Vorsicht, Dino-Falle!
Munteres Treiben auf der Fanmeile zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. Bunt und schrill gekleidete Jugendliche aus allen Erdteilen flöten, trommeln und singen. Auf den riesigen Leinwänden wird gerade das Vorrundenspiel Spanien gegen Tunesien gezeigt. Es geht erstaunlich friedlich zu. Gegnerische Fans fallen einander um den Hals. Wir befinden uns mitten im Sommermärchen 2006 während der Fußball-WM in Deutschland. Plötzlich kreuzt ein begeisterter Genosse aus Wien meinen Weg. „So muss es auch 2013 bei Euch zugehen“, gerät er ins Schwärmen. „Warum 2013?“, frage ich zurück, „da ist doch gar keine WM.“ „Das nicht“, antwortet er, „aber es ist das Jahr der SPD“. Im Mai 2013 werde die Partei 150 Jahre alt, das Jubiläum sei eingerahmt von August Bebels 100. Todestag im August und Willy Brandts 100. Geburtstag im Dezember. „Da muss die Partei das ganze Jahr über ein Mordsspektakel veranstalten. Sommermärchen Teil II sozusagen, mit Public Viewing. Die Partei auf allen Kanälen – vom Kaiserreich bis zum Kniefall und von Wels bis Willy. Die SPD-Erzählung nonstop. Von Januar bis Dezember.“
»Tradition – das Beschwören derselben ist Ausdruck der fehlenden«
Triftige Gründe sprechen gegen ein SPD-Feierjahr im Allgemeinen und solcher Art erst recht. So scheint selbst bei einem angemessenen Geschichtsbewusstsein das Erbauungsgehabe um die 150 Jahre der SPD politisch mehr als problematisch. Schon von der Außenwirkung her. Wie wirkt das auf ganz normale, vor allem jüngere Menschen? Vermittelt die Partei dadurch nicht den fatalen Eindruck, als lebte sie am liebsten in ihrer angeblich so großen Vergangenheit? Alter ist noch kein Verdienst – auch bei Parteien nicht.
Das Dino-Gehabe eines Ältesten im Bund wirkt auf Jüngere kaum attraktiv, zumal wenn es sich dabei zum Teil noch in skurril bis gruftihaft wirkender Folklore darzustellen pflegt. Als jüngst der seit Jahren in der spielerischen Zweitklassigkeit herumdümpelnde Bundesliga-Älteste HSV sein Jubiläum beging, wurde man fast von Mitleid erfasst, als in Ermangelung aktueller Highlights zum x-ten Male Uwes Kopfbälle, Manni Kaltzens Bananenflanken oder Kevin Keegans Tore bestaunt werden sollten. Man fühlte sich dabei an SPD-Runden erinnert, wo von den sagenumwobenen Weltauftritten Willy Brandts und den Oberlehrereien des nationalen Vordenkers Helmut Schmidt geschwärmt wird.
Der triefende Traditionalismus in der SPD dünkt sich empathisch und ist es doch gerade nicht. Nur abgeschliffene sentimentale Routine, mehr nicht: „Tradition – das Beschwören derselben ist Ausdruck der fehlenden“, merkte der Komponist Gustav Mahler an. Sie lenkt nur von der tristen Gegenwart und ungewissen Zukunft ab.
Hohe runde Daten verleiten zu nostalgischen Blicken und geschönten Bilanzen. Selbst beim Übergang von der Bonner in die Berliner Republik zum Jahrhundertwechsel mochte man die Erfolgsgeschichten der alten Bundesrepublik nicht mehr hören. Wer sich heute wagt, die aalglatte Erfolgsstory nach vollmundiger Lesart von Guido Knopp in Frage zu stellen, gar wie der Kulturpublizist Wolfgang Herles 2009 den Finger auf nicht wieder gut zu machende Geburtsfehler richtet, der findet kaum Gehör oder gilt als neoliberaler Nestbeschmutzer und Festtagsstörer.
