Weil wir alleine zu schwach sind
„Die atlantische Ära ist jetzt auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung – die pazifische Ära, dazu bestimmt, die größte von allen zu sein, beginnt gerade erst heraufzudämmern“, schrieb Theodore Roosevelt bereits 1903. Ein Jahrhundert später lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Asien, der dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt. Chinas atemberaubender Aufstieg zu einer wirtschaftlichen Supermacht in nur dreißig Jahren hat Millionen Menschen aus der Armut befreit. Heute ist die Volksrepublik die „unverzichtbare Macht“, wie David Miliband sie nannte, sowohl wegen ihrer Größe als auch wegen der Rolle, die sie in der Weltpolitik spielen wird. Will Europa nicht an den Rand einer von den G-2 China und Vereinigten Staaten dominierten Welt gedrängt werden, muss es sich als Vermittler engagieren, um innerhalb der Troika EU-China-USA Antworten auf globale Fragen zu finden.
Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die Gewichte der Weltwirtschaft verschoben. Noch 2008 standen die USA für 20,5 Prozent, die Euro-Zonen-Länder für 15,5 Prozent und China für 11,5 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ein. Beschleunigt von der Finanz- und Wirtschaftskrise wird das internationale System zusehends multipolar. Aufstrebende wirtschaftliche Supermächte wie China, Indien, Brasilien und ein wiedererstarkendes Russland verändern das internationale Machtgefüge zu einer Zeit, in der die Hegemonie der Vereinigten Staaten weniger absolut ist. Im Jahr 2010 stieg China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht und zum Exportweltmeister mit einem Handelsüberschuss in Höhe von 175 Milliarden Dollar auf. China verfügt über die größte Geldreserve der Welt und hält als größter Kreditgeber der USA Schuldtitel im Wert von 900 Milliarden Dollar. Für diesen rasanten Aufstieg des Boomlandes zahlt die Welt einen Preis: China ist zum Klimasünder geworden und sucht seinen unersättlichen Hunger nach Rohstoffen vor allem in Afrika zu stillen.
Das Land ist bereits heute eine Weltmacht, zu diesem Schluss kam unlängst auch das European Council of Foreign Relations: In Peking getroffene Entscheidungen, sei es auf den Gebieten Klimawandel, Atomwaffen oder Wirtschaft, sind für globale Entwicklungen ausschlaggebend. Europa und Amerika drängen China dazu, endlich anzuerkennen, dass der Status einer ökonomischen Großmacht Hand in Hand mit weltpolitischer Verantwortung geht. Es gibt ermutigende Zeichen, dass China sich diesem Auftrag nicht entziehen will, etwa sein größeres Engagement in den Vereinten Nationen, auch bei Friedensmissionen. Bislang hat sich die chinesische Außenpolitik immer gegen Unilateralismus und Hegemonialismus ausgesprochen und sich eine „harmonische Weltordnung“ zum Ziel gesetzt. Chinas Streben nach einem ausbalancierten globalen Mächtesystem kommt Europas Ansatz einer „soft power“ entgegen und sollte im Interesse einer multilateralen Weltordnung unterstützt werden. Hingegen sind Chinas harte Interessenpolitik gegenüber ihren Nachbarn und jüngste Erhöhungen der Militärausgaben besorgniserregend, sprechen aber umso mehr dafür, China enger in die internationale Gemeinschaft einzubinden.
Derzeit fehlen Kohärenz und Konsistenz
Das Verhältnis zwischen der krisengeschwächten USA und dem boomenden China birgt gewaltigen Sprengstoff. Man hat den Eindruck, die eine Großmacht stemmt sich gegen den Niedergang, während die andere zum Sprung an die Spitze ansetzt. Diese schwelende Rivalität könnte die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts bestimmen. Die Liste der Streitthemen reicht von der Währungs- und Handelspolitik über Handelsschranken, Schutzzölle, Datendiebstahl, Hackerangriffe bis hin zu Nordkorea und den Menschenrechten. Europa sollte die Rolle einer Vermittlerin wahrnehmen.
