Vielfalt ist das Narrativ der Progressiven

Wenn Vorbehalte gegen Eingewanderte und Einwanderung laut werden, gehen Progressive nicht selten in Deckung. Das ist ein großer Fehler. Denn sowohl progressive Prinzipien als auch Pragmatismus und ökonomische Vernunft sprechen dafür, Einwanderung und Vielfalt ohne Wenn und Aber zu unterstützen

I n ganz Europa nehmen die Vorbehalte gegen Einwanderung und Vielfalt zu. Menschen aus anderen Ländern oder mit ausländisch klingenden Namen werden für alle möglichen Missstände verantwortlich gemacht. Angeblich nehmen sie unsere Arbeitsplätze weg, leben auf Kosten des Sozialstaats, sind Kriminelle und integrieren sich nicht. Solche Vorurteile fallen angesichts der Wirtschaftskrise auf immer fruchtbareren Boden, zumal einige Medien gefährliche nationalistische Ressentiments bedienen. In dieser Situation meiden Progressive das Thema Einwanderung, bisweilen bedienen sie sogar selbst fremdenfeindliche Ansichten. Das ist ein großer Fehler. Denn sowohl progressive Prinzipien, als auch Pragmatismus und ökonomische Vernunft sprechen dafür, Einwanderung und Vielfalt politisch zu unterstützen. Parallel dazu brauchen wir mutige politische Maßnahmen, damit jeder Einwohner Europas das Beste aus seinen Talenten machen kann. Diese Politik gilt es in ein positives Narrativ einzubetten, das der bunten Realität der europäischen Gesellschaften im 21. Jahrhundert entspricht.

Viele vermeintlich Progressive glauben allerdings, ihre Parteien müssten in der Einwanderungspolitik einen strikteren Kurs einschlagen, um konservative Wähler zurückzugewinnen, die von populistischen Rechtsaußen-Parteien verführt zu werden drohen. Zweifellos müssen Progressive auf die Ängste und Sorgen unzufriedener Wählergruppen eingehen. Jedoch ist es nicht nur moralisch falsch, sondern auch wahlstrategisch kontraproduktiv, sich die Argumente rechter Parteien zu eigen zu machen und deren Sprache zu übernehmen. Denn Menschen mit Einwandererbiografien sowie die linksliberalen Mittelschichten machen einen wachsenden Anteil der progressiven Wählerschaft aus. Beide Gruppen haben tendenziell eine positive Einstellung gegenüber Vielfalt. Einwanderungskritische Botschaften schrecken sie daher eher ab.

Neben moralischen Prinzipien und wahlstrategischen Erwägungen gibt es zudem wichtige ökonomische Argumente für eine positive Einstellung zu Einwanderung und Vielfalt. Das ist besonders wichtig, denn die Bürger sind offener für den kulturellen Wandel, wenn sie glauben, davon zu profitieren. Tatsache ist: Die europäischen Gesellschaften altern unaufhaltsam. Im kommenden Jahrzehnt wird sich die Erwerbsbevölkerung in Westeuropa durchschnittlich um etwa 0,3 Prozent pro Jahr verringern – in einigen Ländern, vor allem in Deutschland noch mehr. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit erscheint ein Rückgang des Arbeitskräfteangebots auf den ersten Blick vielleicht nicht als Problem. Aber wenn wir nichts unternehmen, werden die alternde Bevölkerung und die schrumpfende Arbeitnehmerschaft zu dauerhaft niedrigerem Wirtschaftswachstum führen. Das bedeutet weniger Mittel, um die Renten, die Gesundheitsversorgung und die sozialen Dienste für die wachsende Anzahl älterer Menschen zu bezahlen, den gesamten Sozialstaat zu finanzieren und die hohen staatlichen Schulden zu bedienen.

