Warum die Treuesten gekündigt haben
In den Regierungsjahren 1998 bis 2009 haben die Beziehungen zwischen SPD und Gewerkschaften schweren Schaden genommen – mit dramatischen Folgen für die SPD. Von den rund zehn Millionen Wählerstimmen, die in dieser Zeit verloren gingen, geht grob geschätzt ein Fünftel auf das Konto enttäuschter Gewerkschaftsmitglieder. Die SPD hat einen erheblichen Teil ihrer ehemals treuesten Anhänger eingebüßt – ein struktureller Verlust, der auf langfristigen Entwicklungen basiert.
Wann immer eine Partei ihre Wählerschaft verbreitern will, muss sie sich modernisieren, um für neue Gruppen wählbar zu werden. Das Problem besteht darin, dass die Interessen der potenziellen neuen Wähler denen der alten Wählerschichten entgegenstehen können. Im Konfliktfall dürften die Parteiführungen sich aber eher für die neuen als die alten Wähler interessieren, eben weil die neuen Wählerschichten jene Modernität symbolisieren, die Erfolg verspricht. Der Humus des Milieus, aus dem die Partei einst erwuchs, riecht dann muffig, abgestanden, ranzig, ja er wirkt vielleicht sogar abschreckend auf die potenziellen Neuanhänger.Die Entfremdung der Kernwähler
Das Neue und Moderne hingegen wirkt trendy, kann aber traditionsbewussten Anhängern und Wählern übel aufstoßen. Sie haben Werte und Auffassungen der Partei lange gegen Angriffe von Außen verteidigt, selbst wenn der Zeitgeist ihnen feindselig entgegenstand. Werden die dabei verinnerlichten Gewissheiten irgendwann sogar von der eigenen Führung infrage gestellt, entfremdet sich der Kernwählerschaft von ihrer Partei. Und fühlen sich die treuesten Anhänger der Partei nicht mehr verbunden, dann wird es unangenehm. Genau so erging es der SPD in den Jahren ihrer Regierungsverantwortung nach 1998. Über den von Willy Brandt entlehnten Begriff der Neuen Mitte wurde das alte Wählerreservoir erfolgreich erweitert. Somit war der Wahlerfolg 1998 tatsächlich historisch. Und es war nur konsequent, das Bündnis mit der gesellschaftlichen Mitte der Aufsteiger und der Leistungseliten anschließend zu festigen.Unter dem Signum gesellschaftlicher Modernisierung verließ die rot-grüne Bundesregierung auch bisherige sozialpolitische Pfade. Damit stellte sich die SPD gegen Grundüberzeugungen ihrer alten gewerkschaftlichen Kernwählerschaft. Spätestens nach der Wiederwahl 2002 begannen die Sozialdemokraten sogar, mit dieser Gruppe überaus ruppig umzuspringen. Jedenfalls empfanden die Gewerkschaften die sozialdemokratische Regierungspolitik als eine Serie von Zumutungen. Schon bei der Riesterrente in der ersten Legislaturperiode war die Skepsis groß; es folgten das Scheitern des Bündnisses für Arbeit, die Agenda 2010 und in der Großen Koalition schließlich die Rente mit 67. Brüsk kanzelten die Spitzen der SPD die gewerkschaftliche Kritik an den Maßnahmen ab.