Auch die SPD ist im Rückblick mit sich weitgehend im Reinen. Sie schöpft aus den Erfahrungen kaum mehr etwas, an dem sie heute noch glaubt sich abarbeiten zu müssen, weil sie im Prinzip aus einer reichlich selbstgerechten Sicht heraus das Meiste richtig gemacht haben will. So dürfte man sich im Jubeljahr 2013 eines Sakrilegs schuldig machen, wenn man die Partei kritisch daran erinnert, dass sie nicht weniger als drei Zeitenwenden mit dramatischen Konsequenzen verpasst hat: 1918 vermasselte sie die Revolution, 1949 trat sie mit überkommener Subkultur auf den Plan einer neuen Republik, und an der Wende von 1989 glaubte sie sich rechthaberisch vorbeimogeln zu können.
Siegergeschichtliche Pose und sentimentale Trauerarbeit
Solche Jubeldaten dienen in der Regel der Mythen- und Legendenverbreitung, der wehmütigen Erinnerung an alte Illusionen und der Neuauflage von Rechthabereien. Gerade in der SPD besteht eine große Neigung zu dieser Art der Vergangenheitsaufarbeitung. Sie ist geprägt von zwei komplementären Haltungen, dem Hang zu einer siegergeschichtlichen Pose und zu einer sentimentalen Trauerarbeit über verpasste Chancen. Meist folgt auf die Trauerarbeit der siegergeschichtliche Trotz, es am Ende doch immer geschafft und von der Orientierung her richtig gelegen zu haben.
Die Sieger der Geschichte hätten nicht aufgehört zu siegen, heißt es beim jüdisch-messianisch denkenden Philosophen Walter Benjamin. Willy Brandt hat immer davor gewarnt, sich der Geschichte „wie eines Schlagstocks“ zu bedienen. Moralischer Hochmut, auf der richtigen Seite gekämpft zu haben, ist in der SPD üblich. Willy Brandt waren solche Anwandlungen eher fremd: „Mir war durchaus bewusst, dass ich mich als Angehöriger einer Bewegung, die versagt hatte, ins Exil begab … Wir ließen uns nicht ins Ungeheuerliche verstricken, doch im Laufe der Jahre wurde mir immer klarer, dass man auch als deutscher Antinazi keinen Grund hatte, sich auf ein hohes Ross zu setzen.“
Die gruselige Antifaschismus-Legende der Parteikommunisten ist ein klassisches siegergeschichtliches Muster, das den Holocaust aus der schlichten Systemlogik des dämonisierten Finanzkapitals nicht erklären kann, das Volk zum proletarischen Kollektiv unschuldiger Systemopfer stempelt und als historische Konsequenz aus den nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen ein Machtmonopol der Kommunisten ableitet.
Es hat aber auch in der SPD immer einen siegergeschichtlichen Reflex gegeben, wenn auch nicht mit der oben angedeuteten radikalen Konsequenz. Er speiste sich meist aus dem moralischen Überlegenheitsgefühl durch die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, einem programmatischen Platzhirschinstinkt und einem avantgardistisch angehauchten Politikanspruch, die „geistigen Arbeiter“, Intellektuelle und Künstler, auf ihrer Seite zu wissen und ihre innerparteiliche Diskussionskultur mit Repräsentativdiskursen für die Gesellschaft gleichzusetzen.
Gerade im Umgang mit der PDS beziehungsweise der Linkspartei leistete sich die SPD nach 1989 peinliche siegergeschichtliche Attitüden. Spätestens seit dem Mauerfall galten alle Vorstellungen von Sozialismus als historisch erledigt, moralisch wie ökonomisch. Dennoch legten rechthaberische Sozialdemokraten häufig genug die platte Mentalität des Gegners an den Tag, historisch gesiegt zu haben und deshalb nicht in der Pflicht zu stehen, sich des eigenen Sozialismus-Begriffs entledigen zu müssen. Überdies riefen manche zum Kampf um „linke Mythen“ auf, der nicht nur den „geraubten“ Begriff des „demokratischen Sozialismus“ betraf, sondern auch das Erbe Rosa Luxemburgs oder Lesarten über die SED-„Zwangsvereinigung“, den 17. Juni 1953, den Mauerbau 1961, die alte Ostpolitik und jenes SPD-SED-Streitpapier, dem noch jüngst zum 25. Jahrestag eine subversive Note nachgereicht wurde, die es wohl möglich machen soll, sich doch noch in die erste Reihe der Sieger von 1989 zu mischen.
