Werte und Wetter statt Wirtschaft und Wohlstand
Konservative Parteien wissen um die Bedeutung von Werten. Weil ihr Wirtschaftsprogramm darauf hinausläuft, die Reichen reicher zu machen, begreifen sie intuitiv, daß sie vermeiden müssen, über Geld zu reden. Stattdessen konzentrieren sie sich auf
gesellschaftliche Werte. Die sozialdemokratischen Parteien aber, stolz auf ihren zentralen Programmpunkt, Reichtum gleichmäßiger zu verteilen, greifen Wertentscheidungen nur sehr zögerlich auf. Stattdessen hängen sie weiter an ihrer in Ehren ergrauten Forderung nach einer gerechteren Umverteilung des nationalen Reichtums.
Aber selbst der unwissendste Wähler versteht inzwischen, daß die makro-ökonomischen Entscheidungen von internationalen Institutionen und Zentralbanken mehr zur Verteilung des ökonomischen Reichtums beitragen als die Handlungen der im nationalen Rahmen eingezwängten Politiker. Die meisten Wähler begreifen, daß die Frauen und Männer in Brüssel mehr mit ihrer lokalen ökonomischen Situation zu tun haben als die in London, Paris, Madrid, Berlin oder Rom. Während ökonomische Fragen ein zentrales Thema für Wahlentscheidungen bleiben, wird immer deutlicher erkennbar, dass nationale und lokale Politiker bei der Steuerung der Ökonomie weitgehend hilflos agieren.
In vielen Ländern, allen voran in Deutschland, haben Sozialdemokraten die Macht in einer Situation errungen, in der sie sich zu tiefen Einschnitten und einem Sparkurs gezwungen sahen, die selbst die Rechte hätten erröten lassen. Aber man fragt sich, welche ökonomische Ideologie dahinter steht. Bislang zumindest begnügen sie sich mit dem Verweis auf ökonomische Sachzwänge der internationalen Märkte und andere wirtschaftliche Einflußgrößen.
Statt sich auf das zu konzentrieren, was ohnehin kaum zu beeinflussen ist, sollten Sozialdemokraten heute über Fragen sprechen, die sie selbst prägen können. Sie müssen mit den Parteien der Rechten um Werte konkurrieren, die historisch gesehen in deren Einflußbereich liegen. Vor allem mit Themen wie Erziehung, Gesundheitsfürsorge, Kriminalität, Sicherheit und Umwelt müssen sozialdemokratische Parteien Wechselwähler gewinnen.
Es sind die erstaunlichen Erfolge der Kampagnen von Clinton und Blair in den USA und Großbritannien, welche die fundamentale Bedeutung von Wertfragen für die Linke belegen. Die Qualität von Schulen, lange Wartezeiten in Kliniken, Gesundheitsfürsorge für die Armen, die Stärkung der Polizei, die Kontrolle von Schußwaffen, Reformen des Sozialstaats und der Umweltschutz waren die Standardthemen der Kandidaten dieser neuen Linken. Das beschäftigte sie weit mehr als die herkömmlichen Debatten über Löhne, Mehrwert, Profite und Firmenentscheidungen.
Weil die informationsgestützte Wirtschaft die Schwerindustrie als wichtigste Quelle von Arbeit in Westeuropa lange abgelöst hat, schrumpft der Markt für Brot-und-Butter-Kampagnen zusehends. Heute sorgen die in den USA als "football moms" bezeichneten, überwiegend in den Vorstädten lebenden jungen Mütter zwischen zwanzig und vierzig Jahren für den entscheidenden Ausschlag des Pendels bei Wahlentscheidungen.
George W. Bush hat die Präsidentschaftswahlen in den USA gewonnen, indem er an diese Wählergruppen mit Themen appellierte, die Mitgefühl signalisierten, wie etwa Erziehungsfragen oder die Alten- und Krankenfürsorge. Obwohl auch die zwanghafte rechte Forderung nach Steuererleichterungen zweifellos eine Rolle bei Bushs Sieg gespielt haben wird, war es seine Fähigkeit, traditionell den Demokraten zugeordnete Werte zu besetzen, die ihm den Sieg einbrachte.
Die Parteien der demokratischen Linken dürfen jedoch Werte und Programme nicht verwechseln. Und sie dürfen nicht vergessen, daß Semantik beim Umgang mit Wertfragen ebenso wichtig ist wie programmatische Entwürfe. Es reicht nicht aus, nach Stipendien für die Armen zu rufen, um ihnen ein Studium zu ermöglichen: Man muß davon sprechen, Chancen für alle zu eröffnen. Engpässe in der Altenpflege zu beseitigen, ist nicht die Antwort: Den eigenen Vater oder die Mutter zu ehren, ist dagegen eine. Indem sie eine an Werten orientierte Sprache benutzt, kann die Linke mit ihren eigenen sozialen Prinzipien erfolgreich gegen die relativ puritanischen Werte der Konservativen bestehen.
Doch der zentrale Wertekonflikt dreht sich für die Linke heute um die Umwelt. Das Schicksal Al Gores sollte allen Sozialdemokraten dabei eine Warnung sein. Amerikas herausragender Umweltschützer beging den verhängnisvollen Fehler, seine ökologischen Prinzipien während seiner Kampagne zu verstecken. So verlor er auf der Linken entscheidende Stimmen an Ralph Nader, den Kandidaten der Grünen Partei, die ihn schließlich die Wahl kosteten.
Wenn die Wissenschaft Recht hat und die Erderwärmung massive klimatische Veränderungen hervorrufen wird, werden wir der Bewahrung des Planeten denselben Vorrang einräumen müssen wie den nuklearen Problemen im letzten Jahrhundert. Umfragen zeigen, daß über sechzig Prozent der amerikanischen Wähler daran glauben, daß ein Klimawandel stattfindet, und daß die Erderwärmung bereits jetzt ungewöhnliche Wetterbedingungen auslöse. Mit dem Hinweis auf die zunehmende Heftigkeit und Zahl von mörderischen Stürmen, Hitzewellen, Überschwemmungen und anderen Klimakatastrophen könnte die Linke dort Stimmen gewinnen, wo sie mit ökonomischen Argumenten scheitert.
Während die Rechte bei Wertekonflikten um Verbrechensbekämpfung, Erziehung oder selbst der Gesundheitsfürsorge durchaus konkurrenzfähig ist, taucht sie bei bei Umweltfragen ab. Weil sie sich in eine rigide Verweigerungshaltung verrannt haben, sind die konservativen Parteien schlicht nicht bereit für ein globales Bewußtsein einer weltweit drohenden Umweltkatastrophe.
Die sozialdemokratischen Parteien Europas müssen ihre roten Fahnen einrollen und Marx ins Regal zurückstellen. Nicht, daß er sich geirrt hätte: Aber die Wirtschaft ist nicht länger der Mittelpunkt der Politik. Klagen über das Wetter bilden im 21. Jahrhundert eine bessere, eine sehr viel bessere Grundmelodie für politische Kampagnen als das Anprangern ökonomischer Ungleichheit. Wenigstens das Wetter können wir ändern!