Wer kennt schon Frau Fischer Boel?
Politik und Wirtschaft haben sich parallel zur europäischen Integration weitgehend europäisiert. Diesen Prozess haben die Medien nicht vollzogen. Besonderes die massenrelevanten Regionalmedien haben ihre stark nationale Perspektive beibehalten. Trotz positiver Tendenzen bei den Qualitätsmedien ist die Europäische Union in den Massenmedien insgesamt noch immer unterbelichtet; die öffentliche Wahrnehmung ihrer Politik bleibt verzerrt. Verantwortlich für die Diskrepanz zwischen politischer Realität und öffentlichem Bewusstsein sind nicht zuletzt die mangelhafte Kommunikationspolitik der EU sowie deren institutionelle Strukturen.
Wie zukunftsfähig die EU ist, hängt nicht zuletzt von ihrer öffentlichen Wahrnehmung ab. Soll die EU als politisches Projekt erfolgreich sein, muss sie in der Öffentlichkeit sichtbarer werden. Nur wenn ihre Bedeutung und ihre Potenziale ausreichend zur Sprache kommen, kann sie die Legitimation für ihre wichtigen Aufgaben etwa in den Bereichen Terrorismusbekämpfung oder Klimaschutz bekommen. Hiervon ist die EU aber weiter entfernt denn je. Die gescheiterten Referenden zur Europäischen Verfassung haben gezeigt, wie tief die Kluft zwischen der EU und ihren Bürgern geworden ist.
Im November 2005 wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Adequate Information Management in Europe die bislang größte Studie zur EU-Berichterstattung veröffentlicht. Ihr zufolge müssen die verantwortlichen Redakteure überall in Europa darum kämpfen, Europathemen unterzubringen – unter anderem deshalb, weil Kollegen und Vorgesetzte das Thema uninteressant finden. Viele deutsche Redakteure fühlen sich unsicher im Umgang mit EU-Themen, was sie auf die hohe Komplexität und Abstraktheit der Themen sowie die bürokratische EU-Sprache zurückführen.
Wenn über die EU berichtet wird, dann vor allem in überregionalen Zeitungen. In keinem Land haben regionale Zeitungen, die Boulevardpresse oder das Fernsehen eine Vorreiterrolle in der EU-Berichterstattung übernommen. Was lässt sich aus diesem Befund ableiten? Überforderung und Unwissen, Recherchemangel und fehlende Akzeptanz – diese Defizite des EU-Journalismus gelten nach wie vor. Auch deshalb wird die EU überwiegend negativ dargestellt, wie Analysen des Fachdienstes Medientenor zeigen.
Warum Bild kein Büro in Brüssel hat
Ein weiteres Defizit sind fehlende Investitionen: RTL und Sat 1 haben ihre Büros in Brüssel geschlossen. Auch Bild hat keinen Mann in der EU-Hauptstadt. Die massenrelevanten Regionalzeitungen teilen sich zumeist einen Korrespondenten, der dann als Pool-Korrespondent für mehrere Millionen Leser in unterschiedlichsten Regionen schreibt. Eine gezielte europäisierte Regionalberichterstattung ist daher unmöglich. Und das ist fatal. Nicht nur, dass die EU in den lokalen Bereich besonders stark hineinwirkt und gerade dort politische Identifikation stattfindet. Die Leser der Regionalzeitungen bilden auch die Masse der medialen Öffentlichkeit.
Medien haben den Auftrag, alle relevanten Themen einer Gesellschaft abzubilden. Eine EU-Regionalberichterstattung wäre Teil dieses Auftrags. Deshalb ist eine besser auf die Europäische Union abgestimmte journalistische Ausbildung dringend geboten.
In Brüssel gibt es kaum Politiker, die einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Auch deshalb stellen Medien bei EU-Themen überwiegend nationale Politiker in den Vordergrund. Wer kennt schon Frau Fischer Boel? Eben! Nur verwaltet die Agrarkommissarin fast die Hälfte des EU-Haushaltes. Die Kommissare sind deshalb wenig bekannt, weil sie nicht vor Wahlen für ihre Politik werben müssen, sondern von den Regierungen ernannt werden. Die geplante EU-Verfassung sieht hier Verbesserungen vor, wie etwa die Wahl des Kommissionspräsidenten und der Kommissare durch das Parlament. Dieses Verfahren wurde bereits für die Einsetzung der Barroso-Kommission angewandt – und löste eine lebhafte Debatte aus. Auch mit der Einführung von Präsidenten- und Außenministeramt bekäme die EU zwei wichtige prominente Gesichter hinzu.
