Was Müntefering übersieht
Aus dem Ausland kaufe sich zunehmend „großes Geld mit kurzfristigem Profitinteresse“ ein und beute „Unternehmen in kurzatmigen Zyklen aus“, kritisierte jüngst der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. „Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.“ Und: „Die international forcierten Profitmaximierungsstrategien gefährden auf Dauer unsere Demokratie.“
Ungestörte Managerzirkel? Das ist vorbei
Wahr ist: Angestoßen durch technologische Veränderungen auf den Aktienmärkten, durch das Wachstum institutioneller Anleger und die internationale Diversifizierung ihrer Anlagestrategien hat sich das Verhältnis von Unternehmen und Kapitalmärkten in der vergangenen Dekade grundlegend gewandelt. Zum Guten wie zum Schlechten: Vorbei sind die Zeiten, in denen sich Managerzirkel ungestört vor der Kontrolle durch ohnehin unterentwickelte Aktienmärkte schützen konnten. Reformen der Finanzmarkt- und Unternehmensregulierung trugen dazu bei, die Unternehmen für den Zugriff der Kapitalmarktteilnehmer zu öffnen. Davon zeugt die Durchsetzung des Prinzips „one share, one vote“ ebenso wie Reformen der Rechnungslegung, verlässliche Regeln für freundliche und feindliche Übernahmen, verschärfte Offenlegungspflichten gegenüber Hauptversammlungen und Aufsichtsorganen und die politische Beschleunigung der Auflösung des Netzwerks aus Kapitalbeteiligungen und Personalverflechtungen. Von der Deutschland AG zum Finanzplatz Deutschland.
Was Müntefering allerdings verschweigt: Gerade die Sozialdemokratie stand in den vergangenen Jahren für aktionärsorientierte Reformen und die Auflösung des organisierten, managerzentrierten Kapitalismus deutschen Typs. Lassen wir einige dieser Reformen Revue passieren. Kurz vor dem Regierungswechsel im Jahr 1998 verabschiedete die Regierung Kohl das „Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich“ (KonTraG), das unter anderem Stimmrechtsbeschränkungen auf Hauptversammlungen verbot, Aktienoptionsprogramme und Aktienrückkäufe legalisierte. Als das Gesetz beraten wurde, zeigte sich, dass die SPD weiter gehende Vorstellungen hatte als die CDU: Sie wollte Banken verbieten, Kapitalbeteiligungen von mehr als fünf Prozent an Industrieunternehmen zu halten. Die SPD wollte ein Entflechtungsgesetz, um ein marktorientierteres Modell der Unternehmenskontrolle durchzusetzen.
Schließlich an der Macht, verabschiedete die Regierung Schröder im Jahr 2000 eine umstrittene Reform der Körperschaftssteuer und schaffte damit die Steuer auf Gewinne aus Beteiligungsveräußerungen bei Aktiengesellschaften ab. Damit erleichterte sie vor allem Banken den Verkauf von industriellen Aktienpaketen. In der Tat hat sich die Auflösung des von Aktionärsaktivisten bekämpften Unternehmensnetzwerks seither beschleunigt. Die Unionsparteien stritten gegen die Reform. Im Wahlkampf des Jahres 2002 versprach Kanzlerkandidat Stoiber, als Kanzler die Steuer auf Veräußerungen von Kapitalbeteiligungen wieder einzuführen.
Eine ähnliche Konstellation zeigte sich bei der Übernahmeregulierung. Die CDU wandte sich früher als die SPD gegen die im Juli 2001 vom Europäischen Parlament abgelehnte, vergleichsweise liberale Version der Übernahmerichtlinie, die angegriffenen Unternehmen nur vergleichsweise enge Spielräume zur Abwehr feindlicher Übernahmen gelassen hätte. Als die Regierung kurz darauf das nationale Wertpapierhandels- und Übernahmegesetz (WpÜG) verabschiedete, stritt die CDU für mehr, nicht etwa weniger Verteidigungsmöglichkeiten bei feindlichen Übernahmeversuchen. Die CDU wollte die achtzehnmonatige Geltungsdauer von auf Hauptversammlungen beschlossenen Vorratsbeschlüssen auf 36 Monate ausdehnen, die den Vorständen im Fall eines feindlichen Gebots die Einleitung von Abwehrmaßnahmen erlauben. Kurz: Kapitalmarktfreundliche Positionen fand man vor allem bei der SPD.
