USA oui! Bush non!



Paris. Gerade vierundzwanzig Stunden erst bin ich in Europa. Fünf Städte werde ich besuchen auf meiner Suche nach dem neuen europäischen Antiamerikanismus. Neben Paris auch Madrid, Barcelona, Rom und Berlin. Und schon bin ich an einem der coolsten Orte der Welt: in einer großen alten Eishockeyhalle am Rande von Paris, inmitten von 15.000 Menschen, die auf den Auftritt von Bruce Springsteen und seiner E Street Band warten. Springsteen hat dann eine ganz normale Show hingelegt wie viele andere davor und danach, im Grunde wenig bemerkenswert.


Aber es ist immer aufschlussreich, Bruce im Ausland live spielen zu sehen - und Paris hat in der Springsteen-Chronik einen ganz besonderen Platz. Genau hier in dieser Stadt hat er 1980 vor seinen Fans zum ersten Mal über Politik gesprochen. Springsteen ist Autodidakt. Irgendwer hatte ihm damals gerade das Buch A Short History of the United States von Allan Nevins und Henry Steele Commager geschenkt. Springsteen hatte es gelesen und seinem Publikum gesagt, dass Amerika ein Versprechen sei: "ein Versprechen, das Tag für Tag auf brutale Weise gebrochen wird, aber ein Versprechen, das niemals stirbt, ein Versprechen, das immer in dir drin bleibt".


Man kann viel über einen Kontinent lernen, wenn man darauf achtet, wie er auf Bruce Springsteen reagiert. Heute Abend im ausverkauften Eisstadion von Bercy sieht das Publikum nicht anders aus als in jeder x-beliebigen Stadt in Amerika. Mehrere Generationen sind da. Jeder hier kennt sämtliche Texte, sogar die der ganz neuen Songs. Gegen Ende des Konzerts erklärt Bruce auf Französisch: "Ich habe dieses Lied über den Vietnamkrieg geschrieben. Ich will es heute Nacht für euch spielen, für den Frieden." Und 15.000 Franzosen aus der Hauptstadt des kulturellen Antiamerikanismus recken die Fäuste in den Himmel und brüllen sich die Lungen aus dem Leib: "I was born in the USA."


Man kann kein Antiamerikaner sein, wenn man Bruce Springsteen mag. Man kann dann Amerika kritisieren. Man kann dann dagegen demonstrieren, wie sich Amerika weltweit gebärdet. Man kann sich dann über die Politik der nicht demokratisch gewählten, ungewöhnlich aggressiven und gedankenlosen amerikanischen Regierung aufregen. Man kann dann sogar die kulturelle und kommerzielle Allgegenwart Amerikas ziemlich scheußlich finden. Aber antiamerikanisch sein kann man dann nicht. George W. Bush sei "wie eine Comic-Stereotype" erklärt der 45-jährige Jordi Beleta zwei Abende nach dem Konzert in Paris einem Reporter des Wall Street Journal. Bush vertrete die "schlimmste Seite der amerikanischen Kultur". Und Springsteen? "Bruce ist echt. Er ist ein Mann von der Straße." Ein Reuters-Korrespondent bekommt in Berlin Ähnliches zu hören: "Amerika kann Bush behalten", erklärt ihm der 36-jährige Rumen Milkov, "aber Springsteen darf wiederkommen, so oft er will".Der echte Antiamerikaner, sagt der italienische Politikwissenschaftler Robert Toscano, verurteilt Amerika, "weil es so ist, wie es ist - nicht weil es tut, was es tut". Vertreter der Regierung Bush und ihre Unterstützer in den Medien vermischen gern das eine mit dem anderen, um der verbreiteten Besorgnis und Wut über den gegenwärtigen Kurs der amerikanischen Außenpolitik die Legitimität zu entziehen. Schenkt man ihren Worten Glauben, dann ist Europa heute ein einziger brodelnder Kessel des Antiamerikanismus, in dem uns eine von feigen und pazifistischen Politikern angeführte neidische, frustrierte und fremdenfeindliche Bevölkerung selbst unsere besten Eigenschaften zum Vorwurf macht. Das in den Medien der Vereinigten Staaten von Europa gezeichnete Bild ist eines von geradezu gnadenloser Abscheu gegenüber Amerika.