Im Laufe der vergangenen Jahre nahm die Konkurrenz um linke Mythen seitens der SPD gegenüber der Linkspartei immer groteskere Züge an. So wurde 2007 aus der Parteizentrale der Ruf nach einer verstärkten Pflege von sozialdemokratischen Ehrenmälern auf dem Friedrichsfelder Friedhof in Berlin laut. Damit die nelkenschwingenden Wahlfälscher von einst im Januar nicht mehr allein ihren Ahnenkult um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg veranstalten sollten.
Jener Impuls der Geschichtsaneignung ließe sich nicht nur im Umgang mit der Linkspartei, sondern auch gegenüber Grünen und Linksliberalen bis in diese Tage nachweisen. So ist beispielsweise die sozialliberale Ära vom Historiker Bernd Faulenbach nunmehr gänzlich zum „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ umgedeutet worden – sehr zum Missfallen der linksliberalen Bannerträger um Gerhart Rudolf Baum.
Ebenso wurden die Grünen über Jahre wie eine „Abspaltung“ von der SPD, „Fleisch vom Fleische“ oder eine Art historischer Betriebsunfall der Ära Schmidt behandelt, obwohl doch die Ökopartei eine neue politische Kultur repräsentierte, an der gerade die SPD nach der programmatischen Entsorgung des Nato-Doppelbeschlusses in der Friedensbewegung und über sozialökologische Akzentuierungen zu partizipieren suchte. Genau betrachtet ist die SPD eine Trittbrettfahrerin der neuen sozialen Bewegungen wie des postmaterialistischen Wandels. Für eine sozialökologische Politik fühlten sich die Aufsteiger aus der alten Juso-Riege der siebziger Jahre selber zuständig, seit Erhard Eppler nach der ersten großen Erdölkrise im Herbst 1973 und der Meadows-Studie über die „Grenzen des Wachstums“ sein epochemachendes Buch Ende oder Wende verfasst hatte.
Peter Glotz und der Kampf um die kulturelle Hegemonie
Noch heute wird eifersüchtig um den Urheberanspruch beim Thema Nachhaltigkeit gestritten, das Sigmar Gabriel gewiss als eine grüne Idee, im Ursprung aber als eine ursozialdemokratische Angelegenheit betrachtet, „angestoßen von Olof Palme, Willy Brandt und Gro Harlem Brundtland, von drei großen Sozialdemokraten“.
Intellektuell abgefedert wurde diese eigentümliche Mischung aus rechthaberischer Siegerpose und melancholischer Trauerarbeit durch eine aufmunternde Diskursphraseologie, bei der sich die Kulturfunktionäre der Partei anstandslos des Modevokabulars der ansonsten so verteufelten politischen Postmoderne bedienten. Es war zunächst Peter Glotz, der mit einem Begriff aus den dreißiger Jahren vom „Kampf um die kulturelle Hegemonie“, den er beim KPI-Denker Antonio Gramsci aufgeschnappt hatte, Generationen von Genossen den Kopf verdrehen sollte. Der Topos nährte seine Attraktivität aus dem fragwürdigen Versprechen einer möglichen Beherrschbarkeit von öffentlicher Meinung. Daraus erwuchs die falsche Erwartung domestizierbarer Debatten beziehungsweise die Verwechslung von Diskurs mit Kampagne. In der Folge traten jene Zeitgeistschnüffler und Medienbeobachter auf den Plan, die alle naselang Alarm schlugen, weil sie den Mainstream mal wieder auf gefährlicher Rechtsdrift wähnten.
Als Glotz am Ende seiner Tage erkannte, welche Eigendynamik dieser losgelassene Begriff von der „kulturellen Hegemonie“ unter sozialdemokratischen Kulturarbeitern ausgelöst hatte, musste er offen zugeben, dass ihm der Gramsci-Rekurs doch wohl ein wenig zu „pompös“ geraten war.
