Warten auf den großen Wurf
Gesundheitspolitik geht alle an. Egal ob jung oder alt. Sie betrifft jeden. Kranke und Gesunde. Denn Gesundheit ist etwas, von dem jeder hofft, er möge es besitzen. Und wer krank ist, der wünscht sich die bestmögliche Behandlung - unabhängig von seiner sozialen oder finanziellen Situation. "Bei Gesundheit handelt es sich um ein lebensnotwendiges Gut. Es ist ein kollektives und öffentliches Gut, ähnlich wie Atemluft, Trinkwasser, Bildung, Verkehrs- oder Rechtssicherheit", schreibt der Medizinsoziologe Hans-Ulrich Deppe und fügt hinzu: "Auf Krankheit kann nicht wie auf Konsumgüter verzichtet werden." Denn niemand weiß, ob und wann er krank wird. Und an welcher Krankheit er dann leiden wird.
"Gesundheit ist unbezahlbar", behauptet gleichwohl der Volksmund. Und glaubt man der Warnung vieler Politiker und Experten, dann wird sie es in Deutschland tatsächlich in nicht all zu ferner Zukunft sein. Jedenfalls dann, wenn unser Gesundheitssystem keiner grundlegenden Reform unterzogen wird. Der Grund dafür scheint einsichtig: Die Menschen leben immer länger. Damit wächst das Risiko, häufiger, länger und schwerer zu erkranken. Außerdem wächst der Anteil der Älteren gegenüber den Jüngeren unaufhörlich. Hinzu kommt der medizinische Fortschritt: Ständig werden neue Medikamente, Diagnose- und Behandlungsmethoden entwickelt. So geht es unserem Gesundheitssystem wie den anderen sozialen Sicherungssystemen auch: Ihm droht langsam, aber sicher die Puste auszugehen. Wenn Gesundheit in einer zunehmend alternden und von Massenarbeitslosigkeit geprägten Gesellschaft nicht zum Luxusgut werden soll, das sich nur wenige leisten können, dann muss das Gesundheitswesen neu überdacht und auf starke Beine gestellt werden. Solche, die auch in einer Wirtschaftskrise nicht einknicken. Dabei geht es - wie bei der Alterssicherung - besonders um Generationengerechtigkeit.
Unter Haifischen im Minenfeld
Dass unser Gesundheitssystem der Reform bedarf, bestreitet keine Partei. Der Ruf nach der "umfassenden Gesundheitsreform" gehört mittlerweile zu den politischen Allgemeinplätzen. Vor den Konsequenzen solch einer Reform jedoch scheint sich die Gesellschaft mehrheitlich zu fürchten: Die Bürger, weil sie damit vor allem Einschnitte in den Leistungen und höhere Kosten verbinden. Die Politiker, weil man mit solchen Befürchtungen keine Wahlen gewinnen kann. Bei der SPD war diese Furcht in den vergangenen vier Jahren offenbar groß. Jedenfalls darf man "Gesundheit" getrost zu den Politikfeldern zählen, auf denen die rot-grüne Bundesregierung hohe Reformerwartungen enttäuscht hat. Dabei hat, anders als bei der Arbeitsmarkt- oder Wirtschaftspolitik, eine nationale Regierung auf diesem Feld tatsächlich noch reale Handlungsoptionen. Eine Vogel-Strauß-Politik, die sich um die Lösung bestehender Probleme herumdrückt, verspielt somit wichtige Handlungsspielräume.
Zwar wurden einige Seehofersche Einschnitte wie die Erhöhung der Zuzahlung bei Medikamenten nach der Bundestagswahl von 1998 wieder rückgängig gemacht, und Ende 1999 kam nach zähem Ringen eine Rumpfreform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zustande. Doch gleich darauf erlahmte der Reformeifer. Die Gesundheitspolitik wurde bis zum Ende der letzten Legislaturperiode auf Eis gelegt.
