Wandel oder Selbstbehauptung?
Noch verheerender waren die Ergebnisse der McKinsey-Studie Deutschland 2020, die sich auch als Zukunftsszenario verstanden wissen wollte: Hier wurde vorausgesagt, dass rund 30 Prozent der Bürger mit ihrem Einkommen aus der Mittelschicht herausfallen würden, wenn es in Deutschland bei diesem geringen Wachstum bliebe. Danach hätten bis zum Jahr 2020 weit weniger als die Hälfte der Bevölkerung noch ein Einkommen auf Durchschnittsniveau.2 Ist dies das Ende der deutschen Mittelschicht-Gesellschaft? Müssen wir um die gesellschaftliche Mitte und damit auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland bangen?
Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Herausbildung einer breiten gesellschaftlichen Mitte, die die Gesellschaft nicht nur kulturell, sondern auch quantitativ dominiert, ein relativ neuartiges und erst wenige Generationen altes Phänomen ist.3 Zwar stellt die "Mitte" " zwischen den Extremen von "Arm" und "Reich" " seit der Antike eine Sehnsucht, ein konstantes Ideal menschlichen Zusammenlebens dar (Aristoteles sprach auch von "Tugendmitte"), aber in der Realität war sie stets erheblichen Veränderungen ausgesetzt. Bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts bildeten die Mittelschichten nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung. Auch die Vorstellung von einem "mittleren Drittel" führt in die Irre. Die große Mehrheit der Bevölkerung gehörte vielmehr über die längste Zeit den Unter- beziehungsweise Arbeiterschichten an.
Vor etwa 100 Jahren begann dann ein Expansionsprozess, der sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzte. Zum "alten" Mittelstand, das heißt den selbständigen Handwerkern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden, trat in den zwanziger Jahren der "neue" Mittelstand der Angestellten. Die Ausbreitung der Mittelschicht beschleunigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg " vor allem auch bedingt durch die "Entproletarisierung" und den Aufstieg der Arbeiter " und erreichte in der Phase der Nachkriegsprosperität und Wohlstandsexpansion der fünfziger bis siebziger Jahre ihren Höhepunkt. Seitdem ist der Expansionsprozess ins Stocken geraten. Nicht nur das Tempo der Expansion verringerte sich, erste Stagnationserfahrungen und Anzeichen eines Rückschritts kamen hinzu. Dies machte sich etwa im Bereich der realen Einkommen bemerkbar, aber auch der Zugang zur Mittelschicht wurde durch die sich wieder verengenden Kanäle der Bildungs- und Arbeitsmarktmobilität wieder schwieriger. Nach manchen, vorrangig ökonomischen, Indizien und Kriterien begann Mitte oder Ende der neunziger Jahre wiederum eine neue Phase der Entwicklung, die in mancher Hinsicht durch den Übergang von der Stagnation zur Erosion gekennzeichnet ist.4 In anderer Hinsicht aber ergaben sich zugleich neue Entfaltungsmöglichkeiten und Freiräume, die auch als Folge des Paradigmenwechsels der deutschen Sozial- und Gesellschaftspolitik begriffen werden können, der sich seitdem vollzog.
Also stimmen die Prognosen doch, und auf Expansion, Prosperität und Aufstieg folgen nun Erosion, Verknappung und Abstieg der Mittelschicht? Nein, die Befunde sind komplizierter und müssen differenziert betrachtet werden. Arbeits- und Berufsstrukturen, Bildung, private Lebensformen, Werte und politisches Engagement haben sich nicht geradlinig entwickelt. Für unterschiedliche Aspekte oder Konstitutionsbedingungen der gesellschaftlichen Mitte ist jeweils eine unterschiedliche Diagnose zu stellen.
Grundsätzlich darf man auch nicht der Versuchung erliegen, die Richtung und Selbstdeutung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik, die "fetten Jahre", mit ihrer Realität zu verwechseln. So wie heute von der Erosion und dem Untergang der Mitte die Rede ist, standen damals die Zeichen auf Expansion und Optimismus. Der Glaube an allgemeinen Wohlstand in relativer Egalität war ungetrübt, die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Schelsky) schien Wirklichkeit, dem Wachstum keine Grenzen gesetzt. In der Realität aber waren Armut und Knappheit damals viel weiter verbreitet als heute; akademische Bildung war nicht nur selten und schwer zugänglich, sondern diente auch der Distinktion, der Abgrenzung nach "unten".
