas langwierige Prozesse der "Parteierneuerung" statt.


Parteien verlieren in verschiedener Hinsicht an Boden. Der politische Organisationsgrad unserer Bevölkerung lässt nach: Den Parteien kommen die Mitglieder abhanden, und ihre Mitliedschaften überaltern. Des weiteren wurden wichtige Funktionen der Parteien von anderen gesellschaftlichen Institutionen übernommen. Das Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wird, schwindet. Zur gleichen Zeit haben sie eine Funktion erhalten und verstärkt: Sie haben nahezu das Monopol auf den Zugang zu den politischen Ämtern. Der Untergang der Partei, die Massen integriert, trifft mit Sicherheit auf die sozialdemokratischen Parteien zu. Doch die Sozialdemokratie fungiert hierbei als Pars pro toto, denn das Parteiensystem und die demokratische Ordnung als Ganzes stehen in Folge der Politikverdrossenheit unter Druck. In einer Reihe in der Wochenzeitung Die Zeit wurde unlängst sogar intensiv nach "Wegen aus dem Parteienstaat" gesucht. "Genau das ist das Problem unseres gegenwärtigen Parteienstaates", schrieb da etwa Robert Leicht: "Er setzt sich selber immer mehr durch - aber er selber setzt nichts mehr durch. Er breitet sich immer weiter aus - und er verflacht dabei. ... Nur wenn der Einfluss des Staates selber zurückgeschnitten wird, wird auch die Kolonisierung der Politik durch den Parteienstaat relativiert."


Parteien lassen sich natürlich nicht zur Schlachtbank führen: Sie reagieren auf externe und interne Kritik und auf sie bedrohende Umstände (auch wenn sie dies längst nicht immer vernünftig tun). Sozialdemokratische Parteien einiger europäischer Länder haben daher ihre eigene Modernisierung kräftig in die Hand genommen, erfolgreich oder weniger erfolgreich. Auf dieser Ebene lässt sich eine auffallende Parallele zwischen den deutschen und niederländischen Sozialdemokraten wahrnehmen. In den vergangenen Jahren wurde in beiden Parteien ein Revisionsprozess ihres Grundsatzprogramms in Gang gesetzt. Zugleich haben sie sich der Erneuerung ihrer Parteiorganisation gewidmet: die SPD unter Führung von Franz Müntefering auf Basis eines Beschlusses des SPD-Vorstands vom Mai 2000 ("Demokratie braucht Partei"), die PvdA, mit dem im Jahr 2000 erschienenen Bericht der Kommission Brouwer und mit der Wahl von Ruud Koole zum Parteivorsitzenden, mit der "demokratischen Mitgliedspartei als Gegengewicht der wahlpolitisch professionellen Partei" als Programm. Die dramatische Wahlniederlage vom 15. Mai 2002 verschärfte die Debatte mit dem Bericht Die Käseglocke zerschmettert der PvdA-Kommission De Boer, sowie mit dem Parteiorganisationsbericht Unter einem geschlossenen Dach wächst kein Gras der Kommission Andersson noch weiter.

Die Grundsatzdebatte der SPD: Bekräftigung sozialdemokratischer Werte

Auch die wissenschaftliche und intellektuelle Verarbeitung des Themas "Parteierneuerung" in Deutschland und den Niederlanden weist starke Parallelen auf. Bereits im Winter 2000/2001 erschien eine Sondernummer von Socialisme & Demokratie, der politisch-wissenschaftlichen Zeitschrift der PvdA, zur bedrängten Position der politischen Parteien wie der PvdA. Im Jahre 2001 erblickte in Deutschland Der rasende Tanker: Analysen und Konzepte zur Modernisierung der sozialdemokratischen Organisation das Licht der Welt.


Übereinstimmungen also, aber auch Unterschiede: in Ausmaß, Organisationsgrad, Kultur, sozialer Verbindung, Struktur und in den programmatischen Akzenten. Während die deutsche Grundwertdebatte bislang namentlich eine Bekräftigung fester sozialdemokratischer Werte in neuen Verhältnissen war, gelang es den niederländischen Sozialdemokraten nicht, sich über die Revision ihres aus dem Jahr 1977 stammenden Parteiprogramms einig zu werden. Die Meinungsverschiedenheiten über das gewünschte Maß an Revision blieben ungelöst und man schreckte vor der Kodifizierung des faktischen Drittwegkurses von Parteiführer Wim Kok zurück.