Bereits 1998 hatte die SPD deutlich gemacht, dass sie kein allzu großes Interesse am Thema haben werde: Das Gesundheitsministerium überließ man den Grünen. Und der langjährige Fraktionsexperte, inhaltlich versiert, aber Angehöriger der unmodernen "Betonfraktion", wurde außer Landes geschickt. Tatsächlich gab es nach dem Abgang Rudolf Dreßlers niemanden in der Fraktion, der die vakant gewordene Rolle des profilierten Gesundheitspolitikers einnehmen konnte. Wie unbeliebt dieser Politikbereich ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auch der politische Nachwuchs dieses Feld weitgehend meidet. Kein Wunder vielleicht: Immerhin wird die Gesundheitspolitik in den Medien abwechselnd als "Minenfeld" oder als "Haifischbecken" charakterisiert. Wer will sich schon in Zeiten leerer Kassen als Dompteur extrem starker und selbstbewusster Interessengruppen beweisen? Andrea Fischers PR-Auftritte im "Gesundheits-Zirkus", mit denen sie ihre Politik an die Leute bringen wollte, halfen ihr jedenfalls nicht. Fischers Schicksal ist bekannt.
Planlos unter dem runden Tisch
Als mit der BSE-Krise das Ministerium zwanzig Monate vor der Wahl dann doch noch in die Hände der Sozialdemokraten fiel, zeigte sich die dünne Personaldecke der SPD-Gesundheitspolitiker erneut. Das Amt übernahm eine Politikerin, die sich zuvor als geschickte und nervenstarke Verhandlungspartnerin bei der Rentenreform empfohlen hatte. Auf die Blaupause einer Gesundheitsreform jedoch Ulla konnte Schmidt nicht zurückgreifen. Die Realität im "Haifischbecken" grob missachtend, trat sie vielmehr mit dem Marschbefehl an, die Interessenkonflikte unter den "Runden Tisch" zu kehren. Ärzte und Pharmaindustrie erhielten mit der Aufhebung des Arzneimittelbudgets ein zusätzliches Bonbon. Mit diesen Maßnahmen sollten die starken Lobbygruppen bis zur Wahl still gehalten werden: ein schwerer strategischer Fehler. Wer sich nicht in Gefahr begibt - der kommt drin um. Als nämlich die Arzneimittelausgaben im Laufe des Jahres 2001 sprunghaft stiegen, als die gesetzlichen Krankenkassen in ein tiefes Minus hineinschlidderten, als sie deshalb zum Jahreswechsel die Erhöhung ihrer Beitragssätze ankündigten, kurzum: als die Reformdebatte erneut aufkam - da stand die SPD plötzlich ohne Plan da.
Es passt in dieses Bild, dass die Reformdebatte in der SPD nicht auf der Bundesebene angestoßen wurde. Programmatisches war statt dessen zunehmend aus dem rheinland-pfälzischen Arbeits- und Sozialministerium zu vernehmen. Mit gezielten inhaltlichen Spitzen brachte Florian Gerster die widerstrebende Berliner Programm-Maschinerie doch noch in Gang - und sich selbst über Monate ins Spiel für höchste gesundheitspolitische Aufgaben in Berlin. Denn dort bot die SPD auch weiterhin keine überzeugende Performance: Zahllose, zum Teil inhaltlich divergierende Reformpapiere aus Wissenschaft, Parteivorstand und Fraktion; die Monopolisierung eines Mitglieds des Sachverständigenrats als Chefreformer des Ministeriums war zu besichtigen; und am Ende kam das Eingeständnis, dass nun erst in der nächsten Wahlperiode - unter dem Leitbegriff des "solidarischen Wettbewerbs" - eine "umfassende Reform" des Gesundheitswesens begonnen werden sollte.
Was heißt heute eigentlich "solidarisch"?