Für die Einschätzung zukünftiger Entwicklungen ist es wichtig festzuhalten, dass die Mittelschicht in der Vergangenheit wandelbar und äußerst erfindungsreich war. Sie zeichnete sich aus durch ein hohes Maß an Variabilität und Flexibilität sowie durch die Fähigkeit, sich unter ganz unterschiedlichen Bedingungen neu zu behaupten und zu erfinden. Dies steht in starkem Kontrast dazu, dass ihr seit ihrer Entstehung mit großer Regelmäßigkeit immer wieder der Untergang prophezeit worden ist " nicht nur von Karl Marx. Doch haben sich alle diese Prognosen nicht bewahrheitet. Einseitige Untergangsszenarien greifen daher auch heute nicht.
Harte Faktoren, weiche Faktoren
Eine genauere historische Analyse des Wandels und der Entwicklung der Mittelschicht in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt, dass die Struktur von mittleren sozialen Lagen zum einen das Ergebnis von "harten", ökonomisch-materiellen, teils auch rechtlich-politisch normierten Faktoren ist. Zum anderen wirken aber auch "weiche", eher soziokulturelle Faktoren. So ist das Gefüge der mittleren Schichten in hohem Maße abhängig von sozialen und kulturellen Prozessen des praktischen Lebensvollzugs, des Selbstentwurfes, der sozialen Beziehungen. Man kann die wichtigsten Determinanten und Erfahrungen, die auf die Mittelschicht in der zweiten Jahrhunderthälfte eingewirkt haben, in zwei "Kräftedreiecken" darstellen:5
Das erste Dreieck setzt sich dabei aus den "harten", "objektiven", sozialökonomisch bedingten Determinanten und Strukturen zusammen: Arbeit und Berufsstruktur, Bildung, Wohlfahrtsstaat. Das zweite Dreieck wird dagegen von den "weichen", "subjektiven" Erfahrungs- und Handlungsformen der Mittelschicht gebildet: sozialräumliche Organisation von Lebensverhältnissen, private Lebensformen, Werte und Politikformen.
Auf allen diesen Feldern fanden in den vergangenen Jahrzehnten Veränderungen statt, die den Wandel der Mittelschicht bedingt und geprägt haben: Im Bereich der Arbeits- und Berufsstrukturen bestanden diese Veränderungen maßgeblich im Übergang von der Agrar- in die Industrie- und weiter in die Dienstleistungsgesellschaft; aber auch der Übergang in abhängige Beschäftigungsverhältnisse, auf Kosten der Selbstständigkeit, spielte ein wichtige Rolle. Dabei wurde der "alte" Mittelstand verdrängt; an seine Stelle trat nun endgültig der "neue" Mittelstand der Angestellten und Beamten in den modernen Dienstleistungsberufen. Darüber hinaus wurde die Mittelschicht bis weit in die siebziger Jahre hinein durch die aufstrebende Schicht der Facharbeiter erweitert.
Bildung, im Sinne der schulischen und universitären Ausbildungsgänge, wie auch des Erwerbs formaler Bildungsqualifikationen, ist für die Mittelschicht über die letzten Jahrzehnte hinweg " beginnend mit der Bildungsexpansion in den sechziger Jahren " immer wichtiger geworden: für den Zugang zu ihr, für ihre Berufs- und Einkommenspositionen und für ihr Selbstverständnis. Moderne Mittelschichten sind heute vor allem Bildungsmittelschichten. In den sechziger Jahren ging es jedoch nicht nur im Sinne Ralf Dahrendorfs um das "Bürgerrecht auf Bildung"6, sondern die Bildungsexpansion war auch durch die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften gesteuert. Von der höheren Schulbildung profitierten, relativ gesehen, vor allem die Kinder der unteren Schichten, wenngleich die Gymnasialbildung ein mehrheitlich bürgerliches Gut blieb.
