Vom Vater Staat zum Partner Staat
Was der Staat leisten soll, kann und muss und was Bürgerinnen und Bürger eigenverantwortlich entscheiden können, dürfen und sollen, sind Leitfragen zur Diskussion um unser Staatsverständnis. Weil sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber ihrem Staat im Laufe der Jahre deutlich verändert hat, ist die Diskussion um unser Staatsverständnis ein wesentlicher Teil der Grundsatzprogrammdebatte der SPD.
Das Völkerrecht hat weitgehend geklärt, was "Staat" bedeutet. Ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt müssen vorhanden sein.
Das Verständnis von den Aufgaben eines jeweiligen Staates, die Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger an ihn, seine Verpflichtungen, aber auch die Verpflichtungen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat sind allerdings nicht durch Definition über das Völkerrecht zu klären. Jedes Staatsvolk prägt in seinem Staat zusammen mit der Staatsgewalt sein jeweils eigenes Staatsverständnis.
Bei vielen alltäglichen Handlungen begegnen uns Anforderungen des Staates, erhalten wir Leistungen oder werden auf Verpflichtungen aufmerksam gemacht. Für ein positives Verhältnis zum Staat ist es notwendig, dass staatliches Handeln gerade dort, wo es uns im Alltag begegnet, verstanden und akzeptiert wird. Entsprechend hat sich das Staatsverständnis der Bürgerinnen und Bürger auch bei uns verändert. Der Staat wird heute nur noch von sehr wenigen als Obrigkeit empfunden, der es zu folgen gilt. Er wird zugleich auch nicht mehr als "Gegner" gesehen, dessen Gewaltmonopol es zu bekämpfen gilt. Vielmehr haben Bürgerinnen und Bürger ein neues Selbstbewusstsein gegenüber ihrem Staat entwickelt. Sie fordern Unterstützung und Hilfe, gleichzeitig aber in vielen Bereichen mehr Freiheit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung.
Die Bevölkerung weiß: ohne Bürgerinnen und Bürger gibt es keinen Staat, und ohne Steuergelder keine staatlichen Leistungen. Daraus resultiert die Erwartung, dass der Staat für seine Bürger da zu sein hat und nicht umgekehrt.
Trotz dieser veränderten Grundeinstellung und einem gewachsenen Selbstbewusstsein fühlen wir uns häufig den staatlichen Institutionen und ihrer Bürokratie ziemlich hilflos ausgeliefert. Viele Vorschriften werden nicht als Schutz für den Einzelnen und die Gemeinschaft empfunden, sondern als Behinderung der persönlichen oder beruflichen Entfaltung. Es ist Ziel der Diskussion um unser neues Verständnis vom Staat und seinen Aufgaben, diesen Widerspruch aufzulösen. Wir müssen uns neu darüber verständigen, wer welche Aufgaben zu erfüllen hat.
Die Freiheit des Einzelnen ist nur in der Gemeinschaft möglich, und die Wahrnehmung elementarer Freiheitsrechte endet dort, wo sie anderen Menschen schadet. Aber verantwortlich handelnde Bürgerinnen und Bürger können mit größeren Freiheiten umgehen, ohne dass dies der Gemeinschaft schadet. Im Gegenteil, ihr Engagement stärkt die Gemeinschaft, wenn es zugelassen wird.
Dabei bleibt nach sozialdemokratischem Verständnis der Schutz und die Aufrechterhaltung der Solidargemeinschaft eine staatliche Kernaufgabe. Der Staat gibt in Form von Recht und Gesetz den demokratisch beschlossenen Rahmen vor und muss seine Einhaltung überwachen. Dadurch sichert er gleichzeitig die Freiheit jedes Einzelnen. Dazu gehören auch und besonders die sozialen Sicherungs- und Solidarsysteme. Menschen zu unterstützen, die - verschuldet oder unverschuldet - in Not geraten sind, ist für uns eine wesentliche Verpflichtung. Hilfe und Unterstützung muss den Betroffenen aber primär ermöglichen, ihr Leben in Freiheit und Eigenständigkeit selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben. Eine dauerhafte Abhängigkeit von staatlichen Leistungen schafft abhängige Bürgerinnen und Bürger. Dies kann nicht unser Ziel sein.