Schließlich gibt es noch einen triftigen Grund, der das Feiern angeht. Seit Jahren wird Sozialdemokraten nachgesagt, sie könnten dies gar nicht – feiern. Weil sie selbst noch an Jubelabenden viel zu sehr mit Rachegedanken und düsteren Erwartungen befasst seien. Aber möglicherweise hat die epidemisch verbreitete Lust auf Events auch dieses Manko beseitigen können. Für diese Vermutung spricht zum Beispiel der stakkatohafte, nicht enden wollende Applaus im Willy-Brandt-Haus am Abend der größten Wahlniederlage, als die beiden Verlierer – Parteichef Müntefering und Kanzlerkandidat Steinmeier – auf dem Podium erschienen waren. September 2009: Was wohl wie eine akklamatorische Solidarität mit dem unglücklichen Kandidaten aussehen sollte, dem das Katastrophenresultat persönlich nicht anzulasten war, geriet in Wahrheit zum symbolischen Abschied von der Realität. Manche dachten sich dabei: wie bei einem Bundesliga-Absteiger, nur ohne Bengalos. So sie ihre Siege schon nicht feiern können, versuchen sie zumindest, ihre Niederlagen zu zelebrieren.
Wenn deutsche Linke feiern, schwelgen sie oft lieber über verpasste Chancen als über gehabte Erfolge. Hinter dem ewigen Wundenlecken verbirgt sich ein melancholischer Zug, der dazu neigt, das tatsächlich Erreichte gegenüber dem visionär Erstrebten niedrig zu hängen. Willy Brandt hat jenen kleinmütigen Zug im Psychogramm der Partei in seinen letzten Erinnerungen von1988 ziemlich präzise auf den Begriff gebracht: „Der deutschen Sozialdemokratie ist eine Tradition angeboren, in der der Misserfolg moralisch in Ordnung geht und der Maßstab des Erfolges einen anrüchigen Beigeschmack hat.“
Brandt wusste nur zu gut, wovon er sprach. Denn das klägliche Schauspiel, in Rekordzeit einen großen Wahlsieg zu verspielen, hat in der Partei eine unrühmliche Tradition. So ließ sie dem historischen Triumph von 1972 eine bis dato beispiellose Talfahrt folgen, die nicht nur der offenkundigen Erschöpfung des Regenten, sondern auch einer trüben innerparteilichen Mischung aus Missgunst, Ranküne und Unreife zu verdanken war.
Auch die Wahlsensation 2002, auf der Zielgeraden doch noch Stoiber abgefangen zu haben, schien bereits nach einer Woche verspielt, als die Überraschungssieger in eine ungezügelte Steuererhöhungssuada ausbrachen und damit ihre konzeptionelle Hilflosigkeit unter Beweis zu stellen schienen.
Erfolgreich war die SPD nur, wenn sie sich auf der Höhe der Zeit befand
Im Jahre ihrer runden Geburtstage lagen Freude und Trauer der SPD häufig dicht beieinander. Immerhin verlor die Partei zum 50. und 100. Jahrestag ihres Bestehens jeweils den Vorsitzenden – 1913 August Bebel und 1963 Erich Ollenhauer. Als Golo Mann zum 100. Jubiläum in einem Festtagsbeitrag die „Kassandra-Rufe“ der Partei als ihr eigentliches historisches Verdienst herausstellte, schien dieses Sonderlob des Historikers der jubilierenden „Loserin“ gar nicht recht zu sein, war sie doch damals eifrig damit befasst, den gegnerischen Popanz von der „Nein-Sager-Partei“ endlich loszuwerden und den nächsten Bundestagswahlkampf mit einem großen unspezifischen „Ja!“ auf den Plakaten anzugehen.
Und als die SPD 1988 ihr 125-jähriges Bestehen feierte, führte sie als erste Volkspartei die Frauenquote ein, wovon man sich damals noch mehr Dynamik und einen enormen Mitgliederschub versprach. Der 140. Geburtstag war vom innerparteilichen Kampf um erste Reformmaßnahmen zur Sanierung des bundesdeutschen Sozialstaats überlagert. Stichwort: Agenda 2010. Gefeiert wurde damals mit einem bevorstehenden Sonderparteitag im Kreuz, der über die von Schröder geforderte Zäsur entscheiden sollte.