Was den Charakter der beiden Parteien anbelangt, hat sich die PvdA allem Anschein nach in stärkerem Maße von ihren traditionellen Milieus entfernt. Die Niederlande sind als kleines, stark exportorientiertes Land früher eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft geworden. Die Beziehung zur halb sozialdemokratischen und halb konfessionellen Gewerkschaft ist weniger eng, und die PvdA hat mit ihrer Regierungspolitik der eingeschränkten sozialstaatlichen Versorgung einen massiven Teil ihrer Anhängerschaft verloren. Als Kampagneparteien wiederum ähneln sich SPD und der PvdA sehr. Beide Parteien haben das britisch-amerikanische War-room-Modell übernommen. Die übrig gebliebene Rumpfpartei der PvdA kann jedoch stärker als die SPD als Kaderpartei beziehungsweise wahlpolitisch-professionelle Partei charakterisiert werden, in der die Mitglieder des Parteivorstands die normalen Mitglieder dominieren. Die PvdA hat mehr Ähnlichkeiten mit den ostdeutschen SPD-Parteigliederungen, so wie sie seit 1990 in den neuen Bundesländern entstanden sind, als mit der nostalgischen Massenpartei, wie sie noch immer mit der nordrhein-westfälischen SPD assoziiert werden kann.


Wählt man einen etwas abstrakteren Blickpunkt, dann überwiegt der Eindruck, dass die sozialdemokratischen Parteien in beiden Ländern einer vergleichbaren Dynamik ausgesetzt sind. In beiden Fällen wurde ihr Fortbestand als selbständige Repräsentanten gesellschaftlicher Kräfte stark unterminiert. Die klassische Massenemanzipationspartei unterliegt der kräftigen Erosion, und sogar das Dahinschmelzen des Nachkriegsparteiensystems scheint nicht ausgeschlossen. Welchen Hintergrund hat dies? Wir trennen die veränderten Verhältnisse, unter denen Parteien operieren müssen, von den Veränderungen, die sie selbst im eigenen Funktionieren vorgenommen haben.


Der Kontext, in dem Parteien heutzutage tätig sind, unterscheidet sich nicht nur stark von den Verhältnissen, unter denen sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, er weicht ebenfalls ab von den Bedingungen, unter denen ihr Fortbestand nach dem Zweiten Weltkrieg in neuer Form bestätigt wurde. Diese Veränderungen sind erstens gesellschaftlicher, zweitens politisch-ideologischer beziehungsweise programmatischer und drittens kultureller und organisatorischer Natur:


Erstens, die enge Beziehung zwischen Gesellschaft und Politik, zwischen fester Anhängerschaft und Parteien ist großenteils zerbrochen. Die Struktur unserer Gesellschaften hat sich selbst stark geändert, die Repräsentation in gleichem Maße. Die Wähler wählen wechselhafter und weisen ein erheblich launenhafteres Benehmen auf als noch vor einigen Jahrzehnten. Weltanschauliche Loyalität und Klassenorientierung spielen eine immer kleinere Rolle. Lifestyle und kulturelles Identitätsprofil sind in einer zunehmend meritokratisch eingestellten Gesellschaft wichtiger geworden. Die Politik ist ein Marktplatz geworden, auf dem politische Unternehmer einen Konkurrenzkampf um die Stimmen der Bürger respektive Konsumenten führen. In den Worten Joachim Raschkes: Eine "Umstellung von Ideologie auf Markt" hat stattgefunden. Bereits mit dem Godesberger Programm des Jahres 1959 wandelte sich die SPD von der Weltanschauungs- und Programmpartei in eine wählerorientierte Konkurrenzpartei. Diese Tendenz wurde in verstärktem Maße mit der weiteren Rationalisierung und Professionalisierung der Volksparteien, mit der sich verstärkenden gesellschaftlichen Entwurzelung und dem weiteren Eindringen in die Domäne des Staates fortgesetzt.