Immerhin, einige wichtige Weichen wurden unter Ulla Schmidt gestellt. So ist das Ende der Gesundheitspolitik als reine Kostendämpfungspolitik wohl endgültig besiegelt. Mehr Qualität und Effizienz ins Gesundheitswesen zu bringen soll das Ziel sozialdemokratischer Gesundheitspolitik in den kommenden Jahren sein. Umso wichtiger wird es, verlorene Zeit wieder aufzuholen. Dabei müssen auch Grundbegriffe überprüft und gegebenenfalls neu definiert werden. "Solidarität" ist so ein Begriff. Ist es zum Beispiel wirklich solidarisch, wenn nicht mit Erziehungsarbeit beschäftigte Ehepartner kostenlos mitversichert sind? Darf die gesetzliche Krankenversicherung als Verschiebebahnhof missbraucht werden - etwa um andere Sozialkassen wie die Arbeitslosenhilfe zu entlasten? Und ist "solidarischer Wettbewerb", wie ihn das Wahlprogramm der SPD gefordert hat, auf dem "Gesundheitsmarkt" überhaupt möglich? Die Herrschaft der reinen Ökonomie, die in jüngerer Zeit alle Lebensbereiche zu erfassen droht, muss im Gesundheitswesen unter allen Umständen verhindert werden. Es geht aber nicht allein um ein Zuviel an Ökonomie, sondern auch darum, ob die eingesetzten Instrumente angemessen sind.
Dabei ist die Parole von der "Zwei-Klassen-Medizin", die sich die Kontrahenten vor allem in Zeiten der Wahlkampfs gegenseitig um die Ohren hauen, jedenfalls eine populistische. Bei der Lösung des Problems hilft sie kein bisschen weiter. Jeder halbwegs klar denkende Mensch weiß, dass Zwei-Klassen-Medizin in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten praktiziert wird. Was sonst wären denn die Unterschiede zwischen Privat- und Kassenpatienten?
Und welche Antwort gibt die SPD?
Die entscheidenden Fragen lauten daher: Wie können wir heute und in Zukunft für alle in diesem Land lebenden Menschen hochwertige Gesundheitsversorgung sicherstellen? Welchen Gesundheitsstandard der Bevölkerung wollen wir erreichen? Wie viel Eigenverantwortung kann dem Einzelnen zugemutet werden? Welche Antworten auf diese Fragen geben die Parteien? Und welche gibt die SPD?
Die Grünen sind nach dem Rücktritt Andrea Fischers in gesundheitspolitische Agonie verfallen. Die FDP betreibt kaum konsensfähige Klientelpolitik. Und die Union, mit Horst Seehofer an der einsamen Spitze, wartet allenfalls mit unausgegorenen Reformvorschlägen auf. Plausible Lösungsvorschläge dafür, wie etwa die Finanzmisere der gesetzlichen Krankenversicherung behoben werden kann, hat sie bislang nicht vorgestellt. Zumindest im Vergleich mit den anderen Parteien stehen die Sozialdemokraten gar nicht so schlecht da. Der rot-grüne Koalitionsvertrag zeigt denn auch eine eindeutig sozialdemokratische Handschrift: Er stimmt weitgehend mit dem Wahlprogramm der SPD überein. Doch reicht, was er vorsieht, für eine nachhaltige Reform?