Die Verfassung enthält weitere Elemente, die in jedem Fall verwirklicht werden müssen. Das europaweite Bürgerbegehren und die einklagbare Grundrechtecharta würden die EU ein großes Stück näher an die Menschen heranrücken. Wichtig für die Demokratisierung der EU sind auch die vorgesehene Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in der Gesetzgebung und die Stärkung des Parlaments, das nach den Reformen gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat wäre.
Kuhhandel statt offener Wettbewerb
Die Europäisierung der Öffentlichkeit wird zudem dadurch verhindert, dass Journalisten in Brüssel medial attraktive Konflikte schlecht sichtbar machen können, weil Kommission und Rat hinter verschlossenen Türen tagen, wobei der Rat Ende 2005 beschloss, einige Sitzungen öffentlich abzuhalten. Bislang geht der Erfolg der Brüsseler Verhandlungen auf diese Abgeschiedenheit zurück: Konflikte zwischen den Ministern werden durch fehlende Öffentlichkeit auf ein Mindestmaß reduziert; große Effizienz ist die Folge. Könnten Journalisten den Verhandlungsdelegationen jedoch in die Karten schauen, nähme der Rechtfertigungsdruck zu und mit ihm die Konfliktbereitschaft der EU-Minister. Aus dem stillen Kuhhandel würde plötzlich ein öffentlicher Meinungswettbewerb.
Gefährdet die Öffnung der EU also ihre Funktionsfähigkeit? Gegenfrage: Gibt es angesichts der Krise überhaupt eine Alternative zur Demokratisierung der EU? Wenn die Gemeinschaft zukunftsfähig bleiben will, muss sie sich verändern – und die Konsequenzen aushalten. Mit dem Plan D für Demokratie, Dialog und Kommunikation und dem Weißbuch zur Kommunikationspolitik hat Öffentlichkeitskommissarin Margot Wallström wichtige Reformen angestoßen. Mit verstärkten Umfragen will sie ein klareres Bild von der öffentlichen Meinung zur EU gewinnen. In einem Verhaltenskodex soll das Recht der Bürger auf Information verankert werden. Auch der geplante Aufbau europäischer Bürgerkonvente könnte Grundlage für eine stärkere europäische Debatte sein. Um die EU-Kommunikation zu regionalisieren, will Margot Wallström die nationalen Vertretungen der Kommission deutlich aufwerten. Zudem soll der Dialog mit den nationalen Parlamenten ausgebaut werden. EU-Kommissare müssen öfter in die EU-Staaten reisen und dort ihre Politik erläutern. Darüber hinaus sollen Persönlichkeiten aus Sport, Kultur und Wirtschaft als „Botschafter des guten Willens“ die nationalen EU-Debatten beleben, die durch Workshops und Runde Tische zusätzlich gestärkt werden sollen.
Die angestrebten Veränderungen sind begrüßenswert. Dennoch sollte sich die Kommission weitere Reformen vornehmen, wie sie etwa der Fachdienst EurActiv vorgeschlagen hat: Die Kommission sollte die EU-Kommunikation der Mitgliedsstaaten jährlich bewerten, um so öffentlichen Druck aufzubauen.
Beamtensprache im Infodschungel
Auch die EU selbst muss weitere Schritte gehen: Bei allen Gesetzesvorschlägen sollten die EU-Beamten die Kommunikationsdimension mitdenken. Dem stehen allerdings die zersplitterte Pressearbeit der Kommission, die chronische Unterfinanzierung der Pressedienste und das fehlenden Fachpersonal entgegen. Deshalb wird EU-Politik wohl auch künftig in einer unverständlichen Beamtensprache vermittelt werden. Will die EU bürgernah kommunizieren, muss sie zudem ihre Internetseite reformieren. Viele Bürger steigen schnell ganz aus, wenn sie sich im Infodschungel verirrt haben.
Vorschläge für ein transparenteres und bürgernahes Europa liegen also auf dem Tisch. Sie müssen schnell verwirklicht werden, denn einzig eine öffentlich sichtbare und bürgernahe Europäische Union wird die Kraft zu weiteren Integrationsschritten haben, die zur Lösung überstaatlicher Probleme erforderlich sind. Anderenfalls bleibt die Union schwach und driftet auseinander. Das offene und öffentliche Europa der Bürger ist die entscheidende Erfolgsdeterminante für das gesamte politische Projekt Europa.