Ich habe das so zuerst über Frankreich gehört, wo sich eine arrogante Anti-McDonald′s-Bewegung etabliert habe und ein rassistisch-neofaschistischer Apologet Hitlers im Rennen um die Präsidentschaft auf dem zweiten Platz gelandet sei. Überall in den französischen Buchläden findet man Titel wie Wer tötet Frankreich? oder Der amerikanische Totalitarismus oder No Thanks Uncle Sam oder Eine seltsame Diktatur. Die französischen Zeitungen sind voll von ätzender Kritik an Amerikas internationalem Auftreten. Le Monde zum Beispiel ging erst kürzlich wieder in die Vollen und nannte Bushs Nahostpolitik "außergewöhnlich, ungerecht und arrogant".


Nun ja, Frankreich ist Frankreich. Aber sogar in Großbritannien, dessen Premierminister Tony Blair sich als verlässlichster und vernehmlichster Alliierter von George W. Bush in Europa profiliert, hat Amerika einen schweren Stand. Selbst gemäßigte Blätter wie der Mirror erscheinen hier - ausgerechnet am 4. Juli - mit Schlagzeilen wie: "Jetzt sind die USA der führende Schurkenstaat der Welt." Will Hutton, ehemaliger Chefredakteur des Observer, beschreibt Amerika in einem Buch als ein Land "in den Fängen des christlichen Fundamentalismus". Jene "Demokratie", auf die Amerikaner so stolz seien, sei in Wirklichkeit "eine Beleidigung der demokratischen Ideale". Der vorherrschende Konservatismus in Amerika sei "sehr ideologisch, fast schon leninistisch", stütze sich auf einen "zähen und verbreiteten Rassismus", während die amerikanische Wirtschaft auf einem einzigen großen Bluff beruhe und die amerikanischen Bürger einander routinemäßig umbrächten.

Man hat mir auch von Italien berichtet, wo die Linke historisch von der antiamerikanischen Kommunistischen Partei dominiert war und Hunderttausende im Juli 2001 gegen die von Amerika betriebene Globalisierung und nun wiederum gegen die amerikanische Irakpolitik auf die Straße gingen.

Am schlimmsten geht es in Deutschland zu, so hatte man mir gesagt

Am Schlimmsten aber, sagte man mir, gehe es in Deutschland zu, das seit dem Zweiten Weltkrieg stets an der Seite der Amerikaner gestanden hatte. Als George W. Bush im Frühjahr 2002 Berlin besuchte, habe der dortige Bürgermeister erklärt, er habe außerhalb zu tun, und Zehntausende von Deutschen hätten an mehr als 25 großen antiamerikanischen Demonstrationen teilgenommen. Bundeskanzler Gerhard Schröder habe sich seine Wiederwahl gesichert, indem er mehr gegen Bushs Kriegspläne im Irak als gegen die Opposition agitierte und deutsche Kooperation selbst im Falle eines UN-Mandats rundum ausschloss. Schröders Justizministerin hatte Bush sogar in einem Atemzug mit Hitler genannt. (Wie Marc Fisher von der Washington Post glaubt, sprach Frau Däubler-Gmelin nur aus, "was viele Deutsche meinen".)

Irgendeine Unterstützung für Bushs politische Prioritäten (mit Ausnahme des Krieges in Afghanistan) konnte ich nirgendwo in Europa feststellen: überhaupt keine für den Rückzug der USA vom Kyoto-Protokoll und vom ABM-Vertrag oder für die amerikanischen Versuche, die Konventionen über chemische und biologische Waffen aufzuweichen. Kein Verständnis hat Europa auch für den Widerstand der Amerikaner gegen Atomtestverbote und den Internationalen Strafgerichtshof - vom gewaltsamen "regime change" im Irak erst gar nicht zu reden. Und durchweg herrschte tiefer Widerwille gegen Bushs (zuerst in der State of the Union-Rede 2002 verwendete) Formulierung von der "Achse des Bösen", gegen die sich alle zivilisierten Nationen zu verbünden hätten. Der britische Guardian nannte die Rede "Hate of the Union".

