Was bleibt?
Es besteht Klärungsbedarf. Der immer schneller fortschreitende Prozess einer globalisierten Wirtschaft und die daraus resultierende Politik der Agenda 2010 haben die Sozialdemokratie tief verunsichert. Die alte Selbstgewissheit, dem Neoliberalismus eine klare soziale Alternative entgegensetzen zu können, scheint gedämpft, bei manchen gar verflogen. Der Markt diktiert dem Staat immer stärker die Rahmenbedingungen und nicht umgekehrt. Das ist gerade für die staatsorientierte SPD bitter. Internationaler Konkurrenzdruck, die Alterung der deutschen Gesellschaft, strukturell hohe Arbeitslosigkeit und immer knappere finanzielle Spielräume des Staates erfordern zudem einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme – was an manchen Stellen tatsächlich einen Rückbau bedeutet. Dabei ist gerade der Sozialstaat der Kern von Identität und Selbstbewusstsein der SPD. Orientierung tut also Not. Liegt das sozialdemokratische Jahrhundert wirklich hinter uns? Was bleibt vom sozialdemokratischen Projekt als gesellschaftlichem Fortschrittsimpuls im Zeitalter der Globalisierung?
Antworten auf diese Fragen liefern zwei kürzlich erschiene Bücher von Thomas Meyer, die nicht nur ihrem Umfang nach gewichtig sind. Auf 685 Seiten bringt es die Theorie der Sozialen Demokratie. Ihr soll Ende des Jahres ein zweiter Band zur Praxis folgen. Ein vergleichbares Projekt gab es bisher nicht. Gleichsam eine zusammenfassende Einführung liefert das immerhin noch 270 Seiten starke Buch Die Zukunft der Sozialen Demokratie, um das es hier gehen soll.
Thomas Meyer ist kein unbeschriebenes Blatt, sondern wissenschaftlicher Leiter der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Es ist kein Zufall, dass ihn der SPD-Parteivorstand neben Franz Müntefering, Wolfgang Thierse und Ute Vogt in die vierköpfige Redaktionsgruppe für den ersten Entwurf eines neuen SPD-Grundsatzprogramms berufen wurde. Der profilierte Politologe hat bereits ganz wesentlich am Berliner Programm mitgearbeitet und ist sicher einer der einflussreichsten Programmatiker der SPD, auch wenn er lieber im Hintergrund arbeitet. Ihn zeichnet besonders aus, dass er in den Grundwerten fest verankert ist und weder rückwärts gewandtem Traditionalismus noch beliebigem Zeitgeist anhängt.
Ausgangspunkt seines Buches ist die These, dass sich in der heutigen Welt zwei prinzipiell konkurrierende Modelle der Demokratie gegenüber stehen. Auf der einen Seite das libertäre Modell, das beispielsweise die Vereinigten Staaten verkörpern. Der Freiheitsbegriff fuße hier auf einem selbst regulierten Markt und freiem Privateigentum, während der Staat lediglich die Erhaltung der politischen Ordnung garantiere. Demgegenüber gehe der Anspruch der sozialen Demokratie viel weiter. Neben den bürgerlichen und politischen nehme sie auch die sozialen und ökonomischen Grundrechte der Menschen ernst. Sie wolle deshalb sozialstaatliche Sicherung, gesellschaftliche Teilhabe und den Vorrang der politischen Verantwortung vor den Kräften des Marktes. Zu den Vertretern dieses Modells zählt Thomas Meyer prinzipiell die meisten Länder Europas, wobei sich dort unterschiedliche Typen ausgebildet hätten.
Wie sieht es aber im ökonomischen Vergleich der beiden Modelle aus? Scheint nicht das libertäre Element in der globalisierten Welt in den letzten Jahren zugenommen zu haben? Ist die soziale Demokratie noch konkurrenzfähig? Thomas Meyer macht den Sozialdemokraten Mut. Ja, die Globalisierung bedeute eine Herausforderung und zwinge zu Konsequenzen. Aber sie entziehe dem Modell der sozialen Demokratie keineswegs die Grundlagen. Vielmehr lasse sich empirisch nachweisen, dass sich soziale Marktwirtschaften mit grundrechtsgestützten Sozialstaaten – etwa in Skandinavien – im globalen Wettbewerb mindestens ebenso behaupten könnten wie liberale Marktwirtschaften. Ausführlich stellt er in einem gesonderten Kapitel Ländervergleiche dar, die das belegen.
Politik mit den Märkten
Gleichzeitig macht Meyer deutlich, wo er Handlungsbedarf sieht. Alle Länder müssten sich auf die neue weltweite Arbeitsteilung und einen verschärften Wettbewerb einstellen. Meyer plädiert für eine reformorientierte Politik „mit den Märkten“ und nicht gegen sie. Am Ziel der Vollbeschäftigung will er festhalten. Eine national verantwortete Beschäftigungspolitik habe weiterhin erhebliche Handlungsspielräume, etwa über Steuern, Sozialabgaben oder Niedriglohnsubventionen. Auf europäischer Ebene müsse aber endlich die Asymmetrie überwunden werden, dass der Einigungsprozess sich im Wesentlichen zugunsten der freien Märkte und zulasten der politischen Steuerungskompetenzen ausgewirkt habe.