Zuwanderung schafft Wachstum und Dynamik

Gewiss kann Zuwanderung allein die Auswirkungen des demografischen Wandels nicht auffangen. Aber sie kann dabei helfen, sich den neuen Bedingungen anzupassen. So können Einwanderer einen wichtigen Beitrag leisten, wenn es um die Finanzierung der Babyboomer geht, die sich in den nächsten 20 Jahren zur Ruhe setzen werden – und die den jüngeren Generationen enorme Schulden und andere Verpflichtungen hinterlassen. Bereits heute sind junge, im Ausland ausgebildete Einwanderer im Hinblick auf die öffentlichen Finanzen Nettozahler.

Hinzu kommt: Einwanderer arbeiten überproportional im Pflege-, Gesundheits- und Sozialwesen. Sie üben Tätigkeiten aus, die viele Westeuropäer nicht übernehmen wollen. Dabei werden diese Jobs in den kommenden Jahrzehnten zunehmen. Den Vereinten Nationen zufolge wird der Anteil der Europäer über 60 Jahre an der Gesamtbevölkerung von 21 Prozent im Jahre 2006 auf 34 Prozent im Jahre 2050 ansteigen; der Anteil der über 80-Jährigen schnellt im gleichen Zeitraum von 3,8 auf 9,5 Prozent in die Höhe. Schon im vergangenen Jahrzehnt fand der größte Beschäftigungszuwachs nicht in der High-Tech-Branche statt, sondern in der Altenpflege.

Außerdem kann Migration das Wachstum fördern, indem es die Volkswirtschaften Europas flexibler macht, wie die jüngsten Erfahrungen mit der (meist temporären) Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten in die EU-15 zeigen. Besonders innerhalb der Eurozone ist eine größere Mobilität der Arbeitskräfte ein wichtiges Element des wirtschaftlichen Anpassungsprozesses.

All das ist den europäischen Entscheidungsträgern längst bekannt. Was fehlt, ist die Einsicht, dass Einwanderung mehr Diversität und Dynamik mit sich bringt und deshalb ein Motor für Innovation, Unternehmertum und Produktivität sein kann – und damit auch für Wirtschaftswachstum. Die unterschiedlichen Sichtweisen, Erfahrungen und der unbändige Wille zum Erfolg, den ausländische Arbeitnehmer mitbringen, tragen dazu bei, diejenigen neuen Ideen und Unternehmen hervorzubringen, von denen unser künftiger Wohlstand abhängt.

Studien belegen, dass Einwanderer mehr Unternehmergeist besitzen als die einheimische Bevölkerung. In Großbritannien gründen Migranten mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit ein Unternehmen wie gebürtige Engländer. Auch lehrt die Geschichte, dass außergewöhnliche Menschen, die brillante Ideen haben, sehr häufig Migranten sind. Anstatt konventionelle Wege zu beschreiten, haben sie häufig einen anderen Blick auf die Dinge. 70 der insgesamt 300 amerikanischen Nobelpreisträger seit 1901 wurden im Ausland geboren; von den 117 britischen Nobelpreisträgern waren es 25. Der gesellschaftliche Beitrag von Migranten kann riesengroß sein – aber er ist vollkommen unvorhersehbar. Niemand hätte voraussagen können, dass das sowjetische Flüchtlingskind Sergey Brin eines Tages Google gründen würde. Und wäre ihm der Zutritt ins Land verweigert worden, hätte Amerika die verpasste Chance niemals realisiert. Wie viele potenzielle Sergey Brins schreckt Europa ab oder schickt sie wieder nach Hause – und zu welchem Preis?