Selbst bekannte Pro-Amerikaner wie der britische Konservative Chris Patten, einst letzter Gouverneur von Hongkong, jetzt EU-Außenkommissar, beklagen sich über den "unilateralistischen Overdrive" der Regierung Bush und deren "absolutistische" Außenpolitik. Diese Perspektive teilt auch Jürgen Habermas, die überlebensgroße Leitfigur der demokratischen (und pro-amerikanischen) Linken in Europa. Habermas warnt: "Viele Amerikaner begreifen noch gar nicht die Intensität und die Eigenart der Ablehnung, ja sogar der Abscheu, auf die die Politik der gegenwärtigen amerikanischen Regierung überall in Europa stößt - einschließlich Großbritannien. Es ist sehr gut möglich, dass die emotionale Lücke tiefer wird als irgendwann zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg."


Vor diesem Hintergrund haben viele amerikanische Beobachter den Schluss gezogen, dass diese (von ihnen als Antiamerikanismus definierten) Einstellungen der Europäer potentielle Scheidungsgründe darstellen. Tatsächlich ist diese Sichtweise in der medial dominierenden amerikanischen Mitte-rechts-Szenerie inzwischen zur conventional wisdom geworden. Thomas Friedman, Großkommentator der New York Times, beklagt, was er den "neuen Antiamerikanismus" nennt: "ein Gemisch aus Neid auf und Groll gegenüber der überwältigenden wirtschaftlichen und militärischen Macht Amerikas". Karl Zinsmeister, Redakteur der Monatszeitschrift des American Enterprise Institute, besuchte im April 2002 eine Konferenz führender europäischer Politiker und entdeckte dort nichts als "Verbitterung, Eifersucht und arglistige Bosheit" gegenüber den Vereinigten Staaten. Der konservative Ökonom Irwin Stelzer wiederum erklärt, dass viele europäische Nationen "aufhören oder schon aufgehört haben, unsere Freunde zu sein". Der heutige "Euro-Nationalismus" beziehe seine Kraft großenteils aus dem Antiamerikanismus, bemerkt John O′Sullivan, früherer Redakteur der National Review. Und der kanadische Kommentator Mark Steyn ergänzt: "Mir fällt es leichter, mit Optimismus in die Zukunft des Irak oder Pakistans zu blicken als in die von, sagen wir, Holland oder Dänemark."


Die bevorstehende euro-amerikanische Scheidung beschwört auch der Essay Power and Weakness des neokonservativen Außenpolitik-Publizisten Robert Kagan. In Europa vielfach übersetzt, nachgedruckt und per E-Mail verschickt, hat der ursprünglich in der Policy Review der Hoover Institution erschienene Aufsatz bei vielen Europäern ein böses Erwachen ausgelöst. "Es ist an der Zeit, mit der Heuchelei aufzuhören, Europäer und Amerikaner teilten eine gemeinsame Weltsicht - oder auch nur dieselbe Welt", schreibt Kagan. "Über die fundamental wichtige Frage der Macht - der Wirkung von Macht, der Moralität von Macht, der Wünschbarkeit von Macht - laufen amerikanische und europäische Perspektiven auseinander. ... Das ist der Grund dafür, dass hinsichtlich wesentlicher strategischer und internationaler Fragen heute gilt: Amerikaner sind vom Mars und Europäer von der Venus. Sie sind sich in wenigem einig und verstehen einander immer schlechter. ... Wo es darum geht, nationale Prioritäten zu setzen, Bedrohungen zu benennen, Herausforderungen festzustellen, Außen- sowie Sicherheitspolitiken zu formulieren und durchzusetzen, haben die Vereinigten Staaten und Europa unterschiedliche Wege eingeschlagen."

Hat Robert Kagan wirklich Recht?