Die SPD könnte aus ihrer Geschichte lernen, dass sie immer nur dann erfolgreich war, wenn sich ihre Politik auf der Höhe der Zeit bewegte. Dies war unter Lassalle und Bebel so, als die Arbeiterbewegung sich zur neuen gesellschaftlichen Kraft emporschwang und die Partei hernach zur stärksten Fraktion im Reichstag avancierte. Trotz der Behinderungen durch Bismarcks Sozialistengesetze ging es voran, auch wenn die Partei mit ihrer organisatorischen Strenge danach einer „bis zur Komik getreuen Volksausgabe des Wilhelminismus“ glich, wie der sanfte Revolutionär Kurt Eisner von der bayerischen USPD es einmal spöttisch formulierte.
Wo der Aufstieg gelingt, verkümmern die Bezüge zur Herkunftskultur
Die Sozialdemokraten blieben in der Weimarer Republik als einzig ernsthafte „Systempartei“ erfolglos, weil sie 1926 so taten, „als lebte man immer noch im Jahre 1890“ (Franz Walter). So schloss sich auch der junge Brandt am Ende von Weimar einer linkssozialistischen Abspaltung der SPD an, weil ihm „die passive Mittelmäßigkeit“ der Mutterpartei kaum mehr erträglich schien: „Julius Leber nannte die Lust an der Ohnmacht eine sozialdemokratische Erbsünde. Immobilismus und Fantasielosigkeit waren nicht nur für den letzten Abschnitt der Republik kennzeichnend.“
Auch zu Beginn der Bonner Republik war die Partei nicht auf der Höhe. So beschreibt Willy Brandt in „Links und frei“, wie er nach seiner Rückkehr verwundert feststellen musste, dass deutsche Genossen trotz aller vollmundigen Erneuerungsschwüre immer noch auf sozialistische Weise turnten, wanderten und Briefmarken sammelten. Unverdrossen hielt die SPD an einer abgebrochenen Tradition fest und drückte sich mit ihrem moralischen Sendungsbewusstsein um bittere Lehren aus Niederlagen herum – wie 1953, als der Parteivorstand einer Schilderung Carlo Schmids zufolge das Debakel bei der zweiten Bundestagswahl mit den Worten ironisierte: „Wir haben nicht ‚eigentlich‘ verloren, wir wurden nur um den verdienten Sieg gebracht.“
Auch nach der Verabschiedung des nachholenden Godesberger Programms sollte es noch eine ganze Weile dauern, ehe die Partei sich aus dem Jammertal der fünfziger Jahre herausgekämpft hatte. Unter Brandt und Schiller entwickelte sie sich endlich zu einer modernen Volkspartei, die die neue Mitte eroberte, so dass es Anfang der siebziger Jahre erstmals als „chic“ galt, links und sozialdemokratisch zu sein.
Doch in den frühen achtziger Jahren, nach dem Ende der Ära Schmidt, gab die Partei das immer eisern beanspruchte Fortschrittsmonopol aus der Hand. Die gesellschaftliche Entwicklung setzte sich über die SPD hinweg. Wer mit der Zeit ging, ging nicht mehr mit den inzwischen stirnrunzelnden Sozialdemokraten, sondern mit den furchtloseren Neokonservativen, die sich die Durchsetzung der neuen Technologien auf die Fahnen geschrieben hatten. Die Partei fiel gesellschaftspolitisch in die Defensive zurück und geriet nur über das hedonistische Styling ihrer parvenühaften Enkel von Lafontaine bis Engholm unter Modernisierungsverdacht.
Als Partei des sozialen Aufstiegs mit starker Bindung an die Arbeitnehmermilieus im Industriezeitalter musste die SPD erfahren, wie nach gelungenem Aufstieg die traditionellen Bezüge zur Herkunftskultur brüchig wurden. Erst Gerhard Schröder ist es zu Beginn seiner Regentschaft Ende des alten Jahrhunderts wieder gelungen, seiner Partei die ungefähre Orientierung einer gesellschaftlichen Innovation mit auf den Weg zu geben. Doch der bloß mediale Schein trog. Sein beschwörendes „Wer, wenn nicht wir“ verhallte. Eine ernsthafte reformpolitische Diskussion um die Neuordnung des Sozialstaates hat in der selbsternannten Diskussionspartei kaum stattgefunden, so dass sich Schröders strukturkonservative Kontrahenten bis zum heutigen Tag an seinem „Basta“-Stil weiden können.
