Vitalisiert die Demokratie!
Vor rund zehn Jahren veröffentlichte die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ unter Leitung der SPD ihren Bericht. Zuvor hatte in der Debatte ein eher konservatives Verständnis vom „Ehrenamt“ und seiner Bedeutung als sozialer Kitt der Gesellschaft geherrscht. Dann sprach die Enquete-Kommission von „bürgerschaftlichem Engagement“ und lenkte den Blick auf die demokratiepolitische Dimension des Engagements. Das Leitbild der Kommission lautete: Die Bürgergesellschaft beschreibt ein Gemeinwesen, in dem die Bürgerinnen und Bürger durch das Engagement in selbstorganisierten Vereinigungen und durch Beteiligungsmöglichkeiten die Geschicke des Gemeinwesens wesentlich prägen können. Dieses Leitbild hat nichts von seiner Aktualität verloren, im Gegenteil: Nun ist die Zeit für eine beteiligungsoffene, demokratische Gesellschaft gekommen, die sich durch Partizipationschancen auch wieder stärker mit der Demokratie identifiziert.
Die Etablierung des Politikfeldes „Engagement“ ist das Ergebnis einer Entwicklung, die sich leider als nicht unumkehrbar erwiesen hat: Die so genannte „Nationale Engagementstrategie“ der Bundesregierung von 2010 und ihre Corporate-Social-Responsibility-Strategie befassen sich zwar mit diesem Thema, machen aber deutlich, dass die Konservativen letztlich mit beiden Vorhaben vor allem Symbolpolitik betreiben. Ihnen geht es darum, sich mit den Aktivitäten von 23 Millionen Engagierten zu schmücken. Echte Partizipation ist nicht gewünscht. Und Engagement wird vor allem als Lückenbüßer für die knappen Ressourcen des Sozialstaats instrumentalisiert.
Damit dreht die schwarz-gelbe Bundesregierung die Uhren zurück. Bei schwindenden Handlungsspielräumen agiert sie paradoxerweise mit Verrechtlichung und einer Top-down-Mentalität, mit Verwaltungsarroganz, ohne mit den Akteuren im Feld in einen Dialog einzutreten. Deren Know-how und Ressourcen werden weitgehend ignoriert. Diese Verstaatlichung von Engagement verhindert dialogorientierte Gestaltungsstrategien der Zivilgesellschaft. Vereinnahmung und Entpolitisierung des bürgerschaftlichen Engagements sind die Folge.
Zivilgesellschaftliches Handeln basiert auf den Prinzipien Autonomie, Selbstorganisation und Gemeinwohlorientierung. Vielleicht entsprechen die EU-geförderten, dem Bottom-up-Prinzip verpflichteten Modelle von „local governance“ und territorialen Entwicklungspakten am ehesten den partizipatorischen Trends in Deutschland. Mehr und mehr entsprechen sie auch dem Handeln moderner Unternehmen, die sich zunehmend selbst als „Corporate Citizens“, als verantwortliche Akteure im Gemeinwesen verstehen. Die SPD sollte diese Trends aufnehmen und verstärken.
Selbstorganisation, Entscheidungskompetenz, persönliche und moralische Betroffenheit und Handlungsautonomie sind die wichtigsten Beweggründe für freiwilliges Engagement. Die partizipationsorientierten neuen Motive für zivilgesellschaftliches Handeln haben es in den etablierten Organisationen, Parteien und Verbänden derzeit allerdings schwer. Als Reaktion darauf werden von Engagierten häufig neue Formen der Selbstorganisation praktiziert, etwa in Spendenportalen, Internetforen und lokalen sozialen Netzwerken. Es könnte auch zu einer Machtfrage werden, ob diese Impulse aus der Zivilgesellschaft gestärkt und ob beziehungsweise von wem moderne Formen des Engagements unterstützt werden in Zeiten, in denen Engagement immer häufiger ohne Mitgliederausweis stattfindet.
Partizipation schafft Identifikation
Vor diesem Hintergrund sehen wir vor allem drei Baustellen, die eines neuen politischen Fundaments bedürfen:
Partizipation und Demokratieentwicklung: Von einer nachhaltigen Entwicklung des Engagements, einer partizipativen Fortentwicklung der repräsentativen Demokratie und einem „neuen Gesellschaftsvertrag“ für ein kooperativ-partnerschaftliches Miteinander der Akteure aus Bürgergesellschaft, Staat/Kommunen und Wirtschaft sind wir noch weit entfernt. Dazu müssen wir mehr Partizipation wagen. Politische Partizipation ist eng verbunden mit den Motiven der Gestaltung und Veränderung der Gesellschaft durch bürgerschaftliches Engagement. Sich für das Gemeinwesen engagieren und an dessen Gestaltung mitwirken zu können, fördert nachweisbar die Identifikation mit der Demokratie. Bildungsferne und ausgegrenzte Teile der Gesellschaft müssen zu Engagement befähigt und ermutigt werden. Daher muss die Fortentwicklung der Partizipation eng verbunden sein mit der Förderung des Engagements und seiner Rahmenbedingungen.
Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen: Das Kräfteverhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren tiefgreifend verändert. Im Zuge dieser Veränderungen bilden sich neue Formen der Arbeits- und Verantwortungsteilung heraus. Die Unternehmen können sich nicht mehr auf ihre klassische Rolle als Marktakteur beschränken, sondern müssen zunehmend Mitverantwortung für gesellschaftliche, ökologische und soziale Probleme übernehmen. Neben das freiwillige gesellschaftliche Engagement von Unternehmen auf Gebieten wie Bildung, Kultur oder Gesundheit treten Herausforderungen wie Klimawandel, die Energiewende, Integration oder die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und bürgerschaftlichem Engagement. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das Prinzip der Freiwilligkeit im freien Spiel der Marktkräfte nur begrenzt geeignet ist, um Unternehmen zur gesellschaftlichen Mitverantwortung zu bewegen.
Aufgabe gestaltender Politik wird es sein, im Dialog mit Gesellschaft und Wirtschaft verbindliche Vorgaben für soziale und ökologische Ziele zu formulieren und die Sphäre des Marktes überall dort zu begrenzen, wo dies im gesellschaftlichen Interesse liegt. Zum Beispiel wird es darum gehen, gegen weitere Privatisierungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und gegen die Macht der Finanzmärkte einzutreten. Gleichzeitig sind Unternehmen als Partner der Bürgergesellschaft immer wichtiger geworden. Politik muss für Rahmenbedingungen sorgen – Steuerrecht, Gemeinnützigkeitsrecht, Haftungsrecht –, die die Handlungsmöglichkeiten für Partnerschaften zwischen Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen und anderen nicht gewinnorientierten Körperschaften (insbesondere Kommunen) verbessern. Sinnvoll sind zudem Anreize für die Wirtschaft, Bürgerinnen und Bürger in die Prozesse von Meinungsbildung und Entscheidungsfindung einzubinden, etwa bei großen Infrastrukturinvestitionen. Dazu gehören auch Transparenz und Information als Grundvoraussetzung für Partizipation.
Inklusion durch Engagement
Solidarische Bürgergesellschaft: In einer zunehmend von sozialer Spaltung geprägten Gesellschaft wächst die Bedeutung der Integrations- und Inklusionskraft des Engagements. Gerade die von sozialer Ungleichheit besonders betroffenen Gruppen verabschieden sich zunehmend von der Demokratie, oft auch deshalb, weil ihnen die Zugänge zu Partizipation und Engagement in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld fehlen. Angesichts fragiler und komplizierter werdender Übergänge zwischen Erwerbsarbeit, Familie und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten drohen viele Menschen für Engagement und Partizipation verloren zu gehen. Die Politik wird sich wieder mehr darum kümmern müssen, reale Mitwirkungsmöglichkeiten zu schaffen und Zugänge zum Mitwirken in einer solidarischen Bürgergesellschaft zu erleichtern. Dazu sollten einige institutionelle Leitplanken für eine politische Engagementstrategie aufgestellt werden:
Erstens bedarf die Entwicklung guter Rahmenbedingungen für Engagement und Partizipation in besonderem Maße der systematischen Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern und der organisierten Zivilgesellschaft. In einem solchen strategischen Diskurs müssen die drängendsten Themen behandelt werden. Exemplarisch seien hier nur drei genannt: die nachhaltige engagementfördernde Infrastruktur verbunden mit der Aufhebung des Kooperationsverbotes zwischen Bund, Ländern und Kommunen auf dem Gebiet des Engagements; die einheitliche Struktur und Neuordnung der Freiwilligendienste und eine den zivilgesellschaftlichen Prinzipien verpflichtete Aufgabenentwicklung des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben; die Entwicklung von Lösungen für gute Übergänge und Abgrenzungen zwischen Erwerbsarbeit und Engagement.
Zweitens sollte der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission zum Thema „Vitalisierung der Demokratie“ einberufen. Sie böte die Möglichkeit einer inhaltlich differenzierten Entwicklung des Themas in der Tradition von „mehr Demokratie wagen“. Die Bedeutung demokratiepolitischer Ergänzungen der repräsentativen Demokratie wächst. Es bedarf eines engen Meinungsaustauschs mit den Akteuren der organisierten Zivilgesellschaft. Die Kommission könnte auch neue Wege bei der Beteiligung außerhalb des Parlaments gehen. Außerdem sollte sie Vorschläge für ein nationales Engagementgesetz und – damit verbunden – einen nationalen Engagementförderplan entwickeln.
Drittens sollten sich Staat und Wirtschaft in gemeinsamer Verantwortung zur Einrichtung eines gemeinsamen Stiftungsfonds entschließen. Dieser gewährleistet eine nachhaltige und interessenunabhängige Unterstützung der Infrastruktur für Engagement und Partizipation. Die Stiftung wäre damit auch Entwicklungslabor für gesellschaftliche Innovationen, die Zivilgesellschaft und Demokratie stärken. Damit könnte auch die Grundlage für ein gezieltes strategisches Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft im Sinne eines neuen Gesellschaftsvertrages gelegt werden, um den gesellschaftlichen Herausforderungen – demografischer Wandel, Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Engagement, Bildung, Gesundheit, Energiewende – gemeinsam besser begegnen zu können.