Viele Angehörige der kulturellen und intellektuellen Eliten Europas befürchten, dass Kagan richtig liegt, besonders hinsichtlich der Wahrnehmung Europas im einst atlantisch gesinnten Außenpolitik-Establishment der USA. Trifft seine Deutung tatsächlich zu, so wäre das eine echte Neuigkeit. Denn ein Großteil der Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich im Lichte der amerikanisch-europäischen Beziehungen erzählen. Zwei Weltkriege, der Kalte Krieg, das meiste von dem, was in Amerika als Hochkultur betrachtet wird sowie viel von unserer Populärkultur einschließlich unserer besten Filme und literarischer Werke sind ohne Europas Beispiel und Einfluss unvorstellbar. Umgekehrt war bis vor kurzem Frieden auf dem europäischen Kontinent undenkbar ohne amerikanische Führerschaft. Auch heute noch stellen die Geschäfte zwischen Europa und den Vereinigten Staaten die bedeutendste Handels- und Investitionsbeziehung der Welt dar - mit einem Wert von 500 Milliarden Dollar und schätzungsweise sechs Millionen Jobs auf beiden Seiten des Atlantik, die vom fortgesetzten Funktionieren dieser Beziehung abhängen. Sollte tatsächlich eine Scheidung bevorstehen, hätte dies fast unvermeidlich eine tektonische Verschiebung von globaler Dimension zum Ergebnis.


Aber hat Kagan wirklich Recht? Ja, wenn man die unilateralistisch-militaristischen Ambitionen der Neokonservativen um Bush und die rot-grüne, Post-Neue-Linke Weltsicht der Regierung Schröder zugrunde legt. Doch die transatlantischen Beziehungen umfassen weit mehr als die Feindseligkeit von George W. Bush und seinen Helfern gegenüber Gerhard Schröder.

Machen wir uns nichts vor: Antiamerikanismus ist ein ernstes Problem in vielen Ländern auf verschiedenen Kontinenten. Aber keines dieser Länder liegt in Europa. Eine aktuelle Umfrage des Pew Global Attitudes Program hat ergeben, dass antiamerikanische Einstellungen in 19 der 27 untersuchten Länder im Steigen begriffen sind. Doch es sind fast ausschließlich Staaten im Nahen Osten und Zentralasien, in denen die Feindseligkeit zunimmt. Zwar findet sich in Europa von der neofaschistischen Rechten bis zur nichtkommunistischen Linken buchstäblich nirgends Unterstützung für Ton und Substanz der Politik der gegenwärtigen amerikanischen Regierung. Doch ebensowenig lässt sich hier irgendetwas entdecken, das plausibel als Antiamerikanismus bezeichnet werden könnte.


Im September 2002, als der wachsende Riss zwischen Europa und Amerika bereits offenkundig wurde, veröffentlichten der German Marshall Fund und das Chicago Council on Foreign Relations die Ergebnisse einer ambitionierten Studie. Amerikaner sowie die Bürger von sechs europäischen Ländern (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande und Polen) waren über den Irak, über Außenpolitik und übereinander befragt worden. Auf der Basis der Politik ihrer Regierungen käme man nie und nimmer darauf - aber die Ansichten und Prioritäten der Menschen in den Vereinigten Staaten und in Europa waren bemerkenswert ähnlich. Etwa die Hälfte der beiden befragten Gruppen benannten die globale Erwärmung als erhebliche Bedrohung der nationalen Sicherheit. (70 Prozent der befragten Amerikaner erklärten, die Vereinigten Staaten sollten das Kyoto-Abkommen unterzeichnen, selbst wenn damit negative Wirkungen für die amerikanische Volkswirtschaft verbunden wären; und 65 Prozent befürworteten die amerikanische Beteiligung am Internationalen Strafgerichtshof, auch wenn die Möglichkeit überzogener Anklagen gegen amerikanische Soldaten erwähnt wurde.)

Die Stärkung der Vereinten Nationen befürworteten in Amerika wie in Europa jeweils weit über 70 Prozent, und Mehrheiten bestanden auch zugunsten der Stärkung von Institutionen wie der WTO und der Nato. Im Übrigen blicken die Europäer durchaus wohlwollend auf Amerika: Von 100 möglichen Punkten gaben sie den Vereinigten Staaten im Durchschnitt 64 - nur sechs weniger als der EU. Umgekehrt befürworteten fast 80 Prozent der befragten Amerikaner starke europäische Führerschaft in der Weltpolitik.Wo liegen die Unterschiede? Die größte Differenz zwischen Amerikanern und Europäern betrifft die jeweilige Wahrnehmung der amerikanischen Regierung. Anders als die Befragten in den meisten anderen Ländern, ist eine große Mehrheit der Amerikaner der Ansicht, dass Amerika in seiner Außenpolitik auf die Interessen anderer Länder genügend Rücksicht nimmt. Demgegenüber glauben - mit Ausnahme der Deutschen - Mehrheiten der Europäer, dass George W. Bush seine Entscheidungen ausschließlich im Lichte amerikanischer Interessen trifft, ohne Rücksicht auf den Rest der Welt.