Die Finanz- und Schuldenkrise hat schlafende Hunde wieder geweckt
Wer die Partei vor allem auch mental erneuern möchte, der klopfe Brandts Erinnerungen auf seine Distanzen und offene wie versteckte Kritik an seiner Partei ab, die vielfach nichts an aktueller Schärfe eingebüßt haben. Aus dem Exil zurückkehrend, gesteht er, wie sehr ihm angesichts kommunistischer Gewaltverbrechen die Frage von Genossen, „was Rosa wohl gesagt hätte“ zum Halse heraushing und „wie unfruchtbar Sektierertum und wie impotent die Rechthaber der vermeintlich reinen Lehre notwendig“ sein müssten: „In Skandinavien habe ich einiges vom Sinn für die Realitäten, von den Werten einer freiheitlichen und sozialen Demokratie und von den Chancen der Weltoffenheit in mich aufgenommen.“
Norberto Bobbio hat der Linken nach 1989 vorgehalten, sich nicht radikal geprüft und die Frage gestellt zu haben, ob sie ihrer Natur nach nicht zum Scheitern verurteilt sei, weil ihr die Niederlage innewohne. Damit reformulierte der inzwischen verstorbene italienische Philosoph einen Gedanken Ralf Dahrendorfs aus den sechziger Jahren. Auf die zyklisch stets neu aufgeworfene Frage „Was ist heute links?“ gab der damals in Konstanz lehrende Soziologe zu bedenken, dass er sich Linkssein in einem wohlverstandenen Sinn nur als notwendige „Kritik“ an den Verhältnissen und nicht als konkrete Politik vorstellen konnte. Dies war mitnichten eine Infragestellung der SPD als historisch gewachsene Formation, sondern eher ein Einspruch gegen deren falsche Erwartungen, Titel, Visionen oder Utopien für eine pragmatische Solidität.
Bobbio wollte sich an der Zeitenwende von 1989 noch nicht genau festlegen, ob es sich beim Zusammenbruch des Kommunismus und der damals ersten kontinentalen Krise der Sozialdemokratie um einen Kausalzusammenhang oder ein zufälliges Zusammentreffen handele. Das Thema schien passé, als um die Jahrhundertwende Blairs New Labour, Schröders Neue Mitte und Clintons Politik in den USA der Sozialdemokratie wie der gemäßigten Linken einen zukunftsfähigen Weg zu ebnen schienen. Doch weit gefehlt.
Mit dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise 2008 wurden schlafende Hunde geweckt, die Systemfrage erneut gestellt, Marx und Hilferding wieder ausgepackt und die alte Staatsfrömmigkeit gepflegt. Für manche eine willkommene Gelegenheit, eine der Lehren von 1989 zu dementieren – und für die Gegner der Sozialdemokratie ein gefundenes Fressen, Bobbios offene Frage nach einem Kausalzusammenhang mit einem froh gestimmten „Ja“ zu beantworten.
