Was wäre wenn: Frieden in Syrien
Seit dem Beginn des Krieges in Syrien haben nach Angaben des UNHCR fast fünf Millionen Menschen das Land verlassen. Hunderttausende von ihnen sind nach Europa geflohen, aber noch wesentlich mehr in die Nachbarstaaten Türkei (2,8 Millionen), Libanon (1 Million), Jordanien (650 000), Irak (230 000) und Ägypten (115 000). Ob und wann sie nach Kriegsende in ihre Heimat zurückkehren können, ist völlig ungewiss.
Ende Februar sollen die Friedensgespräche zwischen den syrischen Konfliktparteien unter Vermittlung der Vereinten Nationen in Genf fortgesetzt werden. Die Delegationen von Regierung und Rebellengruppen beraten zunächst einzeln mit dem UN-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, ehe direkte Friedensgespräche beginnen. Angenommen, die Verhandlungen wären erfolgreich und 2017 gelänge eine dauerhafte Befriedung des Konflikts: Was würde danach folgen? Welche Bedingungen müssten geschaffen werden, damit die geflohenen Syrerinnen und Syrer in ihr Land zurückkehren und es wieder aufbauen können?
Kurz nach den ersten friedlichen Demonstrationen gegen die syrische Regierung im Frühjahr 2011 prägten große Plakate mit illustrierten Zukunftsszenarien das Stadtbild von Damaskus: In der Mitte geteilt, war auf der Plakathälfte blauer Himmel zu sehen, Schäfchenwolken, und davor die im Wind flatternde syrische Fahne. „Ja“ stand darüber in großen Lettern. Die zweite Hälfte war in Schwarz- und Rottönen gehalten, zeigte Rauch und Zerstörung, darüber den Schriftzug „Nein“. Die auf die Wände gesprühten Slogans „Assad – oder wir brennen das Land nieder!“ brachten die Botschaft auf den Punkt.
Sechs Jahre später sind die Drohungen wahr geworden. Große Teile des Landes und viele Städte sind zerstört, Hundertausende gestorben, Millionen auf der Flucht in- und außerhalb des Landes. Während Kriegsverbrechen und Verletzungen von Menschenrechten aller Konfliktparteien umfassend dokumentiert sind, ist die Vernichtung von Menschenleben durch den syrischen Staatsapparat nicht nur in ihrem Ausmaß, sondern vor allem in ihrer grausamen Systematik unvergleichlich.
Bashar al-Assad ist immer noch der Präsident des Landes, auch wenn es vielerorts „verbrannt“ ist und er es nur noch in Teilen beherrscht. Aber auch in den Gegenden, die unter der Kontrolle des Regimes stehen, liegt die Macht nicht mehr allein in Assads Händen. Die wichtigen Entscheidungen werden längst in Teheran und Moskau getroffen und vom Regime mithilfe von Geheimdiensten, Soldaten, Milizen und Geschäftsabkommen in die Tat umgesetzt. Die Landesteile, die nicht von der Regierung und ihren Verbündeten kontrolliert werden, unterstehen – grob gesagt – entweder dem so genannten Islamischen Staat (IS), der kurdischen PKK-Schwesterpartei PYD oder einer der vielen Rebellengruppierungen. So existieren in Syrien inzwischen multiple Realitäten nebeneinander, in denen unterschiedliche, oft entgegengesetzte Regelwerke gelten. Sie sind durch dynamische Frontverläufe voneinander abgegrenzt und stehen unter dem Einfluss der verschiedenen regionalen und internationalen Akteure.
Was wird aus Bashar al-Assad?
Um in dieser komplexen Situation eine Befriedung Syriens zu erreichen, bedarf es elementarer Grundvoraussetzungen, die hier nur schematisch dargestellt werden können. Zunächst müsste eine landesweite Waffenruhe dauerhaft garantiert werden. Dass dies grundsätzlich möglich ist, wenn alle an dem Konflikt beteiligten Akteure in die Verhandlungen einbezogen werden, haben bisherige Feuerpausen gezeigt. Sie haben aber auch deutlich gemacht, wie zerbrechlich derartige Vereinbarungen sind und wie leicht sie sich zerstören lassen.