Ziel ist vielmehr, dass uns der Staat als Partner gegenübertritt. Dies gilt für die Gewährleistung persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit und Eigenständigkeit, ebenso wie in bezug auf staatliche Leistungen. "Verantwortung" heißt daher ein Schlüsselbegriff für die Reform des Staates. In Bezug auf Bürgerinnen und Bürger heißt das, dass man ihnen mehr Verantwortung zutrauen muss.
Zum Beispiel durch konkrete Mitbestimmungs- und Abstimmungsrechte oder Beteiligung an Planungen. Das setzt voraus, dass staatliches Handeln durchschaubarer und nachvollziehbar wird. Es bedarf umfassender Informationsrechte für Bürgerinnen und Bürger, damit Entscheidungen der Verwaltung verstanden und wirksam kontrolliert werden können.
Verantwortung muss aber auch den "Dienern" des Staates zugetraut werden. Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Verwaltungen und Behörden partnerschaftlich mit Bürgerinnen und Bürgern umgehen sollen, dann brauchen sie entsprechende Freiräume, um eigenverantwortlich entscheiden zu können. Die obrigkeitsorientierte Organisationsform des Berufsbeamtentums - und auch viele Regelungen des daran angelehnten öffentlichen Dienstrechts - behindern diese Selbstverantwortung. Daher braucht es auch innerhalb von staatlichen Institutionen eine Befreiung von Detailregelungen und mehr Raum für Entscheidungen nach den Anforderungen in der Sache.
Staatliches Handeln muss nahe bei den Menschen und mit ihnen erfolgen. Das erfordert eine dezentrale Struktur und die strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Flache Hierarchien, Gestaltungsfreiheit und projektbezogenes Handeln gehören dazu. Der demokratische Rechtsstaat muss Rahmenregelungen vorgeben und auf freiheitliches Handeln behindernde, ohnmachterzeugende Detailregelungen verzichten.
Ein "Partner Staat" nimmt Bürgerinnen und Bürger ernst, lässt ihnen Freiheit, ermutigt zur Mitbestimmung und zur Aktivität für die Gemeinschaft. Der Partner Staat erfüllt Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger, aber er ist niemals auf die Rolle des Dienstleisters reduziert. Der Partner Staat setzt den Rahmen für das Zusammenleben in der Gemeinschaft und gestaltet die Solidargemeinschaft. Er ermöglicht Freiheiten und trägt gleichzeitig dafür Sorge, dass die Freiheit des Einzelnen nicht auf Kosten der Gemeinschaft ausgelebt wird.
Zum erneuerten Staatsverständnis gehört ebenso eine neue Verständigung über die Bedeutung unseres Rechtsstaates. Zu viele Widersprüche sind derzeit aktuell. Wir hatten in der SPD eine Mehrheit zur Einführung des Lauschangriffs und lockern damit den Schutz der Privatsphäre in der eigenen Wohnung. Gleichzeitig gibt es eine große Übereinstimmung, dass elektronische Kommunikation durch Möglichkeiten der Verschlüsselung (Kryptographie) gesichert werden muss, um unüberwachte Verständigung möglich zu machen.
Es gibt erregte Diskussionen, ob sich Menschen mit ihrer Einwilligung und gegen Bezahlung wochenlang filmen lassen dürfen und damit ihre Privatsphäre übers Fernsehen ganz und gar öffentlich wird. Und gleichzeitig fordern einige - auch aus den Reihen der Sozialdemokratie - die verstärkte Überwachung von öffentlichen Plätzen mit Videokameras. Eine Überwachung, bei der der Einzelne kein Geld verdient, aber vor allem auch seine Einwilligung gar nicht mehr möglich ist.
So zeigt sich an täglichen Entscheidungen, wie überfällig es ist, sich in der SPD neu auf Grundsätze staatlichen Handelns zu verständigen. Nur dadurch erreichen wir eine klare Linie, die Entscheidungen in Einzelfällen schlüssig und nachvollziehbar macht. Damit der Staat seine Bevölkerung als Partner ebenso akzeptiert, wie die Bürgerinnen und Bürger ihrerseits ihren Staat. Damit sich beide Seiten ihrer Rechte und Pflichten gegenseitig neu bewusst werden.