Die SPD-Führung fühlte sich den gewerkschaftlichen Funktionsträgern überlegen und wähnte sich auf der Seite der Moderne. In den Gewerkschaftern sah man die Vertreter vergangener Zeiten, als die Werkszeiten großer Industriebetriebe den Takt einer Stadt vorgaben und sich die Arbeiterschaft in der Freizeit zwischen Schrebergarten, Bergmannschor und Büchergilde bewegte. Dieses Arbeitermilieu war zweifelsfrei seit langer Zeit im Schrumpfen begriffen. Dummerweise übersahen die Sozialdemokraten, dass ihre eigenen Mitgliederverluste viel dramatischer waren als die ihres Bündnispartners. Das brachte spürbare Verschiebungen im Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften mit sich. Kamen 1989 auf einen Sozialdemokraten noch acht Gewerkschaftsmitglieder, waren es 2010 schon zwölf. Die Sozialdemokraten haben also weit mehr an gesellschaftlicher Verankerung eingebüßt als die Gewerkschaften.Die SPD ist schneller gealtert
Auch in demografischer Hinsicht entwickelten sich Gewerkschaften und SPD auseinander. Etwa jedes vierte Gewerkschaftsmitglied ist älter als 60 Jahre, aber schon jeder zweite Sozialdemokrat. Die Neueintritte verstärken diese Diskrepanz: Allein in die IG Metall treten innerhalb von zwei Jahren mehr junge Mitglieder unter 28 Jahren neu ein, als die gesamte SPD Mitglieder im Alter unter 35 Jahre hat. Ungeachtet aller Modernisierungsrhetorik ist die SPD wesentlich stärker gealtert als ihre gewerkschaftlichen Schwesterorganisationen.Auch in ihrer beruflichen Stellung unterscheiden sich die Mitglieder mittlerweile deutlich: Die Gewerkschaften stützen sich maßgeblich auf Arbeitnehmer aus industriellen Branchen und industrienahe Dienstleistungsberufen. In der SPD ist der öffentliche Dienst überrepräsentiert, besonders die Bereiche Bildung und Verwaltung. Aus der einstigen Arbeiterpartei ist eine Partei der hohen Qualifikationsstufen mit starker Wissenschaftsaffinität geworden. Wahrscheinlich gibt es in den Reihen der SPD mittlerweile mehr Promovierte als Betriebsratsvorsitzende.
Aus diesen Gründen haben SPD-Mitglieder und Gewerkschaftsmitglieder nur noch wenige Berührungspunkte. Ein Gewerkschaftsmitglied, das im Anschluss an eine berufliche Erstqualifikation ein Studium aufnimmt, ist älter und politisch bereits gründlicher sozialisiert als ein Juso mit seinem direkten Bildungsweg. Darüber hinaus steuern Gewerkschafter eher die gesamte Bandbreite der Studienfächer an, gerne auch technische, medizinische oder wirtschaftswissenschaftliche Fächer. Sozialdemokraten konzentrieren sich häufig auf die sozial- und rechtswissenschaftlichen Fächer.Dieser Entkopplungsprozess ist mittlerweile auf der Ebene der politischen Eliten angekommen. Das Ausscheiden von Klaus Wiesehügel aus dem Bundestag und von Walter Riester aus der Bundesregierung 2002 markiert das Ende einer langen personalpolitischen Tradition: Bis dahin saß stets mindestens ein Vorsitzender einer deutschen Einzelgewerkschaft in der SPD-Bundestagsfraktion. Und immer war mindestens ein hochrangiger Mandatsträger der Gewerkschaften in das Amt eines SPD-Bundesministers berufen worden. Seit fast einem Jahrzehnt fehlen nun diese personellen Verbindungslinien.
Sozialdemokratische Bildungswege
Die spezifische Ausdifferenzierung der Bildungswege bei Sozialdemokraten und Gewerkschaften setzte spätestens in den sechziger Jahren ein. Die unter Schröder maßgebliche Führungsriege der Sozialdemokraten legte zu dieser Zeit das Abitur ab und nahm ein Studium auf. Die Wieczorek-Zeuls, Eichels und Scharpings stammten zwar aus einfachen Verhältnissen und mussten sich ihren Weg mitunter freikämpfen. Dennoch führte ihr Weg letztlich zielgerichtet an die Universität. Diese Generation profitierte bereits von Bildungsreformen – und hatte dadurch Zeit gewonnen für ihre politische Arbeit. Sie konnten über die Jusos in der Partei Fuß fassen und die SPD hier und da sogar majorisieren. Anders verliefen die Sozialisationswege bei vielen gleichaltrigen Gewerkschaftern, die nach der beruflichen Erstqualifikation ein Studium nur über den zweiten Bildungsweg erreichten. Sie hatten nicht in dem Maße von den Bildungsreformen profitiert wie ihre sozialdemokratischen Pendants und hatten in den Gewerkschaften auch weitaus mehr Konflikte auszuhalten.