Dabei gab es 1989 genügend Gründe für die demokratische Linke, „an sich selbst zu zweifeln“ (Norberto Bobbio), statt sich selbstgerecht zum Mitsieger am Ende der bipolaren Welt zu erklären und gleichzeitig an der verrotteten Wegmarke des Sozialismus festzuhalten, die der Menschheit keine Orientierung mehr zu geben vermag. Um Willy Brandt dazu ein letztes Mal zu zitieren: „Meine Lebenserfahrung sagt mir: Das Lager der sozialen Demokratie muss seine Bereitschaft zur Selbstkritik immer wieder schärfen.“
Als Günter Grass kurz vor dem Mauerfall im August 1989 herumsponn, jetzt schlüge endlich die historische Stunde des demokratischen Sozialismus und der Sozialdemokratie, die Partei könnte endlich die gerechte und heiß ersehnte Ernte ihres über hundertjährigen Strebens in die Scheuern fahren, da platzte Fritz J. Raddatz der seidene Kragen: In seinem Tagebuch hielt er dazu fest: „Nicht nur hat die Idee des Sozialismus (i.e. ihre Verwirklichung) ÜBERALL versagt – sondern auch die Sozialdemokratie, von Weimar bis heute. Neben ein paar Glanzlichtern wie Brandts Kniefall und seiner Ostpolitik hat sie von den Schmidtschen Raketen bis zu Brandts Berufsverboten doch NICHTS Wichtiges, Bewegendes herbeigeführt – was nicht bürgerliche Parteien genauso gut gemacht hätten, irgendwelche verkaufsoffenen Samstage, Urlaubstage mehr oder Rentenerhöhungen.“ Das überzogene Resümee wird den Verdiensten der Partei sicher nicht gerecht, trifft aber in der Kritik am selbstgerechten Gestus einen wichtigen Punkt.
So wird die SPD jetzt 150 wie zuvor Jopie Heesters 100. Die Jubilarin wirkt ein wenig ermattet, ohne erkennbare Hoffnung auf bessere Zeiten. Wer in diesen Tagen wehmütig die Nachrufe auf die insolvenzbedrohte Frankfurter Rundschau liest, fühlt sich leider auch an die Entwicklung der SPD erinnert: wie der Zeitgeist an der Zeitung vorbeigerast sei; wie das Überleben zur Haltung stilisiert wurde, nachdem sich kaum jemand für eine wirkliche Erneuerung begeistern ließ; wie Beständigkeit und Starrsinn miteinander verwechselt wurden; wie das grün-alternative Gegenmilieu der frischer und frecher auftretenden taz der spannungslosen Langeweile des Traditionsblatts allmählich den Rang ablief; und wie die ehernen Alt-Achtundsechziger und Adorno-Freaks im Feuilleton die nachfolgende Generation nicht mehr verstanden, „die es mehr mit Niklas Luhmanns cooler Beobachtungskunst hatte“ (Ina Hartwig). Bis es am Ende die typischen alten Leser nicht mehr gab und man an die untypischen neuen nicht herankam.
Bitte keine Beschwörung des Imperfekts!
Neuerdings hat man bei solchen runden Anlässen auch den angeschlagenen Helmut Kohl vor Augen, wie er jüngst – ziemlich erbarmungswürdig – im Rollstuhl den 30. Jahrestag seiner gottverdammten „Wende“ begehen ließ. Wenn Personen zu Ruinen ihrer selbst würden, schreibt Peter Sloterdijk in seinen lesenswerten Notizen „Zeilen und Tage“, gerieten sie zu „Mahnzeichen einer verlorenen Zeit“. Gilt dies nicht auch für Parteien, Vereine und Großorganisationen?
An Kohls Erscheinung lasse sich ablesen, so Sloterdijk, was das bedeutende Theorem von der „Beschleunigung der Geschichte“ ausdrücken könne. „Das eben erst Geschehene wird viel schneller als früher in eine tiefere Form von Vergangensein hinabgedrängt.“ Kohls Wende von 1982 scheint also noch weiter als dreißig Jahre zurückzuliegen, und die SPD mag nicht nur Zynikern häufig älter als 150 Jahre vorkommen. In der mobilisierten Mediasphäre falle bereits das erst gestern, vorgestern Erlebte in einen so tiefen Brunnen der Vergangenheit, dass kein Beschwörer des Imperfekts es daraus mehr hervorholen kann – es sei denn im „Modus einer musealisierenden Reminiszenz“ (Sloterdijk).
Also bitte zum 150. keine noch so gekonnt zum Event aufgetakelte „Beschwörung des Imperfekts“, sondern die Beantwortung der Frage, was die SPD jenseits der hohlen Verdammung des Neoliberalismus und der wiederbelebten Staatsfrömmigkeit an Neuem zu sagen hat, das ihre Existenz über die stattlichen 150 Jahre hinaus als notwendig erscheinen lassen könnte.