Wenn der Nichtwähler zweimal klingelt
So viel Offenheit und Bewegung war noch nie vor einem Bundestagswahljahr, vielleicht 1968 oder 1989, bevor Helmut Kohl unverhofft zum Kanzler der Einheit wurde. Die beiden bisher großen Volksparteien zeigen Erosionserscheinungen und sind verzweifelt dabei, sich inhaltlich und personell zu sortieren.
Mit der Strategie der asymmetrischen Demobilisierung hatte Angela Merkel ihrem sozialdemokratischen Hauptkonkurrenten die Themen genommen und den Bürgern das Gefühl von Sicherheit und Stabilität vermittelt. Das war demokratiepolitisch höchst fragwürdig – im kurzfristigen Interesse der Union schlau. Aber jetzt ist es vorbei. In der Flüchtlingskrise wurde Merkel selbst zur Projektionsfläche von Konfrontation und Aggression. Konservativen und der politischen Rechten in Deutschland gilt sie mittlerweile als Hauptfeind.
Anlässlich ihrer Pressekonferenz ein Jahr nach der Grenzöffnung für die Flüchtlinge in Ungarn verzichtete die Bundeskanzlerin weitgehend darauf, die Erfolge und Ziele ihrer Politik zu vermitteln. Erneut lautete ihre Hauptbotschaft: „Wir schaffen das.“ In die heiße Phase der beiden Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin hinein verschärfte dies nochmals die Stimmung gegen Merkel. Die desaströsen Wahlergebnisse der CDU bei den beiden Landtagswahlen – 19 Prozent an der Küste, 17,6 Prozent in der Hauptstadt – verantwortet sie deshalb persönlich mit. Mit fehlendem Charisma und einem offensichtlich opportunistischem Rechtsschwenk zogen die christdemokratischen Spitzenkandidaten Lorenz Caffier und Frank Henkel ihre Landesparteien noch weiter nach unten.
Der – in beiden Ländern: relative – Wahlsieger SPD trat mit unterschiedlichen Strategien an. In Mecklenburg-Vorpommern ging Erwin Sellering deutlich auf Distanz zu Merkels Flüchtlingspolitik, während Michael Müller in Berlin auf Weltoffenheit und Toleranz setzte. Beide konnten sich als Regierungschefs behaupten, eine Frage von persönlicher Stärke und Glaubwürdigkeit, wenn auch auf niedrigerem Niveau als bisher, und der eine besser als der andere. Die Leistung ihrer bisherigen Landesregierung wurde von den Wählern in Mecklenburg-Vorpommern ungleich positiver beurteilt als die Arbeit des rot-schwarzen Senats von den Berlinerinnen und Berlinern. Gerade die Qualität des Berliner Verwaltungshandelns von den Bürgerämtern über die Schulen bis hin zum Verkehr schätzen die Bürger außerordentlich gering ein. Hier wird dem neuen Berliner Senat in den kommenden fünf Jahren eine grundsätzliche Trendwende gelingen müssen.
Die Grünen suchen in den ostdeutschen Flächenländern weiter nach Verankerung. Die Ergebnisse der Linkspartei wiederum fallen unterschiedlich aus: Musste sie in Mecklenburg-Vorpommern als Protestpartei Federn lassen (minus 5,2 Prozentpunkte), so machte sie in Berlin ihre Verluste von vor fünf Jahren mehr als wett (plus 3,9 Prozentpunkte). Hier konnte offenkundig eine orientierende längerfristige Wählerbindung erarbeitet werden. Zudem scheint die Linkspartei in Berlin neue Attraktivität in jüngeren akademischen Milieus zu gewinnen.
Was der AfD in die Karten spielt
Die AfD nährt sich von allen Parteien, vor allem aber von den Nichtwählern. Der Schwund an Vertrauen in die großen Parteien, erkennbar vor allem anhand der beständig steigenden Zahl von Nichtwählern, ist in seinem Ausmaß und seinen demokratiepolitischen Wirkungen jahrzehntelang unterschätzt worden. Ein Ergebnis von 30 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent bedeutet eine Zustimmung von 15 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung – nicht einmal jeder sechste Bürger unterstützt dann die betreffende Partei.