Erst unlängst wieder ist die GKV unter finanziellen Druck geraten: Ulla Schmidt musste Anfang September die Halbjahreszahlen für 2002 präsentieren. Trotz ihres Dementis wussten die Experten da längst, dass ab Januar 2003 die Beitragssätze erneut auf breiter Front steigen werden. Um das in letzter Minute noch zu verhindern, plant die alte und neue Gesundheitsministerin, in aller Hektik noch in diesem Jahr ein "Vorschaltgesetz" mit Einsparmaßnahmen durchzusetzen. Doch der genaue Blick auf die Zahlen zeigt: Am Kassendefizit sind vor allem stagnierende Einnahmen schuld, nicht steigende Ausgaben. Der Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt - zentraler Indikator, wenn es um solche Fragen geht - stagniert seit zehn Jahren bei etwas unter 7 Prozent. Die Ausgaben der Krankenkassen sind also in diesem Zeitraum genau so stark - oder so langsam - gestiegen wie das Wirtschaftswachstum. Von "Kostenexplosion" keine Spur. Das zentrale Problem der Kassen sind die steigenden Beitragssätze. Und die steigen vor allem, weil die GKV ein Einnahmendefizit hat - und das wird immer größer. Dafür gibt es mehrere Gründe:
- Die Zunahme der versicherungspflichtigen Entgelte bleibt - etwa aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit - seit Jahren hinter dem Wirtschaftswachstum und den GKV-Ausgaben zurück. Auf der anderen Seite werden bei vielen Menschen die Einkommen aus Vermögen immer wichtiger - aber dafür entrichten sie keine Beiträge. Mit anderen Worten: Die Beitragszahlungen stagnieren, weil die Beiträge auf das in den letzten Jahren nur gering gestiegene Erwerbseinkommen bezogen sind. Nur nebenbei: Diese Finanzierungsweise widerspricht auch dem Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit. Nur als Beispiel: Ein GKV-Mitglied, das ausschließlich über ein monatliches Erwerbseinkommen in Höhe von 3.000 Euro verfügt, zahlt darauf den vollen GKV-Beitrag in Höhe von 210 EUR (Arbeitnehmeranteil bei 14-prozentigem Beitragssatz). Ein anderes GKV-Mitglied, das nur 2.000 Euro Gehalt bezieht, zusätzlich jedoch monatlich Zinseinnahmen in Höhe von 1.000 Euro hat, muss bislang nur 140 Euro Beitrag entrichten. Das ist alles andere als gerecht.
- Verantwortlich für die Beitragssatzsteigerungen der vergangenen Jahre war auch das "Interesse des Staates an sich selbst" (Claus Offe): Der Bund hat - übrigens unabhängig von der jeweiligen Regierung - immer wieder seine Schäfchen auf Kosten der GKV ins Trockene gebracht und sich oder andere von ihm mitfinanzierte Sozialversicherungszweige auf Kosten der GKV saniert. Das ist der altbekannte Trick der "Verschiebebahnhöfe". Dazu gehören die Reduzierung der GKV-Beiträge für Empfänger von Arbeitslosenhilfe oder die Anhebung der Beiträge, welche die GKV für Krankengeldbezieher an Renten- und Arbeitslosenversicherung entrichten muss. Und mit der Eins-zu-eins-Realisierung der Hartz-Reform wird ein weiterer Verschiebebahnhof eröffnet, weil die Absenkung der Arbeitslosenhilfe die GKV-Einnahmen erneut reduziert.
- Für die Zukunft ist auch an die Folgen des demographischen Wandels zu denken: Auf der einen Seite nehmen die zahlreicher werdenden Rentner Gesundheitsleistungen natürlich häufiger in Anspruch als die - zahlenmäßig schwindenden - jüngeren Erwerbstätigen. Soll das Leistungsniveau der GKV nicht reduziert werden, wird dies bei unveränderter Finanzierungsbasis zu deutlich höheren Beitragssätzen führen. Auf der anderen Seite bedeutet der steigende Anteil der Rentner unter den GKV-Mitgliedern dort aber außerdem Einnahmenverluste: Die Beiträge der Ruheständler orientieren sich an der Rente; sie fallen also im Durchschnitt deutlich niedriger aus als bei Erwerbstätigen.
Wie Gesundheit finanziert werden kann
Grundsätzlich hat die SPD das Problem zwar längst erkannt. Im Koalitionsvertrag ist Rot-Grün trotzdem nicht weit genug gesprungen: Die Koalition hat sich auf die Forderung nach der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze beschränkt. So will sie verhindern, dass noch mehr jüngere gut verdienende Erwerbstätige von der gesetzlichen in eine private Krankenversicherung wechseln. Erreicht wurde damit allerdings zunächst das Gegenteil: Nach der Ankündigung haben schnell noch mehr Menschen, die es sich leisten können, die GKV verlassen und sich privat versichert. Weiter gehende Reformen auf der Finanzierungsseite werden im Koalitionsvertrag abgelehnt, denn es soll an der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer festgehalten werden. Das haben vor allem die Gewerkschaften gern gelesen. Die Finanzierungsprobleme der GKV jedoch werden auf diese Weise ganz sicher nicht gelöst.