Das eigentliche Problem sind nicht die europäischen Eliten

Als Reaktion auf die Ergebnisse dieser Umfrage schreibt der Washingtoner Kommentator Jonathan Rauch: "Das wahre Problem sind die europäischen Eliten." Rauch hat exakt Unrecht. Betrachtet man die oben genannten Zahlen, so zeigt sich, dass sich diese Eliten sowohl mit ihrer eigenen Öffentlichkeit wie auch mit der amerikanischen in bestem Einklang befinden. Das Problem liegt eben nicht bei den europäischen Eliten. Das Problem liegt in Amerika.

Das Gerede von der amerikanisch-europäischen Scheidung war bereits vor dem 11. September 2001 in Gang gekommen. Doch "9/11" hat beide Seiten daran erinnert, wie viel sie im Kern eben doch gemeinsam haben. Plötzlich schienen die Streitpunkte trivial. Überall in Europa manifestierte sich, was Gerhard Schröder "uneingeschränkte Solidarität" nannte. Le Monde erschien mit der Schlagzeile "Nous Sommes Tous Americains". Millionen Menschen hielten Nachtwachen, Versammlungen oder Gottesdienste ab. Enorme Beträge wurden gespendet. Die amerikanischen Stars and Stripes waren überall. Und die gemeinsame Berufung der Nato auf Artikel 5 ihrer Charta brachte, wie Michael Ignatieff schrieb, "das geteilte Selbstverständnis einer bedrohten transatlantischen Identität" zum Ausdruck.

Doch brachte die Reaktion der Regierung Buch buchstäblich das gesamte Mitgefühl, das die Tragödie ausgelöst hatte, innerhalb allerkürzester Zeit auf Null. Jacques Rupnik, ein früherer Berater sowohl von Jacques Chirac wie von Vaclav Havel, drückt es so aus: "Die Amerikaner sagen gern, der 11. September habe die Welt verändert. Aber was sich in Wirklichkeit verändert hat, ist Amerika. Die ungeheure moralische Selbstgerechtigkeit der Regierung Bush hat die Europäer überrascht und verstört."


Selbst in Ländern wie Italien oder Spanien, in denen konservative Regierungen die Irakpolitik der amerikanischen Regierung unterstützen, bleibt die Öffentlichkeit ablehnend. Josep Ramoneda Molins, Direktor des Centre Cultura Contemporània und Kolumnist der Zeitung El Pais, erklärt mir, dass Umfragen zufolge nach wie vor 70 Prozent der Spanier Bushs Irakabenteuer ablehnten. "Bush hat die volle Unterstützung unseres Premierministers", sagt er, "aber das Land mag ihn nicht".

Es sollte sich von selbst verstehen, dass solche kritischen Positionen gegenüber dem politischen Vorgehen der USA keinen Antiamerikanismus bedeuten. Vielleicht bin ich als Reporter ziemlich mies, aber abgesehen von ein bisschen Graffiti hier und da habe ich Beweise für die Existenz des angeblichen neuen europäischen Antiamerikanismus nirgendwo entdeckt. Wo auch immer ich in Europa hinkam, erlebte ich überraschende Vorliebe für vieles, was Amerika ausmacht. Das Programm jenes Jazzfestivals, das ich in Madrid knapp verpasste, hätte keine amerikanische Stadt (mit Ausnahme von New York) so zuwege gebracht. Es geht nicht nur um Bruce Springsteen, dessen neue Platte in elf Ländern sofort auf Platz eins der CD-Charts schoss. Die Kinoanzeigen dominieren Woody Allen, Michael Moore und Steven Spielberg. An den Wasserspendern europäischer Büros wird über Tony Soprano und Carrie Bradshaw geredet. Jonathan Franzen, Jonathan Safran Foer und Colson Whitehead führen die Buchcharts an. Im Schaufenster eines Buchladens in Barcelona sah ich die Madeleine-Albright-Biografie von Michal Dobbs neben Philip Roths Der menschliche Makel und Joseph Stiglitz′ Die Schatten der Globalisierung liegen. Auf der Fifth Avenue fände man diese Bücher nicht.