Eine Politik der weitgehenden Rücknahme des Sozialstaats und eine Lohnspirale nach unten verböten sich. Zur nachhaltigen Finanzierung des Sozialstaates kämen vor allem diejenigen Strategien in Betracht, die sich in einzelnen Vorreiterländern als erfolgreich erwiesen hätten, wobei Meyer besonders auf Skandinavien und die Niederlande verweist. Eine gewisse Leistungsreduzierung und stärkere Selbstverantwortung gehörten dazu. Programme zur Aktivierung und Weiterbildung für den Arbeitsmarkt sowie eine auf die Annahme von Beschäftigung bezogene Organisation aktivierender Sozialleistungen sollten Vorrang haben vor Geldtransferleistungen und statussichernden Schutzmaßnahmen.
Eine stärkere Einkommenssteuerfinanzierung des Sozialstaates statt einer lohnbezogenen Beitragsfinanzierung soll Arbeitskosten entlasten und neue Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienstleistungsbereich eröffnen, eine steuerfinanzierte Grundrente zur Lösung der Probleme der Alterssicherung beitragen. Besonders wichtig ist Thomas Meyer die Verknüpfung familien- und bildungsorientierter Reformstrategien. Als Elemente nennt er beispielsweise ein Bürgerrecht auf ganztägige Kinderbetreuung vom frühestmöglichen Vorschulalter an mit einkommensgestaffelten Beiträgen und die Erhöhung der Frauenerwerbsquote.
Ihr Zweifler aller Länder, lest dieses Buch!
Die meisten Punkte sind schlüssig dargelegt und werden theoretisch unterfüttert. Folgen mag man dem Autor allerdings nicht in seiner relativ optimistischen Einschätzung in Bezug auf eine Lockerung des Kündigungsschutzes, wenn auch nur unter der Voraussetzung einer starken Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit, wie in Dänemark. Empirisch lässt sich die von ihm erwartete positive Auswirkung auf den Arbeitsmarkt nicht überzeugend belegen. Nur am Rande geht Meyer auf die Besonderheit der hohen West-Ost-Transferleistungen von jährlich 90 Milliarden Euro im Zusammenhang mit der deutschen Einheit ein, die sich wirtschaftlich negativ auf das Wachstum und die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme in Deutschland auswirken. Von solchen Einzelfragen abgesehen, die in den umfassenderen Werken zur Theorie und Praxis breiter aufgegriffen sein mögen, bietet der Band zur Zukunft der sozialen Demokratie einen überzeugenden Ansatz. Vor allem ist er eine lohnende Lektüre für alle, die an der Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie zweifeln.
Was also bleibt unter dem Strich vom sozialdemokratischen Projekt? Bei einer Vorstellung seines Buches zur Zukunft der Sozialen Demokratie in Köln wurde der Autor von einem Teilnehmer etwas skeptisch gefragt, was denn die Sozialdemokratie heute noch zusammenhalte. Hierauf antwortete Thomas Meyer, dass es nicht mehr „wie in den Kindertagen unserer Bewegung“ eine überschwängliche Erlösungsverheißung ist, aber doch ein großes Versprechen gebe: „Wir stehen für die Garantien einer sozialen Demokratie. Wir sichern den grundrechtsgestützten Sozialstaat. Wir organisieren die politische, soziale und ökologische Einbettung der Marktwirtschaft. Wir stellen nicht nur die Chancengleichheit im gesamten Bildungssystem her, sondern gewährleisten eine faire Chancengesellschaft, die allen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Entfaltung ihrer persönlichen Fähigkeiten ermöglicht. Wir garantieren die sozialen Voraussetzungen für ein gesichertes und selbst bestimmtes Leben. Wir wissen, dass erst ein gesichertes soziales Europa und eine faire Globalisierung die Voraussetzungen unserer Vision dauerhaft machen.“ Das alles sei zwar nicht der Himmel auf Erden, aber machbar und in der Risikowelt der Gegenwart ein großer Anspruch. Ihm gerecht zu werden, sei „der bleibende Sinn und die politische Rechtfertigung einer sozialdemokratischen Partei“. Es ist zu wünschen, dass die beiden Bücher von Thomas Meyer eine große Verbreitung finden. Sie liefern wichtige Impulse für die demnächst wieder anstehende Programmdebatte in der SPD. Diese wiederum bietet eine große Chance, sich der eigenen Ziele zu vergewissern, die hierfür notwendigen Instrumente kritisch zu prüfen, eine klare Orientierung zu geben und neues Selbstbewusstsein zu tanken. Das Projekt lebt – gerade unter den veränderten globalen Bedingungen. Die soziale Demokratie bleibt eine dauernde Aufgabe.
Thomas Meyer (mit Nicole Breyer), Die Zukunft der Sozialen Demokratie. Herausgegeben und zu beziehen von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2005, 270 Seiten
Thomas Meyer, Theorie der Sozialen Demokratie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 685 Seiten, 39,90 Euro