Was ist stattdessen zu tun? Die Lösung wurde schon oft thematisiert: Soll die finanzielle Basis der GKV langfristig wieder auf eine solidere Basis gestellt werden, muss man sich endlich von ihrer Lohnfixierung verabschieden. Zukünftig müssten dann auch Einnahmen aus Vermietung und Kapital zur Beitragsbemessung herangezogen werden. Damit würde sich die GKV nicht einfach zusätzliche Einnahmen erschließen. Diese wären vor allem stärker an der wirklichen individuellen Leistungsfähigkeit orientiert. Durch die Einbeziehung weiterer Einkommensarten wären die Einnahmen der Krankenkassen zudem unabhängiger von kurzfristigen Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Lohnnebenkosten würden sinken, da sich der darauf bezogene Teil des GKV-Beitrags entsprechend reduzieren ließe. Da Rentner dann zudem nicht nur für ihre Rente, sondern auch für weitere Alterseinkommen Beiträge entrichten müssten, würden außerdem die Folgen des demographischen Wandels abgemildert.
Union und FDP schwingen die Axt
Natürlich: Reformüberlegungen müssen sich auch damit beschäftigen, welche Leistungen die GKV zukünftig noch bezahlen soll. Union und FDP fordern hier etwa die Aufspaltung des GKV-Leistungskatalogs in Grund- und Wahlleistungen, die Einführung von Selbstbehalten und Formen der Beitragsrückerstattung. Solche zunächst sympathisch klingenden Vorschläge setzen allerdings die Axt an die Wurzeln unseres solidarischen Gesundheitswesens. Sie schränken den Risikoausgleich zwischen Kranken und Gesunden ein: Jüngere, gesunde Versicherte entscheiden sich dann - aus durchaus verständlichen Gründen - für solche Möglichkeiten. Aber chronisch Kranke sind weiter auf die volle Leistungspalette der GKV angewiesen und müssten dann dafür möglicherweise sogar noch höhere Beiträge zahlen. Mit Solidarität hätte das nichts mehr zu tun. Die SPD hat solche Forderungen deshalb schon in ihrem Wahlprogramm klar abgelehnt.
Es muss aber schon hin und wieder danach gefragt werden, ob alles, was die GKV bisher leistet, wirklich auch von ihr bezahlt werden soll. Wendet man ordnungspolitische Konzepte auf die Gesundheitspolitik an, wären jedenfalls versicherungsfremde Leistungen aus dem Leistungskatalog der GKV zu streichen. Gesellschafts-, sozial- oder familienpolitische Leistungen der GKV müssten dann künftig vollständig aus Steuermitteln finanziert werden.
Zum ständigen Repertoire gesundheitspolitischer Vorschläge gehört die Forderung, besonders ausgeprägtes Risikoverhalten finanziell auch besonders zu belasten. Das ließe sich beim Konsum von Genussmitteln, deren gesundheitsrelevante Folgeprobleme die GKV belasten, allerdings nur indirekt bewerkstelligen, etwa über einen Aufschlag auf die Umsatzsteuer. Im Fall von Sportunfällen gibt es jedoch eine einfache und elegante Lösung: die Einführung einer (privaten) obligatorischen Unfallversicherung. Wie bei Verkehrsunfällen wäre die GKV dann auch von den Folgekosten solcher Unfälle vollständig entlastet.