Vielfalt hat dann den größten Nutzen, wenn Einwanderer und Einheimische zusammenarbeiten. Die meisten Innovationen entstehen in Gruppen, in denen sich talentierte Menschen gegenseitig inspirieren – und Menschen aus anderen Ländern neue Ideen, Perspektiven und Erfahrungen mit einbringen. Wenn zehn Mitarbeiter, die alle gleich denken, ein Problem lösen sollen, dann sind ihre zehn Köpfe kaum besser als einer (so begabt sie auch sein mögen). Wenn hingegen alle Beteiligten unterschiedliche Denkweisen haben und ihre Ideen hin- und herspielen, kommen sie schneller zu besseren Lösungen. Es spricht für sich, dass im vergangenen Jahrzehnt mehr als die Hälfte aller Start-up-Unternehmen in Silicon Valley Einwanderer als CEOs oder technische Leiter hatten. Google, Yahoo!, eBay, YouTube – sie alle wurden von Leuten mit gegründet, die als Kinder in die Vereinigten Staaten gekommen waren. Wenn es Europa mit seinem Programm „Europa 2020“ wirklich ernst meint und ein europäisches Silicon Valley schaffen will, dann muss sich der alte Kontinent der übrigen Welt öffnen.

Doch die große Frage lautet: Wie lässt sich das enorme Potenzial vielfältiger Gesellschaften am besten ausschöpfen? Kein Zweifel: Das Zusammenleben zu lernen kann hart sein. Im Laufe ihrer Geschichte haben europäische Gesellschaften stets darum gerungen, wie verschiedene Individuen frei, friedlich und produktiv miteinander leben können und jeder seinen Platz in der Gesellschaft findet. Die beste Lösung, die wir bisher dafür gefunden haben, ist die moderne, liberale Demokratie, in der Unterschiede innerhalb eines rechtsstaatlichen Rahmens toleriert werden, demokratische Institutionen Konflikte mithilfe politischer Verhandlungen zu lösen helfen und Rechtsstaatlichkeit für alle Bürger gleichermaßen gilt.

In diesem Kontext wird immer wieder die jahrhundertealte Frage gestellt, wie viel Intoleranz liberale Gesellschaften tolerieren können – gerade so, als würde dieses Problem nur unter Einwanderern auftreten. Was passiert, wenn die Hinzugezogenen unsere „europäischen“ Werte nicht annehmen? In Wirklichkeit sind liberale Werte gar nicht exklusiv europäisch. Sondern sie werden auch von vielen Nichteuropäern geteilt – sowie von manchen Europäern abgelehnt. Zudem gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen illiberalen Ansichten und illiberalem Verhalten. Niemand kann gezwungen werden, an liberale Werte zu glauben. Aber wir können von jedem verlangen, sich an die geltenden Gesetze zu halten. Auch wer nicht glaubt, dass Männer und Frauen gleich sind, hat beide gleich zu behandeln.

Auf der anderen Seite muss Andersartigkeit erlaubt sein. Wer anders ist, sollte sich trotzdem zugehörig fühlen. Dennoch bestehen viele Einheimische darauf, dass die Einwanderer sich „integrieren“ müssten – eines dieser gefährlichen Wörter, die für unterschiedliche Leute unterschiedliche Dinge bedeuten. Wenn mit „Integration“ tatsächlich gemeint ist, dass die Einwanderer so werden sollen wie wir, dann frage ich zurück: „Und wie genau?“ Sollen sie sich Joschka Fischer, Angela Merkel oder Papst Benedikt zum Vorbild nehmen? Der Begriff der „Integration“ trennt unsinnigerweise zwischen „denen“ und „uns“. Doch eine Gesellschaft ist kein monolithisches Ganzes, ebenso wenig wie die Population der Einwanderer selbst. Die Bürger fühlen sich seit der Liberalisierung der sechziger Jahre freier, ihre individuellen Unterschiede auszudrücken. Und sie sind vernetzter mit anderen Orten als jemals zuvor. Stichworte hierzu lauten europäische Integration, Facebook, Erasmus oder „internationale Küche“. Es gibt nicht die eine Art, britisch oder deutsch zu sein. Richtigerweise hat Amartya Sen darauf hingewiesen, dass jeder Einzelne von uns zunehmend mehrere und einander überlappende Identitäten besitzt.