Politiker sind zu Managern technokratischer Komplexe geworden

Zweitens, die politischen Lenkungsfragen sind komplexer geworden, und gleichzeitig wurde die Position der klassischen Machtzentren untergraben. Politische Macht sickerte weg oder ist auf globale Spieler, europäische Institutionen, professionalisierte amtliche Vorzimmer, die Justiz und andere gesellschaftliche und politische Institutionen verlagert worden. In diesem diffusen und komplexen Kraftfeld hat die klassische Ideologie als Leitfaden für politisches Handeln ausgedient. Politiker sind zu Managern großer, bürokratischer Komplexe geworden. Ihre technokratische Logik steht im Widerspruch zum politischen und demokratischen Ordnungsprinzip ihrer Parteien. Parteien sind dadurch eher zu Verwaltern des Staates als zu Vermittlern zwischen Gesellschaft und Staat geworden.


Drittens, der Individualismus des heutigen Bürgers ist kaum mit einer Bindung an eine Kollektivität vereinbar, wie sie die politischen Parteien bieten. Die moderne Medienlandschaft hat die Lockerung der Bindung zwischen Bürger und Parteien gefördert, indem sie der politischen Welt eine neue Logik und Dynamik verschaffte und die klassischen Funktionen der Parteien, wie Sozialisation, Kommunikation und Informationsbeschaffung übernahm. Dadurch hat sich nicht nur der Charakter der Beziehung zwischen Wählern und Parteien geändert, sonder auch der Charakter der Beziehung zwischen Mitgliedern und Parteien.


Die Parteien haben diese Entwicklungen nicht nur passiv erlitten, sie haben sich den veränderten Verhältnissen auch angepasst. Sie haben dabei Entscheidungen getroffen, die einen Einfluss auf die gesellschaftliche und politische Position ihrer Organisationen sowie auf ihre inneren Verhältnisse hatten. Unter dem Strich zeichnet sich - leicht zum niederländischen Fall tendierend - das folgende Bild ab:


- Die sozialdemokratischen Parteien sind Kaderparteien geworden. Ihr Umfang ist stark zurückgegangen, und sie sind überaltert. Ihre Mitglieder sind einseitiger zusammengesetzt und gebildeter als früher - bei gleichzeitiger überproportionaler Vertretung des öffentlichen Dienstes. Ihre stützende Kraft ist eine beschränkte Zahl von Kadermitgliedern, die hauptsächlich politische Ämter auf Regionalebene innehaben. Gleichzeitig werden Versuche unternommen, die Parteien zu so genannten Netzwerkparteien zu entwickeln, mit thematischer, auf das gesellschaftliche Wissen und die Expertise der Mitglieder und Nichtmitglieder gerichteter Aktivität, ob mittels Internet oder nicht, und mittels neuer Verbindungen zu Organisationen in der Bürgergesellschaft.

Im Schatten der Macht ist die Parteiorganisation verkümmert

- Die Parteiorganisation ist zentralisiert. Besonders im Laufe von Perioden der Regierungstätigkeit verschiebt sich der Schwerpunkt der Partei auf den inneren Kreis in Regierung und Parlament. Die Medienlogik hat die plebiszitären Elemente in der Organisation stimuliert sowie interne Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten zum wahlpolitischen Risiko gemacht. Im Schatten der Macht sind die Parteiorganisationen ziemlich verkümmert. Die Parteiführer haben sich im allgemeinen kaum mit programmatischen Grundsatzdebatten beschäftigt. Bei der Lenkung der Partei war Risikokontrolle angesagt: Die Parteiführer scheuten die offene, intellektuelle Debatte.


- In der Regierungspraxis hat ein pragmatischer Mittelkurs überhand genommen und das parteipolitische Profil abgenutzt - ob bei explizitem Kurswechsel auf den Dritten Weg der Neuen Mitte oder nicht. Auf lokaler Ebene ist die Sozialdemokratie unter Beschuss populistischer Bewegungen sowohl von links wie von rechts geraten. Für die lokale sowie auch für die europäische Politik scheinen sich die Wähler überhaupt nur noch außergewöhnlich wenig zu interessieren.