Schließlich ist die bislang geltende beitragsfreie Mitversicherung nicht-erwerbstätiger Ehepartner sozialpolitisch nur im Fall der Kinderbetreuung oder Pflege älterer Menschen im Haushalt notwendig. Für alle anderen Fälle könnte etwa die Entrichtung eines Mindestbeitrags erwogen werden. Bei Arbeitslosigkeit eines Ehepartners würde natürlich weiter die Arbeitslosenversicherung den GKV-Beitrag bezahlen.
Wo eine Hand nicht weiß, was die andere tut
In unserem Gesundheitswesen weiß oft die eine Hand nicht, was die andere tut. Das ist nicht nur teuer, es verhindert auch die optimale Versorgung der Patienten. Informations- und Abstimmungsprobleme gibt es zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor, aber auch zwischen niedergelassenen Haus- und Fachärzten. Die Folge sind unnötige Mehrfachuntersuchungen von Patienten. Schuld an solchen Problemen ist die fragmentierte Organisation des deutschen Gesundheitswesens mit seiner äußerst starren Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung; die Organisation der ambulanten Versorgung zumeist über Einzelpraxen; und schließlich die Doppelvorhaltung fachärztlicher Versorgung.
Gerade das zuletzt genannte Problem trägt in erheblichem Umfang zu den hohen Kosten der Gesundheitsversorgung bei. In vielen anderen Ländern Europas findet die fachärztliche Versorgung vor allem im Krankenhaus statt - mit guten Gründen. Fachärzte benötigen eine adäquate medizintechnische Ausstattung, die teuer ist und sich amortisieren muss. Das wiederum fördert den Trend der Leistungsexpansion. Nicht von ungefähr werden im internationalen Vergleich hierzulande bevölkerungsbezogen die meisten ärztlichen Konsultationen und außerdem je Konsultation das größte Leistungsvolumen erbracht. Und nicht ohne Grund fällt Deutschland im internationalen Vergleich durch deutlich überdurchschnittliche Ausgaben für die ambulante Versorgung auf.
Und jeder bewacht sein Tortenstück
Die Bundesregierung hat auf diese Probleme bereits mit der GKV-Gesundheitsreform 2000 zu antworten versucht. Die Stichworte lauteten hier: Der Hausarzt als "gatekeeper" und die so genannte "Integrierte Versorgung". Diese zielte auf die Schaffung von strukturierten Versorgungsketten, welche die verschiedenen Leistungssektoren miteinander verbinden. Auch die neuen Disease-Management-Programme zur Versorgung chronisch Kranker zielen in diese Richtung. Doch all diese Maßnahmen haben bislang nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Unverändert starr abgegrenzt stehen sich die großen Sektoren gegenüber. Und alle Beteiligten achten penibel darauf, dass sie ihren Teil der Torte behalten.
Dass Rot-Grün in dieser Wahlperiode nun bevorzugt Systeme der integrierten Versorgung aufbauen und eine bessere Abstimmung zwischen stationärem und ambulantem Bereich ermöglichen will, ist eine notwendige Folgerung aus solchen Erfahrungen. Doch diese Ziele werden so bereits seit den sechziger Jahren vor jeder neuen Reform formuliert - nur geholfen hat das nie. Was fehlt, sind konkretere Aussagen darüber, wie diese Ziele realisiert werden sollen. Eines scheint sicher: Über "mehr Vertragsfreiheit" der Leistungserbringer und Krankenkassen, mithin also über mehr Wettbewerb, wird man die "bessere Abstimmung" nicht erreichen. Denn wenn Konkurrenz die Handlungsmaxime aller Beteiligten wird, fällt Abstimmung und Zusammenarbeit natürlich schwerer. Die Kassen mit ihrer derzeitigen Organisationsstruktur sehen sich sogar selbst nicht in der Lage, mit Einzelverträgen eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Zudem: Wenn Kassen künftig frei Verträge abschließen dürfen - welches Interesse wird bei ihren Vertragsabschlüssen angesichts der harten Konkurrenz um die Beitragszahler wohl dominieren: Das Interesse an einer optimalen Versorgung ihrer Versicherten oder das Interesse, damit möglichst Ausgaben zu senken und so den Beitragssatz niedrig zu halten?