Parallel zu einem Waffenstillstand – und nicht weniger dringend – müsste die Zivilgesellschaft humanitär versorgt werden, unabhängig davon, in welchem Teil Syriens sie lebt. Dies ist bisher auch in den Feuerpausen nicht geschehen. Die Belagerungen müssten aufgegeben und Hilfslieferungen landesweit zugelassen werden. Die Hilfstransporte der Vereinten Nationen sind von der Genehmigung durch das Regime abhängig, die bislang in den meisten Fällen nicht erfolgt ist.
Das Kernelement eines dauerhaften Friedens ist jedoch ein glaubwürdiger politischer Übergangsprozess. Wie dieser aussehen kann und in welchem Ausmaß das syrische Regime und besonders Bashar al-Assad an einer Übergangsregierung beteiligt werden sollten, ist in zahlreichen öffentlichen Erklärungen und Strategiepapieren der verschiedenen Konfliktparteien dargestellt worden und Gegenstand der aktuellen Friedensverhandlungen.
Zu den Grundvoraussetzungen eines politischen Übergangs gehören die Freilassung aller politischen Gefangenen sowie Straffreiheit für alle, die aus politischen Gründen ins Exil gegangen sind. Um den außer Landes Geflüchteten eine Rückkehr zu ermöglichen, müsste darüber hinaus auch ein gewisses Maß an Rechtsstaatlichkeit garantiert werden, das vor willkürlichen Verhaftungen und Entführungen schützt. Dies ist vermutlich der schwierigste Schritt, da das Vertrauen in die staatlichen Institutionen gebrochen ist und erst langsam wieder aufgebaut werden kann, etwa durch einen transparenten Prozess der Übergangsjustiz sowie eine grundlegende Neuorientierung der Ordnungskräfte. Wer in relativer Sicherheit im Ausland lebt, wird eine Rückkehr nur wagen, wenn ihm oder ihr auch in der Heimat keine Gefahr droht.
Wie könnte eine Übergangsregierung aussehen?
Schließlich werden Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe-Programme gebraucht sowie Unterstützung zur Wiederbelebung beziehungsweise Normalisierung der Wirtschaft. Hier wurde bereits viel Vorarbeit geleistet: Seit Ausbruch des Konflikts planen internationale Organisationen für dessen Ende, haben Projekte entworfen und Zuständigkeiten abgesprochen. Der Erfolg dieser Bemühungen zum Wiederaufbau wird jedoch von der erfolgreichen Verwirklichung der genannten Voraussetzung abhängen.
Bisher sind die Friedensverhandlungen vor allem an der Frage gescheitert, wie eine mögliche Übergangsregierung zusammengesetzt sein soll. Gesprächsgrundlage der Verhandlungen ist die Genfer Vereinbarung aus dem Jahr 2012. Darin heißt es, dass – beginnend mit einem Waffenstillstand – eine Phase des politischen Übergangs eingeleitet werden soll. Ob Machthaber Assad Teil dieser Phase sein soll oder nicht, beantwortet die Genfer Vereinbarung nicht. Die syrische Opposition ist zur Zusammenarbeit in einer Übergangsregierung mit Diplomaten und Technokraten der bisherigen Regierung bereit. Eine Beteiligung von Assad selbst und dessen Führungsriege schließt sie angesichts des Ausmaßes der begangenen Kriegsverbrechen und der fehlenden Legitimität durch Wahlen jedoch kategorisch aus. Allerdings verfügen die oppositionellen Gruppen über wenige politische Hebel, um ihre Forderungen auch durchzusetzen.
Noch stärkere Kräfte wirken auf der regionalen Ebene, wo die Interessen ebenfalls divers sind. Die iranische Regierung fürchtet im Falle eines Machtwechsels in Syrien, ein entscheidendes Element ihres schiitischen Einflussbereichs zu verlieren, der aktuell von Teheran über Bagdad und Damaskus bis nach Beirut reicht. Den iranischen Einfluss im Nahen Osten zurückzudrängen, ist hingegen das Hauptanliegen Saudi-Arabiens. In Syrien stärkt es – wie auch Katar – daher sunnitische Gruppen, darunter auch Salafisten. Die Türkei wiederum unterstützt die Opposition gegen Assad. Wichtiger ist es für die türkische Regierung jedoch, den Einfluss der syrischen Kurden zu beschränken, besonders den der PYD, die im Nordosten Syriens ein autonomes Gebiet kontrolliert.