Was den Wohlfahrtsstaat betrifft, ist unverkennbar, dass dieser in seiner klassischen Phase, in der Hochzeit der "alten" Bundesrepublik, nicht ausschließlich zugunsten der Armen und Benachteiligten gewirkt hat, sondern dass seine Leistungen in ganz beträchtlichem Umfang der gesellschaftlichen Mitte zugute gekommen sind. So stand bei der Rentenversicherung seit 1957 weniger die Existenz-, als die Lebensstandard- und Statussicherung im Vordergrund. Weiter wurden beispielsweise in der Wohnungsbau-, Vermögens- sowie der Kreditpolitik Möglichkeiten der staatlichen Förderung geboten, die besonders die Mittelschichten in Anspruch genommen haben (Eigenheimförderung). Aber auch die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur kam und kommt häufig gerade der Mittelschicht zugute. Man denke hier nur an Theater, Bibliotheken oder die höheren (kostenlosen) Bildungseinrichtungen.
Wie sieht es bei den "weichen" Faktoren aus? Die Suburbanisierung ist in Deutschland " gerade im internationalen Vergleich " noch nicht so weit vorangeschritten; dennoch gab es in der Vergangenheit entsprechende Trends: So erlebten in den fünfziger und sechziger Jahren klein- und mittelstädtische Regionen einen regen Zuzug von Mittelschichtfamilien. Stadt und Land wurden einander ähnlicher, das öffentliche Leben in den Kleinstädten wurde ausgebaut. Seit den achtziger Jahren veränderten sich vor allem die großstädtischen Räume. Wieder waren es vor allem die Familien der Mittelschicht, die vermehrt die Kernstädte zugunsten der Peripherie verließen. Dies vollzog sich häufig in der Phase der Familiengründung und war verbunden mit dem Erwerb von Wohneigentum. Die Innenstadtquartiere wurden hingegen tendenziell immer öfter von Singles und Kinderlosen einerseits, Einwandererfamilien andererseits bewohnt.
Das Familienideal verlor seine Alleinstellung
Seit den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts veränderten sich auch die Formen des privaten Lebens in Familie und Haushalt. Die gesellschaftliche Mitte war und ist durch einen schrumpfenden Familiensektor und einen wachsenden "Nicht-Familiensektor" gekennzeichnet. Wenngleich familiäre Werte in der Mittelschicht tendenziell weit verbreitet waren, verlor das Familienideal " in der Stabilisierungszeit nach Diktatur und Krieg ein politisch-kulturelles Leitbild wie selten zuvor " spätestens seit den achtziger Jahren auch hier seine normative Alleinstellung. Daneben trat die Individualität als ein neuer und zugleich alter Leitwert, denn das Bürgertum ist seit jeher immer auch ein Bannerträger des Individualismus gewesen.
Auch die Formen des mittelschichtspezifischen bürgerlichen Engagements unterlagen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einem umfangreichen Wandel. Während bis in die sechziger Jahre hinein noch das Engagement in klassischen Vereinen, politischen Parteien, Gewerkschaften, auch den christlichen Kirchen im Vordergrund stand, erleben seit zwei Jahrzehnten neue Handlungsformen eine Blüte. Dazu haben vor allem die Neuen Sozialen Bewegungen der achtziger Jahre beigetragen. Statt dauerhaften Bindungen überwiegt heute das spontane, zeitlich oft befristete und thematisch gebundene Engagement, beispielsweise in Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen oder nur als (weitgehend passives) Mitglied einer Nicht-Regierungsorganisation. Darüber hinaus haben der Ausbau und die Pflege privater Netzwerke eine große Bedeutung gewonnen und viele Funktionen des alten Vereins- oder Parteiwesens übernommen.
Wenn dies der Blick auf die Entwicklung bis heute war, wie sieht es dann für die Zukunft aus? Mit welchen Veränderungen "harter" und "weicher" Faktoren wird die gesellschaftliche Mitte konfrontiert werden? Und welche Bewältigungsstrategien seitens der Mittelschicht sind denkbar? Wer seinen Blick auf die Zukunft richtet, sollte dies nicht in Form einseitiger Vorhersagen tun. Vielmehr kommt es darauf an, unterschiedliche Dimensionen, Determinanten und Erfahrungen im Blick zu behalten.