Was kann Europa tun, damit sich Chinas Aufstieg nicht gegen die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, sondern mit ihnen vollzieht? Und damit China kein nationalistischer, sondern ein den universalen Werten der internationalen Gemeinschaft verpflichteter Akteur wird? Europa muss seine strategischen Beziehungen zu China ausbauen und einen Dialog auf Augenhöhe suchen. Dafür spricht erstens die Komplementarität der beiden Partner hinsichtlich Produktion und Konsum, Know-how und Finanzmitteln. China und Europa sind in wechselseitiger Abhängigkeit verbunden. Die Handelsbeziehungen wachsen um 16 Prozent jährlich. Als Exportweltmeister ist China zwangsläufig an einer stabilen Weltordnung und einem fairen Handelssystem gelegen. Was uns zum zweiten Argument für engere Beziehungen führt: die Konvergenzen in Bezug auf einige globale Interessen, ungeachtet von Unstimmigkeiten auf anderen Feldern.
Die China-Strategie der EU lässt derzeit an Kohärenz und Konsistenz vermissen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Europäische Außenpolitik noch in ihren Kinderschuhen steckt und auch deshalb nicht vorankommt, weil die nationalen Hauptstädte ihre partikularen Interessen teilweise sogar gegen die gemeinschaftlichen verfolgen. Deshalb gilt es, eine Strategie für die europäische Diplomatie zu entwickeln: Welche Ziele sollte die EU mit welchen Mitteln in Bezug auf Schlüsselpartner und internationale Organisationen verfolgen? Gerade die strategische Partnerschaft bedarf der konzeptionellen Schärfung; europäische Interessen und Ziele sowie die Mittel ihrer Verwirklichung müssen klar definiert und an die Partner kommuniziert werden. Tritt Europa nicht kohärent auf, wird es China wie den Vereinigten Staaten gelingen, die EU in ihre – auf dem internationalen Parkett nicht konkurrenzfähigen – Einzelteile zu zerlegen. Die EU-Mitgliedsstaaten müssen endlich erkennen: Alleine sind wir schwach, zusammen stark.
Gemeinsame Positionen müssen wir mit China auch im Hinblick auf globale Herausforderungen wie den Klimawandel und die Regulierung globaler Finanzmärkte finden. Zudem sollten wir die verschiedenen sektorialen Elemente des außenpolitischen Handelns besser in Einklang bringen: die Handels-, Entwicklungs-, Sicherheits- und Menschenrechtspolitik. Noch versuchen die Europäer häufig, auf die chinesische Herausforderung auf dem Gebiet Wirtschaft und Handel zu reagieren, indem sie einen Rivalen mit protektionistischen Mitteln bekämpfen. Das ist kontraproduktiv.
Die sozialdemokratische Außenpolitik steht in der Tradition von Willy Brandts Ostpolitik: „Wandel durch Annäherung“ sollte unser strategisches Denken auch gegenüber China bestimmen. Bei Konflikten zwischen Supermächten steht niemand auf der Gewinnerseite, und die völlig inakzeptable Menschenrechtssituation wird sich durch eine Neuauflage des Kalten Krieges nicht verändern lassen. Die Verhaftung des berühmtesten Künstler des Landes Ai Wei Wei ist ein bestürzendes Zeichen für die Willkürherrschaft der Kommunistischen Partei (KP). Seit Februar wurden mehr als hundert Aktivisten und Dissidenten bei der wohl schlimmsten Razzia der vergangenen zehn Jahre festgenommen. An diesem Punkt muss Europa hart bleiben und in einem Dialog auf Augenhöhe unbeirrt für seine Werte eintreten. Diese Entwicklung zeigt aber auch, wie nervös die chinesische Führung auf die Aufbruchstimmung in den arabischen Ländern reagiert und wie diffizil sich die Machtübertragung und der Generationenwechsel an der Spitze der KP vollziehen werden.
Derzeit ist Peking bemüht, sich in seine neue Rolle als Weltmacht einzufinden, während sich die Welt noch an die Supermacht China gewöhnen muss. Trotz fundamentaler Meinungsunterschiede sind Europa und China gut beraten, gemeinsame Interessen zu identifizieren und – auf diesen aufbauend – eine gemeinsame Strategie für eine multipolare Welt zu verfolgen. «