"Bei Reagan gab es diese Prise Charme, da war Humor, da war Hollywood."

Nicht, dass es in Europa keinen Antiamerikanismus gäbe. Jedes europäische Land kann auf irgendeine antiamerikanische Tradition in seinem politischen und kulturellen Leben verweisen. In jüngerer Zeit jedoch ist der linke Antiamerikanismus, den einst starke marxistische Parteien vertraten und der sich auch im Widerstand gegen den Vietnamkrieg manifestierte, nahezu völlig verschwunden. Eine partielle, aber schwierige Ausnahme ist die Antiglobalisierungsbewegung.

Antibushismus, ja: Den gibt es in reichem Maße. Europa ist ein Kontinent, dessen politischer Schwerpunkt noch immer fast so weit links von der Mitte liegt wie er sich, umgekehrt, in Amerika rechts davon befindet. Die gegenwärtige deutsche Regierung macht Wellstone-Feingold-Politik. Selbst die meisten konservativen Parteien in Europa stehen zur Linken der amerikanischen Demokraten. Auch trennende kulturelle Unterschiede gibt es. Die negative Reaktion der Europäer auf Bush kommt auch aus dem Bauch. Es ist nicht so, dass die Europäer allergisch auf jeden konservativen Republikaner als amerikanischen Präsidenten reagieren würden. Mit Ronald Reagan jedenfalls wurden sie seinerzeit überraschend warm, was der Leitartikler Alain Frachon von Le Monde so erklärt: "Als Reagan Präsident war, vermittelte er nie den Eindruck, dass es Fundamentalismus war, der ihn motivierte. Er war geschieden. Er hatte in Hollywood gearbeitet. Aber dieser George W. Bush ist uns vollständig fremd. Alle zwei oder drei Sätze zitiert er die Bibel. Er umgibt sich mit christlichen Fundamentalisten. Er sagt, es fällt ihm nicht schwer einzuschlafen, nachdem er gerade die Vollstreckung eines Todesurteils angeordnet hat. Bei Reagan gab es diese Prise Charme, da war Humor, da war Hollywood. Bei Bush ist es anders. Das ist eine andere Welt, und die finden wir unglaublich scheinheilig. Niemand hat uns gesagt, dass die Republikaner so weit nach rechts rücken würden."

Für jeden George W. Bush gibt es in Amerika einen Spike Lee

Zu Bill Clintons Zeit war vieles noch anders. Serge Halimi redigiert die Zeitschrift Le Monde Diplomatique, die nicht wenige für die intellektuelle Heimat der antiamerikanischen Weltsicht in Europa halten. Er sagt: "Die Feindseligkeit gegenüber der amerikanischen Politik wäre geringer, säße Clinton noch im Weißen Haus. Selbst dann, wenn Clinton genau dieselbe Politik treiben würde wie Bush. Clintons "I feel your pain" hat auf dem internationalen Parkett genauso gut funktioniert wie in Amerika, auf jeden Fall besser als Bushs "I don′t give a damn what you think". Ich würde sagen, die Menschen finden es besser, belogen zu werden als unverhohlener Verachtung ausgesetzt zu sein." Susan Neiman, eine Amerikanerin, die das Einstein Forum in Potsdam leitet und mit Unterbrechungen seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, unterscheidet ebenfalls zwischen den europäischen Reaktionen auf Clinton und Bush: "Die Linke in Amerika weiß nicht zu schätzen, was Clinton geschafft hat", sagt sie. "Er war der amerikanische Traum des denkenden Menschen. Lebendig, unprätentiös, Saxofonspieler. Sieben Jahre lang war es in Europa unglaublich cool, Amerikaner zu sein. Bush dagegen ist der amerikanische Albtraum: ein verwöhnter Burschenschaftler, der vom Rest der Welt keine Ahnung hat und auch nicht haben will."