Im Jahre 2006 hat der Think Tank RAND Europe eine Szenario-Studie für die Herbert Quandt-Stiftung verfasst, deren Ziel es war, "zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen plausible Bilder zur inneren Verfasstheit der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland im Jahr 2020 zu entwerfen und damit jeweils verbundene Implikationen für die Gesamtgesellschaft aufzuzeigen".7 Die beiden Szenarien unterschieden sich grundlegend hinsichtlich der Rolle der Mittelschicht. Während das erste Szenario ("Kokon") die geschützte, aber undurchlässige Mittelschicht darstellte, war die Mittelschicht im zweiten Szenario ("Jojo") durchlässig, aber ungeschützt. Solche Szenario-Studien sind ein gutes Mittel, um neue Perspektiven auf die aktuellen Reformdiskussionen zu eröffnen. Lassen sich mit Hilfe der Szenario-Methode auch die beiden oben beschriebenen "Kräftedreiecke" in die Zukunft hinein verlängern?
Szenario 1: Selbstbehauptung. Sowohl im Bereich der "harten" wie auch im Bereich der "weichen" Faktoren sind unterschiedliche Entwicklungen und Wandlungsprozesse denkbar. Der Mittelschicht kann es gelingen, ihre heute noch recht abgesicherte Position auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten und erworbene Ansprüche des Sozialstaats, beispielsweise in der Rentenversicherung oder auch in Form einer "Pendlerpauschale", zu verteidigen. Defizite und Nachteile bei der Schul- und Ausbildung durch fehlende öffentliche Bildungsinvestitionen könnten die Mittelschichten durch ein starkes privates zeitliches wie finanzielles Engagement ausgleichen und damit den Bildungserfolg ihrer Kinder sichern. Damit einher ginge möglicherweise jedoch eine starke Abkapselung der Mittelschicht gegenüber anderen sozialen Schichten, die sich zugleich in einer zunehmenden räumlichen Separierung ausdrücken würde: "Familien-Siedlungen" mit homogener Sozialstruktur, guten infrastrukturellen Einrichtungen und einem starken sozialen Zusammenhalt und Engagement hier; vernachlässigte Stadtviertel ohne funktionierende Infrastruktur und inneren Zusammenhalt dort.
"Bürgertugenden" ohne Strahlkraft?
Im Sinne dieses Szenarios wäre die Mittelschicht, und besonders die ältere, "goldene" Mitte-Generation, der wichtigste Träger bürgerlicher Werte und stabiler familiärer Verhältnisse. Als problematisch könnte sich jedoch erweisen, dass die "Bürgertugenden" keine Ausstrahlungskraft auf andere gesellschaftliche Gruppen und soziale Schichten besäßen. Auch wäre zu befürchten, dass sich die Gräben zwischen kinderlosen "Professionals" und Familien mit Kindern weiter vergrößerten. Das Problem des demografischen Wandels könnte sich gerade aufgrund der starren Rollenverteilung und des erschwerten Zugangs von Müttern zum Arbeitsmarkt verschärfen.
Szenario 2: Wandel. Ein zweites, mehr auf Wandel ausgerichtetes Szenario ist denkbar. Dies könnte darauf hinauslaufen, dass die Mittelschicht ihre Privilegien auf dem Arbeitsmarkt aufgäbe und den sozialstaatlichen Wandel in Richtung einer Reduzierung des staatlichen Schutzniveaus unterstützte. So könnten sich neue Spielräume für eine stärkere Investition in (Schul-)Bildung und öffentliche Infrastruktur eröffnen. Damit würde wahrscheinlich ein höheres Maß an sozialer Mobilität erreicht. Jedoch wäre diese Mobilität dann auch in beide Richtungen möglich und daher mit einem verstärkten Abstiegsrisiko auch für die Angehörigen der Mittelschicht verbunden. Auch sähe sich unter Umständen ein Teil der älteren Bevölkerung gezwungen, nach Erreichen des Rentenalters die Erwerbstätigkeit fortzusetzen, da die staatliche Rente den Lebensstandard nicht mehr hinreichend sichern würde. Die traditionelle familiäre Arbeitsteilung wäre möglicherweise dadurch durchbrochen, dass sie in erster Linie von der individuellen Chancenverteilung am Arbeitsmarkt abhinge und nicht vom Geschlecht. Insgesamt könnte eine hohe Erwerbstätigkeit von Frauen als Schlüssel für den Umgang mit dem Problem des demografischen Wandels verstanden werden.