Unter den internationalen Akteuren ist die russische Regierung die aktivste. Russland möchte als Weltmacht wahrgenommen werden, sich im Nahen Osten als ordnender Akteur behaupten und seine Militärbasen in Syrien sichern. Die amerikanische Unterstützung der Rebellen bei gleichzeitiger Nichteinmischung blieb unter der kritischen Schwelle, die einen Regimewechsel hätte herbeiführen können. Aktuell konzentriert sich die Strategie Washingtons vor allem auf den Kampf gegen den IS. Diese Priorität könnte durch ein Zugehen von Donald Trump auf Wladimir Putin noch verstärkt werden. Die europäischen Regierungen, die angesichts der Flüchtlingskrise eigentlich ein starkes Interesse an einer Lösung des Syrien-Konflikts haben, treten uneins und zögerlich auf.
Auf die Reihenfolge der Schritte kommt es an
Ein möglicher Frieden in Syrien wäre davon bestimmt, welchen Interessen in welchem Ausmaß Rechnung getragen wird. Erst wenn sich das klarer abzeichnet, und auch deutlicher wird, welche Fakten Iran und Russland inmitten des Kriegsgeschehens in Syrien bereits geschaffen haben, ist es möglich, realistische Szenarien eines Nachkriegssyriens zu entwerfen und Fragen nach dem Wiederaufbau und der Rückkehr von Geflüchteten zu beantworten.
Bereits heute lässt sich jedoch sagen, dass die Reihenfolge der notwendigen Schritte, die zu einem dauerhaften Frieden führen sollen, entscheidend ist. Auf der Grundlage einer Waffenruhe und umfassender humanitärer Versorgung der Bevölkerung muss die Verhandlung eines Machtwechsels erfolgen. Hierzu sollten die Möglichkeiten ausgelotet werden, mit Iran und Russland über akzeptable Alternativen zu Assad zu verhandeln, um so einen geordneten Machtwechsel in Gang zu setzen, der bereits im Dezember 2015 per UN-Resolution beschlossen worden ist.
Auch wenn es aus westlicher Sicht bequemer erscheinen mag, sich mit Assad zu arrangieren und sein Regime – womöglich in einem Rumpfstaat – zu stabilisieren, wäre dies angesichts des ausführlich dokumentierten Staatsterrors in Syrien nicht nur unmoralisch, sondern auch kurzsichtig. Zum einen würden die vielen Menschen, die vor gezielter Verfolgung und willkürlichen Festnahmen durch Geheimdienst, Militär und marodierende Milizen geflüchtet sind, nicht nach Syrien zurückkehren, solange Bashar al-Assad und seine Führungsriege weiter an der Macht sind. Zum anderen kann auch der IS erst erfolgreich bekämpft werden, wenn es eine realistische Aussicht auf einen Machtwechsel in Damaskus gibt. Ohne eine solche Perspektive lassen sich die Extremisten zwar mit militärischer Übermacht in den Untergrund drängen, aber sie werden in ihrer Propaganda vom „Kampf der Sunniten gegen den Rest der Welt“ bestätigt und weiterhin Zulauf haben.
Syrien braucht Frieden, nicht Friedhofsruhe
Vor allem sollte der Westen die Handlungen des Assad-Regimes nicht bedingungslos hinnehmen. Natürlich sollte die syrische Bevölkerung Zugang zu der dringend benötigten Unterstützung erhalten. Aber die humanitäre Hilfe oder gar wieder aufgenommene Entwicklungszusammenarbeit wird unter den aktuellen Machtverhältnissen im Land unweigerlich zu einem Druckmittel in den Händen des Regimes. Die zahlreichen Berichte über die Manipulation und damit Parteilichkeit der UN-Hilfe in Syrien haben dies ausreichend belegt. So wünschenswert und im Sinne aller ein Wiederaufbau des Landes und die Rückkehr der Geflüchteten sind, die politischen Grundlagen für einen Machtwechsel dürfen diesen Zielen nicht untergeordnet werden. Sonst kann das Ergebnis nur eine kurzfristige Friedhofsruhe, aber kein dauerhafter Frieden sein.