Nicht (mehr) wählen zu gehen, ist in vielen europäischen Gesellschaften Ausdruck von Distanz zum politischen System sowie von Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit, mittels der eigenen Stimmabgabe für „etablierte“ Parteien einen relevanten Einfluss ausüben zu können. Populistische Protestbewegungen feiern immer dann Erfolge, wenn es ihnen gelingt, entfremdete Nichtwähler zum Protest an der Wahlurne zu animieren. In der Bundesrepublik sind Nichtwähler im Osten und in den unteren sozialen Schichten deutlich überrepräsentiert. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass gegenwärtig die AfD vor allem in Ostdeutschland und bei den Arbeitern und Arbeitslosen punktet. In den siebziger Jahren haben wir im östlichen Ruhrgebiet noch in den Obdachlosenquartieren für die SPD geworben – heute wäre dies ein wenig aussichtsreiches Unterfangen.
In Deutschland schätzt heute die überwiegende Mehrheit der Menschen zwar die eigene materielle Lage positiv ein. Hingegen ist bei vielen das Sicherheitsgefühl aufgrund der Flüchtlingszahlen und angesichts von Terrorakten massiv gestört. Hinzu kommen diffuse Zukunftsängste infolge von Globalisierung und Digitalisierung. Von allen diesen Faktoren profitiert die AfD. Gerade um die Flüchtlings- und Einwanderungspolitik rankt sich ein politischer und kultureller Großkonflikt, der überall in Europa der populistischen, nationalistischen und zum Teil auch nativistischen Rechten in die Hände spielt – und der in Deutschland die Unionsparteien zu zerreißen droht.
Gebraucht werden konkrete Integrationserfolge
Um diesen Konflikt zu entschärfen, bedarf es realer und vorzeigbarer Integrationserfolge auf den Feldern Bildung, Wohnen und Arbeit. Weitaus stärker noch als ethnisch homogenere Gesellschaften benötigt eine Einwanderungsgesellschaft ein umfassendes System vorsorgender, in die Fähigkeiten der Menschen investierender Gesellschaftspolitik. Angela Merkel begründet ihre Flüchtlingspolitik mit humanitären Motiven, unterschätzt und vernachlässigt zugleich aber – wie viele Christdemokraten – systematisch die gewaltigen gesellschaftlichen Integrations- und Gestaltungsaufgaben.
Integration kann nur gelingen, wenn die Zahl der illegalen und geduldeten Flüchtlinge drastisch reduziert wird und bei der Entscheidung über die Aufenthaltstitel Kriterien wie Integrationswille, Abschiebemöglichkeit, Bekenntnis zu den Grundwerten der Bundesrepublik, Geschlechterausgewogenheit und auch Nutzen für die Bundesrepublik berücksichtigt werden. Die Bürger müssen wieder das Vertrauen fassen können, dass Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft in gemeinsamer Anstrengung eine gelingende Integration organisieren und damit zugleich Deutschlands Zukunftschancen verbessern können.
Gelingt es den Volksparteien nicht, diesen Großkonflikt zu entschärfen, werden sie auch nicht in der Lage sein, unterschiedliche Schichten und Milieus der Gesellschaft unter Berufung auf bestimmte Werte sowie kurz- und langfristige Ziele wieder an sich zu binden. Das Modernisierungsprojekt der sozialen Demokratie muss unter diesen Umständen vor allem Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Bildungsgerechtigkeit beantworten, es muss die Schrittfolge zu einer sicheren und sozialen Einwanderungsgesellschaft glaubhaft beschreiben.
Kurzum, die Menschen erwarten eine kluge Erzählung, die davon handelt, wie sich soziale Demokraten Deutschland und Europa in zehn Jahren vorstellen, wie vor allem Deutschland seine beste Zeit gerade auch mit Hilfe einer gelingenden Einwanderungspolitik noch vor sich haben kann.