Einer größeren gesellschaftlichen Dynamik und Vielfalt der Lebensformen stünden aber gegebenenfalls ein Verlust an Sozialkapital, das heißt das Fehlen von dauerhaftem und gemeinnützigem Engagement, und die Fragmentierung von Identitäten der Mittelschicht gegenüber. Die Auflockerung der räumlichen und sozialen Separierung wäre mit einer verschärften Konkurrenz zwischen einzelnen Regionen in Deutschland verbunden. Unterschiedliche Lebensstile, aber auch unterschiedliche Wertorientierungen müssten koordiniert werden, was zum Beispiel in den Schulen nicht unbedingt immer konfliktfrei verliefe. "Up-and-down-Gesellschaft" und Wandel einer sich verflüssigenden, nicht mehr greifbaren Mittelschicht " ist das wirklich die wünschenswerte Alternative?
Glücklicherweise müssen wir uns nicht zwischen diesen beiden Szenarios entscheiden. Beide hier skizzierte Szenarien zeichnen ein stark stilisiertes Bild der Mittelschicht und enthalten sowohl positive als auch negative Aspekte. Sie machen darüber hinaus vor allem auf Problemwahrnehmungen und mögliche Bewältigungsstrategien der Mittelschicht aufmerksam. Damit sind sie dazu geeignet, die Herausforderungen aufzuzeigen, vor denen eine "Politik der Mitte" oder "für die Mitte" steht. Deutlich wird, dass die Zukunft der Mittelschicht nicht auf einem Politikfeld allein entschieden wird; nicht nur das wirtschaftliche Wachstum entscheidet über die Zukunft der sozialen Ordnung in Deutschland " das war auch in der Vergangenheit schon so. Wichtig sind neue Weichenstellungen in der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, aber auch im Bereich der "weichen" Faktoren, beispielsweise in der Familienpolitik.
In der Schule ist es oftmals schon zu spät
An einer Ausweitung der akademischen Bildung, vor allem an einer Vermehrung akademischer Abschlüsse, führt kein Weg vorbei. Dabei sollten auch neue Wege erprobt werden, um benachteiligten Gruppen, zum Beispiel Einwandererfamilien, den Bildungsaufstieg zu erleichtern. Hier ist vor allem bei der frühkindlichen Bildung anzusetzen, denn in der Schule ist es oftmals schon zu spät, die fehlenden intellektuellen Fähigkeiten, aber auch die sozialen Schwächen und Benachteiligungen aufzuholen. Auch Leistungs- und Aufstiegswille bilden sich bei entsprechender Förderung früh aus, sie können aber genauso schnell versiegen.
Auch auf dem Arbeitsmarkt ist eine Öffnung, ein Aufbrechen der Strukturen notwendig. Die Erwerbsbiografien, gerade in der jungen Mitte-Generation, haben sich gewandelt. Die Grenzen zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung sind häufig fließend. Allgemein fehlt das Bewusstsein, dass durch die bestehenden Reglementierungen die neuen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt nicht ausreichend aufgefangen werden. Das "Mittelschichtdefizit" von Frauen ist in Deutschland besonders ausgeprägt. Dies hängt schon längst nicht mehr mit einem Mangel an Bildung oder Ausbildung zusammen, sondern ist durch mangelnde Arbeitsmarktteilhabe bedingt. Gerade Beruf und Familie lassen sich in der deutschen Arbeitswelt noch immer schwer miteinander verbinden.
Auf dem Gebiet der Soziapolitik ist das alte Ideal der Verteilungsgerechtigkeit fraglich geworden. Gerade die Mittelschicht hat in der Vergangenheit überdurchschnittlich von den Leistungen des Wohlfahrtsstaates profitiert. Hier stellt sich die Frage, ob nicht die gesellschaftliche Mitte über die nötigen Ressourcen verfügt, zukünftig Alters- oder bestimmte Gesundheitsrisiken stärker selbst zu tragen, damit mehr Geld zum Beispiel für Investitionen in Bildung und öffentliche Einrichtungen frei wird. Statt um wohlfahrtsstaatliche Protektion sollte es in der Sozialpolitik stärker um Anreize für eine Selbstorganisation gehen, damit die Menschen in der Mittelschicht ihre eigenen Sicherheitsstrukturen entwickeln können. Von einem Umbau des Wohlfahrtsstaates könnten gerade die jungen Mittelschichtfamilien profitieren, beispielsweise durch den Ausbau öffentlicher Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen.