Die meisten Europäer verstehen, dass Amerika ein zwar großes und wunderschönes, zugleich aber verdammt kompliziertes Land ist. Für jeden George Bush haben wir einen Spike Lee. Für jeden Charlton Heston einen Paul Newman. Für jeden Lee Greenwood gibt es einen Wynton Marsalis. Die Globalisierung - für den durchschnittlichen Europäer von Amerikanisierung schwer zu unterscheiden - löst nur wenig Bitternis aus bei jenen, die früher üblicherweise Speerspitzen der Opposition gegen die Einkesselung durch die "vulgäre" und "materialistische" amerikanische Kultur gebildet haben. Am linken Rand ist einiger Hass zu verspüren, der sich zuweilen in Gewalt gegen McDonald′s entlädt - doch die Ideologen dieser Bewegung wie der berühmte José Bové erklären einem dann, dass es in Wirklichkeit nicht McDonald′s ist, was sie hassen, auch nicht die Nation, die McDonald′s zufällig hervorgebracht hat. Le Monde, die traditionelle Heimstatt schnoddriger europäischer Überlegenheit, veröffentlicht inzwischen eine wöchentliche Beilage der New York Times - auf Englisch. Frachon erklärt mir: "Sie finden Amerika in jedem Ressort unserer Zeitung. Musik, Filme, Mode, Fernsehen. Amerika ist jeden Tag dabei. Das irritiert uns manchmal, aber zugleich sind wir Süchtige. Wir kämpfen gegen die Verdrängung der französischen Sprache durch Englisch - aber The Sopranos will ich nicht verpassen.

"Serge Halimi von Le Monde Diplomatique erläutert: "Wir in Europa reden davon, den Vereinigten Staaten und ihrem Marktfundamentalismus zu widerstehen. Dann sagen wir, der beste Wege zu diesem Ziel besteht darin, ein starkes Europa aufzubauen. Und dann machen wir was? Wir errichten einen gemeinsamen Markt, der mit Amerika wettbewerbsfähig sein soll! Einen Markt, der im Prozess seines Aufbaus alles zerstört, was unsere europäischen Modelle auf nationaler Ebene ausgemacht hat. Um mit den Vereinigten Staaten konkurrieren zu können, werden wir so wie die Vereinigten Staaten - als ob die Alternative zu General Motors darin bestünde, einen neuen Ford zu bauen."

World, it′s our way or the highway!

In Deutschland besitzen die Grünen Macht und Einfluss. Trotzdem ist die amerikanisch gelenkte Globalisierung hier so gut wie überhaupt kein Thema. Ein grüner Mitarbeiter des Bundestages erklärt mir: "Wir nehmen McDonald′s, Starbucks und Hollywood nicht einmal mehr als amerikanisch wahr. Das sind Weltunternehmen, die sind größer als jedes Land." Auch was den Gedanken der "Bewahrung" der eigenen Kultur angeht, liegt zwischen den Deutschen und den Franzosen ein himmelweiter Unterschied. Hier hat die Katastrophe des Nationalsozialismus ihre Wirkung getan. "Wir glauben nicht, dass die deutsche Kultur etwas ist, das vor äußeren Einflüssen geschützt werden müsste", sagt mir ein Beobachter.

Insgesamt ist der angebliche Ausbruch eines neuen Antiamerikanismus in Europa eine Art journalistisches Trugbild. Trotzdem ist nicht ausgeschlossen, dass die tatsächlichen Unterschiede in den Weltsichten der Eliten in Europa und in den Vereinigten Staaten noch für so viel Reibungshitze sorgen werden, dass es zur Explosion kommt. Die Globalisierung von Wirtschafts-, Umwelt- und Sicherheitsfragen macht es den Europäern immer schwerer, ihr sozialstaatliches Modell gegen den Versuch der Vereinigten Staaten zu verteidigen, dem Rest der Welt das amerikanische Modell aufzunötigen. In ihrer ungeheuer umstrittenen neuen Nationalen Sicherheitsstrategie hat die Regierung Bush verkündet, die Vereinigten Staaten stünden für "ein einziges nachhaltiges nationales Erfolgsmodell: Freiheit, Demokratie und freie Wirtschaft". Mit anderen Worten: World, it′s our way or the highway!