Öffnung und Abstimmung heißt die Parole
Nicht "mehr Wettbewerb", sondern Öffnung der Sektoren und Abstimmung der Versorgung müssen daher die Ziele künftiger Reformen sein. Will man die verschiedenen Versorgungsbereiche - besonders die niedergelassenen Ärzte und die Krankenhäuser - wirklich integrieren, muss man die Sektoren durchlässiger machen. Auf der einen Seite müssen sich die Krankenhäuser viel stärker für die ambulante Versorgung öffnen können. Ähnlich wie die Ambulatorien in der DDR muss es ihnen künftig möglich sein, Patienten ambulant fachärztlich zu behandeln. Das hat viele Vorteile: Umständliche Überweisungswege und Doppeluntersuchungen (bisher: Hausarzt - niedergelassener Facharzt - Facharzt im Krankenhaus) werden vermieden, und die medizintechnische Ausstattung der Krankenhäuser kann noch effizienter genutzt werden. Auf der anderen Seite müssten niedergelassene Ärzte noch stärker als bisher auch die Möglichkeit haben, im Krankenhaus Operationen und andere Eingriffe durchzuführen.
Will man zudem den anhaltenden Trend zur kostenintensiven fachärztlichen Versorgung im ambulanten Bereich bremsen, muss die Rolle und Steuerungsfunktion des Hausarztes ausgebaut werden. Eine rein freiwillige Lösung, wie sie die Koalitionsvereinbarung vorsieht, wird hier allerdings nur wenig bringen. Das hieße freilich: In Zukunft wäre die freie Arztwahl auf die hausärztliche und bestimmte Bereiche der fachärztlichen Versorgung (Innere Medizin, Kinderheilkunde, Gynäkologie) beschränkt. Andere Ärzte dürften erst nach Überweisung aufgesucht werden.
Längst überlebt hat sich zudem das System der Einzelpraxis. Muss ein Patient aufgrund seiner Erkrankung zu mehreren Ärzten, wird dies angesichts unterschiedlicher Öffnungszeiten und manchmal nicht unerheblichen Entfernungen zum Hindernislauf. Abgesehen davon sind Einzelpraxen im Unterhalt teuer. Die Politik muss deshalb die Zusammenarbeit niedergelassener Ärzte unterschiedlicher Disziplinen in größeren Gemeinschaftspraxen fördern. Vielleicht will die Koalition genau das erreichen, da sie in ihrer Vereinbarung die Zulassung von "Gesundheitszentren" festgeschrieben hat.
Wer bewahren will, muss endlich verändern
Der Koalitionsvertrag hätte als strategischer Plan zeigen sollen, wohin die Reise in der Gesundheitspolitik in den kommenden vier Jahren gehen soll. Die Wirklichkeit enttäuscht: Der große Wurf ist ausgeblieben. Statt eines umfassenden, zielgerichteten Gesamtkonzepts, verliert sich der Vertrag wieder nur im Klein-Klein des Machbaren. Keine Weichenstellung also, sondern nur ein Drehen an einzelnen Stellschrauben des Systems.
Augen zu und durch? Wenn die SPD mit Ulla Schmidt die solidarischen Komponenten der Gesetzlichen Krankenversicherung bewahren will, dann muss das System gerade deshalb auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die Bundesregierung wird sich nicht dauerhaft um die zentralen Aufgaben herummogeln können. Zu diesen Aufgaben gehört in jedem Fall die umfassende Reform der Finanzierungsbasis. Zu ihnen gehört auch die wirksame Öffnung sowie Vernetzung der ambulanten und stationären Versorgung. Bleibt nur zu hoffen, dass die SPD im kommenden Jahr, wenn die Politik der Beitragssatzstabilität erneut gescheitert sein wird, endlich den Mut zur nachhaltigen Reform der sozialen Sicherungssysteme findet.