Im Anschluss an die Szenarien muss aber auch darüber nachgedacht werden, wie eine größere gesellschaftliche Dynamik ohne einen Verlust an Sozialkapital, eine Stärkung bürgerlicher Werte ohne die Entfremdung der Mittelschicht von anderen Milieus zu erreichen ist. Eine Politik der Mitte darf nicht zur Unterstützung gesellschaftlicher Sonderinteressen führen, sondern sie muss die Öffnung und die Offenheit der Mittelschicht zum Ziel haben. Es gilt, neue Freiräume für gesellschaftliches Engagement zu schaffen in dem Sinne, dass der Einsatz für die eigenen Interessen " beispielsweise in Form von Bürger- oder Stadtteilinitiativen " auch den Schwächeren hilft. Die Stärken der Mittelschicht müssen der Stärkung der gesamten Gesellschaft zugute kommen.
Bei all diesen Überlegungen, Analysen und Vorschlägen wird eines deutlich: Einfache Lösungen und damit einfache Zukunftsprognosen gibt es nicht. Häufig wird die Komplexität der Fragestellungen in der aktuellen Reformdiskussion unterschätzt, nicht immer ist der Parteienkompromiss die beste Lösung, wie bei der "Herdprämie" oder dem "Gesundheitsfonds" deutlich wird. Jedoch hängt die zukünftige Entwicklung nicht allein vom Staat ab. Eine wichtige Voraussetzung für eine starke und integrative Mittelschicht-Gesellschaft ist ein größeres Maß an Selbstbewusstsein innerhalb der gesellschaftlichen Mitte. Die Mittelschicht muss mehr als bisher zum (kollektiven) Akteur und zum Gestalter des gesellschaftlichen Wandels und damit auch ihrer eigenen Zukunft werden. Statt an ihren eigenen Untergang zu glauben, sollte sie das Heft des Handelns in die Hand nehmen " für sich selbst, aber vor allem auch im Sinne der Integrationsfunktionen, die sie immer noch erfüllt.
Zusammengefasst: Es geht nicht um Wandel oder Selbstbehauptung, sondern um beides: um Wandel und Selbstbehauptung im Sinne der Entwicklung der Mittelschicht im zwanzigsten Jahrhundert. Die Mittelschicht muss zu " manchmal auch schmerzlichen " Veränderungen bereit sein, nur so kann sie ihren Status in der Mitte, zwischen "oben" und "unten", bewahren. Gerade mit Blick auf die Vergangenheit darf man aber optimistisch sein und darauf hoffen, dass der Mittelschicht das gelingt, was ihr schon oft gelungen ist: sich unter veränderten Bedingungen neu zu behaupten und zu erfinden.
Anmerkungen
1 DIW, Schrumpfende Mittelschicht: Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen, Wochenbericht 10 (2008), 5. März 2008.
2 McKinsey, Deutschland 2020: Zukunftsperspektiven für die deutsche Wirtschaft, Mai 2008.
3 Vgl. zum Folgenden auch Paul Nolte, Generation Reform, München 2004, S. 45-57.
4 Vgl. Martin Werding und Marianne Müller, Globalisierung und gesellschaftliche Mitte: Beobachtungen aus ökonomischer Sicht, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung: Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Bad Homburg 2007, S. 104-161.
5 Vgl. dazu und zum Folgenden Paul Nolte und Dagmar Hilpert, Wandel und Selbstbehauptung: Die gesellschaftliche Mitte in historischer Perspektive, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung: Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Bad Homburg 2007, S. 11-101, hier: S. 42 ff.
6 Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht: Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg 1965.
7 Kai Wegrich und Tom Ling, Die gesellschaftliche Mitte im Jahr 2020, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hrsg.), Die Zukunft der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland (26. Sinclair-Haus-Gespräch), Bad Homburg 2006, S. 20-33.