Was den völligen euro-amerikanischen Bruch in der Irakfrage bislang verhindert hat, war nicht der Respekt der Regierung Bush für ihre Allierten, sondern die Angst vor den Reaktionen im eigenen Land. Sehr wahrscheinlich gab es nur einen einzige Grund dafür, dass die Regierung Bush vor dem Entschluss zum Angriff auf den Irak überhaupt den UN-Sicherheitsrat bemühte: Alle Umfragen belegten, dass die amerikanische Öffentlichkeit nur einem von den Vereinigten Staaten mandatierten Vorgehen zustimmen würden. Der Untersuchung des German Marshall Fund zufolge meinten im vergangenen Herbst weit über 60 Prozent der Amerikaner, dass ein amerikanischer Angriff auf den Irak nur mit Rückendeckung der UN gerechtfertigt sei. Und 61 Prozent glaubten, die wichtigste Lektion des 11. September bestehe darin, im Kampf gegen den Terrorismus die enge Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu suchen. Die Mannschaft des Präsidenten bekam die vollständigen Ergebnisse dieser Umfrage zwei Tage vor Bushs Rede in den Vereinten Nationen vorgelegt - und änderte ihre Taktik entsprechend. Es kann als nahezu sicher gelten, dass die Administration jedenfalls nicht französischen oder russischen Forderungen nachgab, die Integrität des Sicherheitsrates zu wahren - die meisten ihrer Regierungsmitglieder geben sehr klar zu verstehen, dass sie diese Institution am liebsten ganz verschwinden sehen würden.


Aber selbst das ist eine komplizierte Angelegenheit. Vermutlich weiß George W. Bush so gut wie jeder Präsident vor ihm, dass sich die Amerikaner, unabhängig von ihrer Meinung zuvor, im Kriegsfall zumindest so lange hinter den Präsidenten stellen, bis etwas schief läuft. Im Fall des Irak wollte die Regierung Bush aber kein Risiko eingehen. Krieg ist ein ganz besonderes Thema. In den Fällen von Kyoto-Protokoll und Strafgerichtshof, bei den ABM- und CBW-Verträgen zeigte die Regierung Bush den Europäern (und dem Rest der Welt) die lange Nase - und brauchte keine kritischen Reaktionen in der amerikanischen Öffentlichkeit zu befürchten, obwohl die Amerikaner in ihrer Mehrheit die meisten dieser Konventionen und Verträge befürworten. Die traurige Tatsache ist: Den Amerikanern ist die Außenpolitik einfach nicht so wichtig, dass sie den Eliten ihre Ansichten unmissverständlich mitteilen würden - und die Eliten sehen nicht den geringsten Anlass, an diesem Zustand etwas zu ändern. Der amerikanischen Bevölkerung mögen Erderwärmung, internationale Zusammenarbeit und multilaterale Interventionen mehr am Herz liegen als Bush, Cheney, Wolfowitz, Rumsfeld und Perle - nur hängen die Wahlentscheidungen der Amerikaner eben nicht von diesen Themen ab. Und deshalb kommt es, wahlpolitisch gesehen, auf diese Fragen politisch schlechterdings nicht an.


Alessandro Martelli ist Professor für amerikanische Literatur an der Universität Rom. Er meint, viele Europäer hätten nach dem 11. September darauf gehofft, dass die Amerikaner angesichts ihrer eigenen tragischen Erfahrung irgendein Mitgefühl für das Leid der übrigen Welt entwickeln würden. "Genau das kann man auf der Platte The Rising hören", sagt der Springsteen-Experte Martelli. "Da blickt Bruce mutig und klug über die Grenzen Amerikas hinaus. Aber statt Bruce haben wir Bush. Und was dominiert, ist eine Rhetorik, die das amerikanische Leiden für singulär erklärt."In ähnlicher Weise hofften die Europäer darauf, dass der Krieg in Afghanistan die Regierung Bush zu mehr Multilateralismus veranlassen werde. Auch hier scheint aber das genaue Gegenteil eingetreten zu sein. Jacques Rupnik charakterisiert die amerikanische Attitüde so: "Wir entscheiden, was gut ist, und wir entscheiden, was böse ist. Wenn die Europäer uns folgen: schön. Wenn nicht: ihr Problem."

"Irgendwann sind wir vielleicht die einzigen, die übrig sind."

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