Ist Deutschland ein Sonderfall? Keineswegs. Nicht so ausgeprägt, aber der Tendenz nach, finden wir in Frankreich eine Parteienkonstellation, die der deutschen ähnelt. Dort erreichten aktionärsorientierte Reformen ihren Höhepunkt zwischen 1997 und 2002 unter der Regierung des Sozialisten Jospin. Besonders deutliche parteipolitische Unterschiede in Fragen der Unternehmenskontrolle zeigen sich in Italien. Das entscheidende italienische Gesetz zur aktionärsorientierten Reform der Unternehmenskontrolle datiert von 1998 und wurde von der Mitte-Links-Regierung unter D’Alema verabschiedet. D’Alema gehört der PDS an, der Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei Italiens. Bremser der Reform, die vor allem auf die Stärkung der Rechte der Minderheitsaktionäre, aber auch auf die Erleichterung von Übernahmen zielte, war Berlusconis Forza Italia.
Schwarenegger gegen die Aktionäre
Von Europa nach Amerika. Auch Demokraten und Republikaner in den Vereinigten Staaten weisen in Fragen der Unternehmensregulierung unterschiedliche Profile auf. Der Sarbanes-Oxley Act aus dem Jahr 2001 war die umfassendste Reform der Unternehmenskontrolle seit den dreißiger Jahren. Das Gesetzespaket, eine Reaktion auf Betrug und Misswirtschaft von Enron bis WorldCom, zentralisierte das (traditionell den Gliedstaaten zustehende) amerikanische Unternehmensrecht, weitete die Überwachsungsbefugnisse der Börsenaufsicht aus, stärkte die Unabhängigkeit der audit committees und legte Managern, Direktoren und Rechnungsprüfern strengere Pflichten und höhere Strafen bei Pflichtverletzungen auf. Die Reform fiel in die Präsidentschaft des Republikaners Bush. Sie war aber vor allem ein Erfolg der Demokraten (und nicht zuletzt der gewerkschaftsnahen Fonds), die die zögerliche und managerfreundliche Bush-Regierung vor sich hertrieben.
Gegen den Widerstand der Demokraten betreiben Republikaner derzeit die Verwässerung einzelner Sarbanes-Oxley-Regeln. Und in Kalifornien arbeitet der Republikanische Gouverneur Schwarzenegger an der Privatisierung und Zerschlagung der Pensionsfonds der öffentlichen Beschäftigten, allem voran dem in Fragen der Unternehmenskontrolle besonders aktiven CalPERS. Diese Fonds kritisieren amerikanische Konservative und führen eine Hexenjagd gegen Manager großer Unternehmen. Sind die Unternehmensskandale schon wieder vergessen? Im Februar dieses Jahres kommentierte die Los Angeles Times: „Darum haben Schwarzenegger und seine rechtslastigen Ideologen die Pensionsfonds ins Visier genommen: Nicht weil die Fonds vom rechten Weg abgekommen sind, sondern weil sie im Namen einfacher Aktionäre dafür kämpfen, Transparenz und Verantwortlichkeit zurück in den amerikanischen Kapitalismus zu tragen.“
Die Parteien rechts der Mitte als Verteidiger des deutschen und französischen „rheinischen“ Kapitalismus, des italienischen Familienkapitalismus und des amerikanischen Managerialismus, während Linksparteien für die Rechte der Aktionäre und den Marsch in den Finanzmarktkapitalismus streiten? Das klingt merkwürdig. Aber es sieht fast so aus. Zugegeben: Die Unterschiede in den parteipolitischen Positionen sind nicht immer groß. Wo sich Parteien in Fragen der Unternehmensregulierung unterscheiden, begegnen wir allerdings immer wieder dieser Konstellation. Die Sozialdemokratie als Partei der Finanzmärkte? Ein erklärungsbedürftiges Phänomen ist das allemal.
Was Anleger und Beschäftigte gemein haben
Vergegenwärtigen wir uns zunächst, was jedenfalls keine Erklärung für das beschriebene Phänomen ist. Der Kern der Sache ist nicht, dass das Arbeitnehmermilieu seit Jahrzehnten schrumpft und sich die Linksparteien auf der Suche nach neuen Wählerschichten nach rechts bewegen. Diese Beobachtung ist zwar korrekt. Die Haltung der Linksparteien in Fragen der Unternehmenskontrolle ist aber nur vor dem Hintergrund der größeren Nähe sozialdemokratischer Parteien zu Arbeitnehmerinteressen zu verstehen. Grundlegend ist darüber hinaus: Institutionelle Anleger und Beschäftigte sind in Auseinandersetzungen über die Unternehmensregulierung nicht allein. Beide sind in Konflikte mit organisierten Managerinteressen und Großaktionären verwickelt – und entdecken dabei Schnittmengen ihrer Interessen.