Vielfalt ist ein Wert an sich

Integration bedeutet, vollständig an der Gesellschaft teilhaben zu können – was nur möglich ist, wenn sie dich als ihr Mitglied akzeptiert. Dabei geht es um die Wirtschaft: Einwanderer brauchen Zugänge zum Arbeitsmarkt und zu Dienstleistungen. Und es geht um Kultur: Wir müssen Neuankömmlingen helfen, die Sprache zu lernen; wir müssen das Bewusstsein für potenzielle Konflikte stärken; wir müssen jeden – nicht nur Einwanderer – über unsere Gesetze und das politische System aufklären. Hingegen sind willkürliche Einbürgerungstests, die selbst viele Einheimische nicht bestehen würden, absurd und diskriminierend.

Um das volle Potenzial von Vielfalt auszuschöpfen, müssen verschiedenartige Menschen ermuntert werden, sich zu vermischen – in der Schule, bei der Arbeit, auf der Straße. Die Menschen müssen miteinander kommunizieren und offen sein für Neues. Wir brauchen nicht nur Lippenbekenntnisse zur Vielfalt, sondern wirkliche Wertschätzung gesellschaftlicher Diversität. Warum betrachten wir Vielfalt nicht als Wert an sich, anstatt Menschen unterschiedlicher Herkunft eine erdrückende und künstliche Uniformität überzustülpen?

Auf der praktischen Ebene sollten Unternehmen und Organisationen bestrebt sein, möglichst verschiedenartige Arbeitnehmer einzustellen. Die Gesellschaft muss Einwanderern das Gefühl geben, willkommen zu sein. Und die Regierungen müssen allen Einwohnern helfen, ihre Talente auszuschöpfen: Sie sollten in Bildung und Weiterbildung investieren, Barrieren auf dem Arbeitsmarkt und bei der Firmengründung abbauen, Diskriminierung stärker bekämpfen sowie Chancengleichheit und soziale Mobilität fördern. Wichtig sind Arbeitsmarktreformen, die Sicherheit mit Beschäftigungsfähigkeit und Aufstiegschancen verbinden. Nicht zuletzt müssen Regierungen, Unternehmen und Organisationen darauf ausgerichtet werden, Innovationen und Unternehmergeist zu fördern und in neue Ideen zu investieren.

Das sind große Reformen, die jeweils eine kulturelle, soziale und ökonomische Dimension besitzen. Sie zielen darauf ab, Einstellungen und Handlungsweisen zu verändern. Und sie gehen über das Minimum dessen hinaus, was für die Koexistenz in der Gesellschaft notwendig ist. Diese Reformen unterscheiden sich dadurch von traditionellen „multikulturellen“ politischen Maßnahmen, dass sie alle Bürger gleich behandeln: Keine einzelne Gruppe genießt eine Sonderstellung, die Menschen werden nicht in Schubladen gesteckt. Vielmehr wird sichergestellt, dass alle Einwohner am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Somit unterscheiden sich solche Reformen auch von integrationspolitischen Maßnahmen, die Einwanderern größere Anstrengungen abverlangen als anderen Mitgliedern der Gesellschaft.

Diesen positiven Ansatz gegenüber Vielfalt und Einwanderung sollten Progressive ohne Wenn und Aber vertreten. Er entspricht unseren Werten, er stimmt mit der Wirklichkeit unserer modernen europäischen Gesellschaften überein – und er ist ein Vehikel für einen wirtschaftlichen Fortschritt, der allen Menschen zugutekommt. Auf diese Weise kann die Vielfalt unserer Gesellschaften eine Quelle der Stärke sein und nicht der Schwäche, ein Grund dazuzugehören und kein Vorwand dafür, Menschen auszugrenzen. Wir sollten uns die Vielfalt zu eigen machen, statt sie zu leugnen.

Aus dem Englischen von Fabian Heppe, Michael Miebach und Marius Mühlhausen

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