Angesichts dieser Überlegungen sollte sich die innerparteiliche und transnationale Parteien-Debatte an drei Themen ausrichten: Erstens, die gesellschaftliche Position politischer Parteien: Heimatlose Volksparteien. Klare Repräsentationsmuster in denen Parteien eine feste Wählerschaft vertreten, sind verschwunden. Wähler wechseln die Partei auf dem politischen Marktplatz. Die Rede von der Heimatlosigkeit der Parteien, die gesellschaftlich-wahlpolitisch bodenlos geworden seien, geht um. Weiter stellt sich die Frage, welche neue Bindungen in Zukunft entstehen können und wie Parteien hierauf reagieren werden. Wie lässt sich die Gesamtrepräsentation einer fragmentierten Anhängerschaft begründen? Und wie kann die Verbindung zu gesellschaftlichen Organisationen und neuen Gruppen (beispielsweise Einwanderern) hergestellt werden? Kurz, wie können die Parteien erneut als Vertreter der Bürgergesellschaft fungieren, aus der sie ursprünglich stammen? "Das Spannungsverhältnis zur Zivilgesellschaft ist unaufhebbar und wachsend, aber es kann auch produktiv gewendet werden", schreibt Joachim Raschke, "durch Kritik an Parteien wegen ihres Staatsimperialismus und ihrer Gesellschafts-Instrumentalisierung sowie durch Kritik an der Zivilgesellschaft wegen der von dort zu hörenden Naivitäten und irreführenden Verheißungen. Konstruktiv ließen sich Parteien und Zivilgesellschaft aufeinander beziehen durch ein Bewusstsein und die Praxis von jeweiliger Selbstbegrenzung und wechselseitiger Komplementarität."


Zweitens, Weltanschauungspartei versus Netzwerk- und Kampagnenpartei: Die Parteien schwanken zwischen administrativem Pragmatismus und Ideologie. Sozialdemokratische Parteien sind von Haus aus programmatische Parteien, basierend auf Grundwerten. Desto auffälliger ist der Schwund der programmatischen Dimension, gerade innerhalb der westeuropäischen Sozialdemokratie. Die niederländische PvdA "schüttelte die ideologischen Federn ab" (Kok), und die SPD richtete sich auf die "Neue Mitte" aus (Schröder). Gleichzeitig hat die verwaltungsmäßige Dimension zugenommen und wird als Hilfsquelle für Medienkampagnen eingesetzt, die darauf zielen, die Regierungsfähigkeit wahlpolitisch sicherzustellen. Hier scheint übrigens die Entideologisierung in den Niederlanden weiter fortgeschritten als in Deutschland. Die Frage ist, ob für die Zukunft politischer Parteien eine Rückbesinnung auf Grundsätze, eine Rückkehr zur Ideologie also, oder die weitere Entwicklung hin zur schlagfertigen Netzwerk- und Kampagnenpartei wichtig ist. Oder könnte die ideologische Rückbesinnung auf die Entwicklung einer neuen "Sprache linker Wertvorstellungen" beschränkt bleiben, wie der Amerikaner Dick Morris suggeriert hat? Und könnte dies vielleicht eine Fluchtmöglichkeit aus der programmatischen Sackgasse bieten - einen Ausweg, der sich überdies sehr gut mit der Umgestaltung der Parteien zu Netzwerk- und Kampagnenorganisationen vereinigen lässt?


Drittens, neue politische Stile und Machtverhältnisse - Parteien in der Mediendemokratie: Seit jeher sind die politischen Parteien als Vereine wichtige Spieler in der politischen Arena und Parteitage Kraftproben unterschiedlicher Flügel und Meinungsverschiedenheiten. Aufgrund einer Kombination von Faktoren (der beschriebene Einfluss der Medien, die Professionalisierung der Politik und die administrative Orientierung der Parteien) hat die Macht sich während der Legislaturperiode auf die Vertreter der Partei in der Regierung und - in geringerem Maße - auf die parlamentarischen Fraktionen verlegt. Des weiteren ist, durch die Logik von Meinungsumfragen und Medien, der Personenkult in den Mittelpunkt der politischen Welt gerückt - in populistischer Gestalt sogar in eine plebiszitäre Führervollmacht mündend. Die eigentliche Partei ist zu einem Anhängsel geworden und schrumpft immer mehr zusammen. Wie lässt sich dies mit der klassischen Idee einer Partei als Forum für Diskussionen und als Verfasser des politischen Programms ihrer Vertreter in Parlament und Regierung vereinen? Kann die sozialdemokratische Partei als moderne Kommunikationspartei mit einer doppelten Kommunikationsstrategie überleben: eine innerhalb der Partei und eine für die Massenmedien? Oder haben Ulrich von Alemann und seine Mitautoren Recht, wenn sie schlussfolgern: "Was wir brauchen, ist nicht weniger Parteipolitik, sondern bessere Parteien, die mehr wollen als gute Regierungstechnik, die spannende Debatten zu wesentlichen gesellschaftlichen Fragen organisieren können. Das Publikum hätte es verdient."

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