Man kann die Rechte der Kleinaktionäre nicht stärken, ohne den vorher privilegierten Führungskräften und Mehrheitsaktionären weh zu tun. Ist es nicht bemerkenswert, dass die alte Forderung der Aktionärsverbände nach personenbezogener Offenlegung der Managergehälter von der Sozialdemokratie aufgegriffen, von Christdemokraten und Liberalen aber gebremst wird? Eine Volkspartei wie die CDU ist zwar keine „Klassenpartei“. Aber konservative Parteien sind mit organisierten Wirtschaftsinteressen enger verbunden als Linksparteien. Man denke etwa an den Wirtschaftsrat der CDU: In der SPD existiert nichts Vergleichbares. Diese Verbindungen sind umso stärker, je länger konservative Parteien in der Vergangenheit ununterbrochen die Regierungsverantwortung trugen. Italien, wo Mitte-Links-Parteien erstmals in den neunziger Jahren Regierungen führten, ist das extremste Beispiel dafür. Die engen, vor allem aber korrupten Beziehungen zwischen Christdemokraten und Wirtschaft waren Ursache für den Zusammenbruch des italienischen Parteiensystems in den frühen neunziger Jahren. Berlusconis Forza Italia ist auf dem besten Weg, die alte Stellung der italienischen Christdemokraten einzunehmen.
Auch Arbeitnehmer kaufen Aktien
In allen westlichen Industrieländern gewinnt die Aktie als Anlageform an Bedeutung. Immer mehr Arbeitnehmer sind gleichzeitig Aktionäre, was den Aktionärsschutz zunehmend zu einem Parameter arbeitnehmerorientierter Politik macht. Noch einmal nach Italien. Dort löste – ganz anders als in Deutschland – die Aussicht, sich mit dem Euro von der inflationsgeplagten Lira verabschieden zu können, eine Welle der Euphorie aus. Um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, mussten die öffentlichen Haushalte saniert werden. Das beste Mittel dazu: Privatisierungen. Eine Linksregierung, die Aktien von Staatsunternehmen an die eigene Wählerklientel verkaufen will, muss etwas für den Aktionärsschutz tun. Rentenreformen zur Stärkung der privaten Altersvorsorge haben denselben Effekt. Je mehr Arbeitnehmer ihre Ersparnisse in Aktien anlegen – besonders ausgeprägt natürlich in den Vereinigten Staaten –, desto mehr interessiert sich gerade die arbeitnehmerorientierte Politik für den Schutz der Minderheitsaktionäre vor Übervorteilung durch Banken, Manager und Großaktionäre.
Die Deutschland AG wird aufgelöst
Aber nicht nur für Arbeitnehmer in ihrer Rolle als Anleger, auch für die „eigentlichen“ Arbeitnehmerinteressen sind die Reformen der vergangenen anderthalb Dekaden attraktiv. Beschäftigte haben kein Interesse an unkontrollierten Handlungsspielräumen der Führungskräfte, in denen Manipulation und Selbstbedienung gedeihen: Also besser die Aktionäre stärken, als dass den Managern niemand auf die Finger schaut. Mehr noch: Werten die Reformen die Aufsichtsorgane auf, stärkt dies unter Umständen sogar, wo sie existiert, die Mitbestimmung. Als das deutsche Mitbestimmungsgesetz im Jahr 1976 verabschiedet wurde, reagierten viele Unternehmen mit der Kürzung der Kataloge zustimmungspflichtiger Geschäfte, um die Mitbestimmung in Kernfragen der Unternehmenspolitik zu begrenzen. Derzeit gewinnen diese Kataloge wieder an Bedeutung, angestoßen vor allem durch die neue Aktienkultur. Jede Stärkung des Aufsichtsrats ist eine Stärkung der Mitbestimmung.
Fest steht: Motoren aktionärsorientierter Reformen waren seit den neunziger Jahren in so unterschiedlichen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten vor allem Parteien der linken Mitte. Deren Eintreten für den anonymen Kleinanleger ist ehrenwert. Die von Müntefering beklagte Machtverschiebung zwischen Unternehmen und Kapitalmärkten ist damit aber nicht zuletzt die direkte Folge einer spezifisch sozialdemokratischen Politik der Unternehmenskontrolle, die für das gezügelte Management steht – gezügelt sowohl durch die Mitbestimmung, als auch durch Verantwortlichkeit gegenüber den Kapitalmarktteilnehmern. Die Zahl der deutschen Industrieunternehmen, die aufgrund ihrer Eigentümerstrukturen potenzielle Übernahmeziele sind, nimmt weiter zu. Hätte es eine Halbierung der Körperschaftssteuer auf Gewinne aus Beteiligungsverkäufen auf zwanzig Prozent nicht auch getan? Und hat man sich Ende 2003 – im Konsens mit der Opposition – nicht aus freien Stücken für die Zulassung von Hedgefonds entschieden? Die Auflösung der Deutschland AG zeitigt zweifellos ambivalente Ergebnisse. Münteferings Kapitalismuskritik – in Wahrheit Kritik an einer spezifischen Spielart kapitalistischen Wirtschaftens – hat einen wahren Kern. Aber die Kritik zielt auf die Geister, die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik erst auf dem Plan rief.
Der Artikel ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Aufsatzes aus Die Mitbestimmung, der Monatszeitschrift der Hans-Böckler-Stiftung.