Noch deutlicher ist die Differenz in der nachfolgenden Generation. Der berufliche Werdegang wie die innerparteilichen Karrieren vieler Sozialdemokraten verlaufen heute recht direkt und unkompliziert. Insofern sind Hubertus Heil, Olaf Scholz oder Frank-Walter Steinmeier typische Kinder der Bundesrepublik. Selbst wenn ihre Elternhäuser noch bildungsfern gewesen sein mögen – das Universitätsstudium war selbstverständlich. Politisch stiegen sie recht unkompliziert über die Jusos und deren ererbte, aber in weiten Teilen sinnentleerte Kultur der Strömungen auf. Rasch werden die Mandate in den Unterbezirken gekapert, die Mitarbeiterstelle bei Landtags- und Bundestagsabgeordneten gesichert oder der Weg in die Ministeriallaufbahn als persönlicher Referent eingeschlagen.Plötzlich gab es eine Alternative
Die Biografien der jungen Gewerkschaftsmitglieder folgen dagegen immer noch eher traditionellen Wegen. Sicher, viele machen mittlerweile das Abitur. Doch prägend ist noch immer die berufliche Erstqualifikation im Betrieb, die dem unmittelbaren Studium vorgezogen wird. Auf dieser fußt dann auch die weitere politische Sozialisation in und mit der Gewerkschaftsarbeit. Das politische Bewusstsein bleibt somit eng an die betriebliche Arbeit angebunden.Kurzum, die Entkopplung von Gewerkschaftern und Sozialdemokraten begann bereits vor der Agenda 2010. Ihre Ursachen liegen in der politischen und beruflichen Sozialisation. Der inhaltliche Bruch verstärkte dann die Absetzbewegung einiger sich längst nicht mehr in der SPD heimisch fühlender Gewerkschafter, die 2004 die WASG als Partei konstituierten. Damit brach eine letzte Haltelinie weg, die der Strategie des Konflikts mit den Gewerkschaften als Kalkül zugrunde lag: Die SPD konnte sich trotz aller Differenzen lange Zeit recht sicher sein, dass die Gewerkschaften im entscheidenden Moment doch wieder an der Seite der Sozialdemokraten stehen würden. Eine strategische Alternative existierte ja nicht. Union und FDP vertraten gerade in den Jahren nach der Jahrtausendwende einen harten neoliberalen Kurs; die Grünen galten seit ihren Gründungsjahren als die natürlichen Gegner der Industriearbeiterschaft; und die damalige PDS war aufgrund ihrer Geschichte für die antikommunistisch sozialisierte Arbeitnehmerschaft Westdeutschlands nicht wählbar. Der SPD-Führung kam es schlicht nicht in den Sinn, dass die Gewerkschaften sich von der SPD abwenden könnten.
Katalysiert durch die Neuwahlentscheidung von 2005 erhielt die PDS dann doch einen veritablen Gewerkschaftsflügel und wurde aus Sicht der Gewerkschaften zu einer wirklichen parteipolitischen Alternative links von der SPD. Geschickt suggerierte die Linkspartei, ihre Stärke werde den Druck auf die SPD erhöhen, sich inhaltlich zu wandeln. Es war wie bei dem Wettrennen zwischen dem Hasen und dem Igel: Was immer die SPD in dieser Zeit an programmatischen Veränderungen einleitete – Mindestlohn, Rentengarantie, Regulierung der Finanzmärkte – die Linke war schon da: „Das haben wir schon immer gefordert, und verursacht hat den Missstand die SPD selbst!“
Gewerkschafter werden pragmatischer
Die Abwanderung von Wählerstimmen aus dem gewerkschaftlichen Lager schmerzt die SPD. Hoffnung kann ihr machen, dass die meisten Gewerkschafter ihr Verhältnis zu den Parteien eher distanziert und pragmatisch sehen. Gerade unter den jüngeren Gewerkschaftsmitgliedern erwächst ein echtes Nur-Gewerkschaftertum: Parteien sind wichtig, aber nicht mehr Teil des eigenen Milieus oder unverzichtbarer Ort eigenen politischen Handelns. Gewerkschaften sollen vor allem unangepasst sein, ganz gleich wer regiert. Damit gibt es im gewerkschaftlichen Lager für die SPD immer noch erhebliches Wählerpotenzial. Doch ein Selbstläufer wird es keineswegs sein, daraus wieder Stimmen zu generieren. Was jedenfalls nicht helfen wird, ist eine Strategie der Ignoranz und Konfrontation. Dafür sind die Gewerkschaften noch immer zu gewichtig. «